Siri Hustvedt : Der Sommer ohne Männer
Inhaltsangabe
Kritik
Der über sechzig Jahre alte Neurobiologe Boris Izcovich und seine fünf Jahre jüngere Ehefrau Mia Fredricksen, die an der Columbia University Komparistik lehrt, wohnen in Brooklyn. Nach dreißig Jahren Ehe schlägt er ihr 2009 vor, eine „Pause“ zu machen.
Die Pause war eine Französin mit schlaffem, aber glänzendem braunem Haar. Sie hatte einen signifikanten Busen, der echt, nicht künstlich war, eine schmale Rechteckbrille und einen exzellenten Verstand. Natürlich war sie jung, zwanzig Jahre jünger als ich, und ich vermute, dass Boris schon länger scharf auf seine Kollegin gewesen war, ehe er sich auf ihre signifikanten Bereiche stürzte.
Mia bricht zusammen und wird in die psychiatrische Abteilung einer Klinik gebracht.
Dr. P. diagnostizierte dann eine akute vorübergehende psychotische Störung, auch bekannt als Durchgangssyndrom, was bedeutet, dass man wirklich verrückt ist, aber nicht lange.
Ihre Schwester Beatrice („Bea“) eilt nach New York, um sie zu besuchen.
Geistesgestörtheit ist ein Zustand tiefer Selbstversunkenheit. Es erfordert allergrößte Anstrengung, den Überblick über das eigene Selbst zu behalten, und der Umschwung hin zur Genesung geschieht in dem Augenblick, wenn ein bisschen von der Welt wieder eingelassen wird, wenn ein Mensch oder ein Ding die Pforte passiert.
Nach eineinhalb Wochen kann Mia das Krankenhaus verlassen. Die fünfundfünfzig Jahre alte Dozentin lässt sich für den Rest des Semesters freistellen und fährt nach Bonden, Minnesota, um dort einen „Sommer ohne Männer“ zu verbringen. Sie mietet ein kleines Haus am Stadtrand in der Nähe des Seniorenheims „Rolling Meadows“, in dem ihre neunzigjährige Mutter Laura seit sechs Jahren lebt, seit dem Tod ihres Mannes, des Rechtsanwalts Harold Fredericksen.
Im Kulturforum von Bonden nutzt man die Anwesenheit der Dichterin, die bisher sechs Gedichtbände veröffentlichte („Verlorener Stil“, „Kleine Wahrheiten“, „Hyperbel im Himmel“, „Die Obsidianfrau“, „Verflixt“, „Blinzeln, Blinken und Blicken“) und überredet sie, einen Poesie-Workshop für Jugendliche durchzuführen. Aber es melden sich nur sieben pubertierende Mädchen an: Peyton Berg, Jessica Lorquat, Ashley Larsen, Emma Hartley, Nikki Borud, Joan Kavacek und Alice Wright.
In der Psychiatrie schrieb Mia in ein Notizbuch, dem sie den Titel „Hirnscherben“ gegeben hatte. Jetzt nimmt sie sich vor, zur Selbstbefreiung eine Art Sex-Tagebuch zu führen.
Ich beschloss, mein Fleischesglück und -unglück in einem unberührten Heft zu katalogisieren, die Seiten mit meiner eigenen pornografischen Geschichte zu besudeln und mein Bestes zu tun, sie ehemannfrei zu halten.
Sie beginnt mit einem Erlebnis, das sie im Alter von sechs oder sieben Jahre hatte. Während eines Besuches bei einer Tante und einem Onkel in Tidyville nahm ein paar Jahre älterer Cousin sie auf den Schoß und rieb sie zwischen den Beinen.
Ein seltsames warmes Gefühl stellte sich ein, eine Kombination aus gedämpfter Erregung und einem Empfinden des Nicht-ganz-Richtigen.
Mia rutschte von Rufus‘ Schoß, und es passierte nichts weiter. Deshalb ist die Erinnerung auch nicht traumatisch belastet. Bei einem anderen Erlebnis war sie bereits verheiratet. Sie ließ sich von einem Mann namens Archibald Bedgood massieren und lag dabei nur mit einem Handtuch bedeckt abwechselnd auf Bauch und Rücken. Obwohl sie während der Massage keine sexuelle Erregung verspürte, kam sie anschließend mit Boris viermal hintereinander zum Orgasmus. 1559 hatte der italienische Anatom Renaldus Columbus erstmals die Klitoris beschrieben, aber Mia benötigte keine Bücher, um das Lustorgan zu entdecken. Sie notiert den Inhalt vieler Träume, aus denen sie im „vollen, zügellosen Orgasmus“ erwachte.
Auch an ihren Schwager Stefan denkt Mia. Eine Woche bevor Boris seinen fünf Jahre jüngeren, siebenundvierzig Jahre alten Bruder erhängt auffand [Suizid], hatte dieser Mia eine Liebeserklärung gemacht und sie geküsst.
Laura Fredricksen erzählt Mia von ihrer Kindheit in Boston. Sie war sechs, als ihr doppelt so alter Bruder Harry an Kinderlähmung starb.
Bei ihren Besuchen in „Rolling Meadows“ lernt Mia auch die vier Freundinnen ihrer Mutter kennen: Georgina („George“) ist mit 102 Jahren die älteste von ihnen, die vierundachtzigjährige Peg die jüngste. Die dreifache Witwe Regina ist achtundachtzig, und die von Osteoporose gebeugte Abigail sechs Jahre älter. Abigail, die als Kunstlehrerin an einer Grundschule tätig gewesen war, zeigt Mia eigene Handarbeiten, darunter einen Tischläufer, auf dessen Unterseite fünf Mädchen abgebildet sind, die sich selbst befriedigen. Auf einem Foto, das 1938 in New York aufgenommen wurde, ist Abigail mit einer anderen jungen Frau zu sehen, in die sie, so vertraut sie Mia an, verliebt war.
Aus dem linken Nachbarhaus hört Mia des Öfteren lauten Streit. Pete arbeitet für eine Firma in Minneapolis und ist viel unterwegs, aber wenn er zu Hause ist, gerät er fast jedes Mal über irgendetwas in Wut. Seine Frau Lola ist sechsundzwanzig, zwei Jahre älter als Mias Tochter Daisy. Trotz des Altersunterschiedes freunden sich Mia und Lola an. Weil Pete nur selten da ist, kümmert Lola sich allein um die dreijährige Tochter Flora und den Säugling Simon. Nebenbei verkauft sie selbst gemachten Schmuck. (Sie hatte am Swedenborg College Kunst studiert.)
Georgine liegt eines Morgens tot auf dem Fußboden im Bad.
Daisy schreibt, ihrem Vater gehe es offenbar nicht gut und er sehe verwahrlost aus.
Einige Zeit später teilt Boris seiner Frau mit, er müsse zu seiner Geliebten ziehen, weil Roger Dapp, der der ihm seine Wohnung in Brooklyn zur Verfügung gestellt hat, demnächst aus London zurückkommen werde.
Die dreizehnjährige Alice Wright bleibt dem Workshop plötzlich fern. Mia geht zum Elternhaus des Mädchens. Ellen Wright sagt, ihre Tochter habe sich wegen Magenschmerzen im Krankenhaus untersuchen lassen, sei aber nach einem Tag wieder entlassen worden, weil die Ärzte nichts fanden. Alice liegt im Bett. Mia setzt sich zu ihr. Erst nach langem Zureden fängt die Jugendliche zu reden an. Sie kam erst vor zwei Jahren mit ihrer Familie aus Chicago nach Bonden. Die anderen Mädchen grenzten sie von Anfang an aus, schickten ihr gemeine SMS. Im Internet tauchte ein Nacktfoto von ihr auf, das augenscheinlich durch einen Spalt im Rollladen des Badezimmerfensters geknipst worden war. Als unmittelbar vor dem Beginn einer Stunde in Mias Lyrikkurs ihre Menarche einsetzte, behalf sie sich mit Küchentüchern. Eines davon fiel zu Boden und wurde von den anderen auf den Tisch der Dozentin gelegt. Zuletzt spielten ihr Peyton, Jessica, Ashley, Emma, Nikki und Joan eine Nachricht zu, die angeblich von einem der am meisten begehrten Jungen im Ort stammte. Alice fiel darauf herein, folgte der vermeintlichen Einladung zu einem Treffen mit Zak – und wurde von den anderen Mädchen ausgelacht.
Nachdem Alice geredet hat, ruft Ellen Wright die Mütter der anderen Mädchen an, unterrichtet sie über das Mobbing und organisiert ein Treffen von ihnen allen und ihren Töchtern. Dabei stellt sich heraus, dass Peyton, Jessica, Ashley, Emma, Nikki und Joan einen mit Blut besiegelten Geheimbund geschlossen hatten. Sie versprechen, Alice von jetzt an in Ruhe zu lassen.
Zum Abschluss des Workshops schlägt Mia vor, dass jede von ihnen aufschreibt, was mit Alice geschah, aber jeweils aus der subjektiven Sicht einer anderen Person. Aus den acht verschiedenen Perspektiven wird sich am Ende eine neue Geschichte ergeben.
Der andere zu sein bringt die Fantasie zum Tanzen.
Bei der Übung stellt sich heraus, dass nicht Alice unter Gemütsstörungen leidet und Medikamente dagegen einnimmt, wie Ashley den anderen Mädchen einredete, sondern – Ashley.
Die Situation von Mias Nachbarin Lola verbessert sich schlagartig, als ihre Patentante stirbt, ihr 100 000 Dollar vererbt und fast zur gleichen Zeit ein Geschäft in Minnepolis den von ihr angefertigten Schmuck ins Angebot aufnimmt. Die dadurch gewonnene Unabhängigkeit von Pete stärkt Lolas Selbstvertrauen.
Regina wird vergesslich. Einmal will sie fort aus „Rolling Meadows“ und kann von ihren Freundinnen nur mühsam zurückgehalten werden. Man bringt sie in ein Krankenhaus in Minneapolis, und als sie von dort zurückkommt, wird sie vom betreuten Wohnbereich in die Pflegeabteilung für Alzheimer-Kranke verlegt. Bald darauf holt Letty, eine ihrer Töchter, sie zu sich nach Cincinnati, Ohio.
Abigail erleidet einen Schlaganfall und stirbt zwei Tage später.
Boris schreibt, er habe die Affäre beendet und bereue sein Verhalten. Mia reagiert auf seine Briefe unverbindlich, aber im August – kurz vor dem Ende ihres Sommers in Bonden – steht er plötzlich vor ihrer Türe. Daisy, die bei ihrer Mutter zu Besuch ist, holt ihn herein.
Nachdem die kluge, gebildete und sensible Ich-Erzählerin Mia Fredricksen nach dreißig Ehejahren von ihrem Mann verlassen wurde, verbringt sie einen „Sommer ohne Männer“ in der amerikanischen Kleinstadt, in der ihre Mutter lebt. Die Begegnung mit Lauras greisen Freundinnen, die Tod und Krankheit vor Augen haben, mit sieben pubertierenden Mädchen in einem Poesie-Workshop und mit einer jungen Nachbarin mit zwei kleinen Kindern regen Mia zu Reflexionen über ihr eigenes Leben an. Dabei gerät sie nicht ins Grübeln, sondern entwickelt von Neuem Freude am Dasein. Ob sie sich am Ende mit Boris versöhnt oder nicht, bleibt offen.
Das klingt zunächst nach einem melancholischen, tristen Frauenroman. „Der Sommer ohne Männer“ ist jedoch gerade nicht traurig oder larmoyant, sondern leicht und heiter. Dafür sorgt Siri Hustvedt mit viel Esprit und Selbstironie.
Bis auf den Rahmen erzählt Siri Hustvedt keine geschlossene Geschichte, sondern reiht in zumeist sehr kurzen, manchmal nur wenige Zeilen langen Kapiteln Episoden und Fragmente aneinander. Dabei wird im Grunde nur die Ich-Erzählerin eingehend charakterisiert; die anderen Figuren bleiben vage bzw. auf wenige Eigenheiten beschränkt.
Siri Hustvedt spielt mit der Form des Romans und hält die Leser hin, indem sie an einigen Stellen direkt zu ihnen spricht:
Da köchelt etwas, o ja, da köchelt ein Hexeneintopf. Ich weiß es, weil ich es erlebt habe. Aber bevor ich darauf zu sprechen komme, möchte ich Ihnen, dem freundlichen Menschen da draußen, sagen, dass, wenn Sie jetzt hier bei mir auf dieser Seite sind, ich meine, wenn Sie bis zu diesem Absatz gekommen sind, wenn Sie nicht aufgegeben haben und mich, Mia, nicht im hohen Bogen durchs Zimmer geworfen haben, oder, selbst wenn, Sie sich dennoch fragen, ob nicht bald etwas passiert, und wenn Sie mich wieder aufheben und weiterlesen, dann möchte ich die Hände nach Ihnen ausstrecken und Ihr Gesicht in beide Hände nehmen und es mit Küssen bedecken, Küsse auf Ihre Wangen und Ihr Kinn und über Ihre ganze Stirn und einen auf den Rücken Ihrer (jeweils unterschiedlich geformten) Nase, weil ich die Ihre bin, ganz die Ihre.
Ich wollte nur, dass Sie das wissen.Mia, sagen Sie, komm zur Sache. Entspannen Sie sich, atmen Sie durch, und ich werde Ihnen meine rhetorische Wende bald servieren.
Den Roman „Der Sommer ohne Männer“ von Siri Hustvedt gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Eva Mattes (Regie: Georg Gess, Berlin 2011, 6 CDs, ISBN 978-3-8398-1094-1).
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011
Textauszüge: © Rowohlt Verlag
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