Judith Hermann : Sommerhaus, später

Sommerhaus, später
Sommerhaus, später Originalausgabe: S. Fischer Verlag, Frankfurt/M 1998
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Neun Erzählungen:
Rote Korallen - Hurrikan - Sonja - Ende von Etwas - Bali-Frau - Hunter-Tompson-Musik - Sommerhaus, später - Camera Obscura - Diesseits der Oder.
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Kritik

Die junge Autorin Judith Hermann beschreibt in ihren Geschichten kurz und prägnant Begebenheiten des Alltags, die aber nie alltäglich sind. Es gibt immer eine unerwartete Wendung, und die Handlung spielt sich an sehr unterschiedlichen Schauplätzen ab.
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Stein fand das Haus im Winter. Er rief mich irgendwann in den ersten Dezembertagen an und sagte: „Hallo“, und schwieg. Ich schwieg auch. Er sagte: „Hier ist Stein“, ich sagte: „Ich weiß“, er sagte: „Wie geht’s denn“, ich sagte: „Warum rufst du an“, er sagte: „Ich hab’s gefunden“, ich fragte verständnislos: „Was hast du gefunden?“, und er antwortete gereizt: „Das Haus! Ich hab das Haus gefunden.“

So beginnt die Erzählung „Sommerhaus, später“.

Ob ein Mann oder eine Frau die Geschichte erzählt, bleibt offen. Jedenfalls scheint es sich um so etwas wie eine Aussteigerin oder einen Aussteiger zu handeln: erschöpft, mutlos, depressiv, hin und wieder Drogen.

Stein besaß ein Taxi, aber keine Wohnung.

Stein hatte nie eine eigene Wohnung besessen, er zog mit diesen Tüten durch die Stadt und schlief mal hier und mal da, und wenn er nichts fand, schlief er in seinem Taxi. Er war nicht das, was man sich unter einem Obdachlosen vorstellt. Er war sauber, gut angezogen, nie verwahrlost, er hatte Geld, weil er arbeitete, er hatte eben keine eigene Wohnung, vielleicht wollte er keine.

Vor einiger Zeit wohnte er drei Wochen lang bei der Erzählerin oder dem Erzähler. Jetzt hat er offenbar ein Haus gekauft, in Canitz außerhalb von Berlin, um 80 000 Mark, und er will es unbedingt herzeigen. Sie fahren hin. Die Schlüssel holt Stein bei einer Frau, an deren Küchenkittel sich ein „blasses, kümmerliches Kind“ klammert.

Er lenkte das Auto auf einen kleinen Querweg, bremste ab, nahm im selben Moment mit einer emphatischen Geste die Hände vom Lenkrad und sagte: „Das ist es.“
Ich sah aus dem Autofenster und dachte: „Das ist es noch fünf Minuten.“ Das Haus sah aus, als würde es jeden Moment lautlos und plötzlich in sich zusammenfallen. Ich stieg aus und schloss die Wagentür so vorsichtig, als könne jede Erschütterung eine zuviel sein …

In den folgenden Wochen sehen sich die beiden nur selten. Im Kofferraum des Taxis hat Stein Dachpappe, Tapeten und Wandfarbe. Im Frühjahr kommt eine Ansichtskarte von Canitz: „Das Dach ist dicht. Das Kind putzt sich die Nase, spricht nicht, ist immer da.“ Fast täglich kommen Karten. Im Mai folgt ein Umschlag mit einem Zeitungsartikel:

In der Nacht zu Freitag brannte in Canitz das ehemalige Gutshaus bis auf die Grundmauern ab. Der Besitzer, ein Berliner, der das im 18. Jahrhundert erbaute Haus vor einem halben Jahr gekauft und wieder instand gesetzt hatte, ist seitdem als vermisst gemeldet. Die Unglücksursache steht noch nicht fest, die Polizei schließt Brandstiftung bisher nicht aus.

Die Erzählerin bzw. der Erzähler legt den Brief mit dem Artikel zu den anderen Karten und denkt: „Später“.

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Die Erzählung „Sommerhaus, später“ vermittelt ein intensives Gefühl der Irritation, Depression, Beziehungs- und Hoffnungslosigkeit, das durch die karge, schnörkellose und doch auch poetische Sprache verstärkt wird.

Martin Gypkens verfilmte die Erzählung „Hurrikan“ aus dem Erzählband „Sommerhaus, später“ von Judith Hermann in „Nichts als Gespenster“.

Die junge Autorin Judith Hermann beschreibt in ihren Geschichten kurz und prägnant Begebenheiten des Alltags, die aber nie alltäglich sind. Es gibt immer eine unerwartete Wendung, und die Handlung spielt sich an sehr unterschiedlichen Schauplätzen ab: von exotisch („Hurrikan“) bis abgelegen („Diesseits der Oder“). Die teilweise nur ein paar Seiten langen Erzählungen vermitteln einfühlsam die Befindlichkeit der Personen und die Stimmungen am Ort. Über allen Geschichten liegt ein Hauch von Melancholie. In der Erzählung „Camera Obscura“ sagt die Protagonistin beispielsweise „Glück ist immer der Moment davor.“

Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Ihr erstes Buch (1998) hat sich schnell zum Bestseller entwickelt und viel Kritikerlob erhalten. Außerdem bekam sie den Hugo-Ball-Preis, den Bremer Literaturpreis und den Kleist-Preis der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2002
Textauszüge: © S. Fischer Verlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.