Guy Helminger : Morgen war schon
Inhaltsangabe
Kritik
Köln 2005. Nachdem der selbstständige Taxifahrer Feltzer Beer gerade sein letztes Geld bei Pferdewetten verlor – insgesamt sind es jetzt 12 000 Euro – gerät er vor der Rennbahn mit einem Mann und drei Frauen in Streit, die er nicht einsteigen lässt, weil er wegen der fünf Plüschgiraffen auf der Rücksitzbank nur jeweils eine Person zu fahren bereit ist. Kurz darauf setzt sich ein Mann zu ihm ins Taxi, der ihm erklärt, er sei gerade ausgeraubt worden. Der Fahrgast gibt die Adresse seiner außerhalb der Stadt wohnenden Schwester als Ziel an, möchte aber noch telefonieren, um sich zu vergewissern, dass sie zu Hause ist. Weil Feltzer sein Handy bei der Auseinandersetzung mit den vier Abgewiesenen zertrümmerte, fährt er kurz bei seiner Wohnung vorbei, um sich das Handy seiner Ehefrau Louise auszuleihen. Sie liegt mit einem Reiseführer über Neuseeland auf der Couch. Während Feltzer ins Schlafzimmer geht und das Handy holt, setzt der Fremde sich zu Louise und unterhält sich angeregt mit ihr. Er heißt Ben Bergrath, war bereits in Neuseeland und verspricht beim Abschied, sich wieder zu melden und Louise Fotos zu zeigen. Feltzer ärgert sich, dass er den Fahrgast mit in die Wohnung nahm und kocht vor Wut bei dem Anblick der beiden auf dem Sofa. Aggressiv rast er durch die Straßen und auf die Autobahn. Plötzlich hält er auf dem Seitenstreifen und brüllt Bergrath an: „Ich habe dich gewarnt. Habe ich dich nicht gewarnt?“
Feltzers Großmutter Klara stammt aus der Pfalz. Mitte der Dreißigerjahre war sie mit ihrem zwölf Jahre älteren Mann nach Köln gezogen. Als er nach dem Zweiten Weltkrieg verschollen blieb, war Klara froh, denn die Ehe mit ihm hatte sie als Hölle empfunden, aber wegen ihrer klammheimlichen Freude über sein Ausbleiben litt sie unter Gewissensbissen.
Reinhold, ihr einziger Sohn, wurde im Juni 1955 von seinem Freund Oswald Rehl überredet, mit auf eine Kirmes zu gehen. Oswald brachte seine Geliebte Eva und deren Freundin Viktoria mit. Die Freundschaft von Reinhold und Oswald zerbrach drei Jahre später (erst 47 Jahre später versöhnten sie sich), aber im Frühjahr 1963 heirateten Reinhold und Viktoria. Den Lebensunterhalt für die Familie, zu der schließlich auch der Sohn Feltzer gehörte, bestritt Reinhold Beer als Briefträger in Köln, bis er vor fast zwanzig Jahren vorzeitig pensioniert wurde. Jetzt ist er siebenundsiebzig. Seine Frau sammelt übrigens seit ein paar Jahren Aschenbecher, obwohl sie nie geraucht hat.
Oswald und Eva trennten sich 1969. Als Viktoria ihre damals vierunddreißigjährige Freundin im September 1969 traf, war diese von dem Medizinstudenten Ralf schwanger. Die beiden heirateten später, und ihre Tochter Hildegard wurde Ärztin wie ihr Vater. 1995 rannte Eva ein Wildschwein vors Auto, und sie kam bei dem Unfall ums Leben.
Vor zwölf Jahren stellte Feltzer seine Freundin Louise Klarhäuser den Eltern vor. Etwa zur gleichen Zeit machte er seinen Taxischein. Inzwischen ist er selbstständig und seit zwei Jahren mit Louise verheiratet.
Louises Vater Adolf wurde am 10. Mai 1940 in Trier geboren. Ihr Großvater Rüdiger Klarhäuser, ein überzeugter Nationalsozialist, zog nach dem Krieg mit seiner Ehefrau Sieglinde und dem kleinen Sohn nach Köln, wo er fünf Wochen später von den Amerikanern gefangen genommen wurde. Als er aus der Gefangenschaft zurückkehrte, war Adolf bereits neun Jahre alt.
Im April 1961 fuhren Adolfs Eltern mit dem Zug nach Berlin. Ohne ein Wort zu sagen, schnitt Rüdiger Klarhäuser seiner Frau Sieglinde von hinten die Kehle durch und erstach sich dann selbst. Adolf hatte unmittelbar nach dem Abschied von den Eltern auf dem Bahnsteig in Köln Friederike kennen gelernt, und einige Tage später begegnete er Oswald Rehl, der dabei war, eine Firma für Sanitäranlagen zu gründen und einen Geschäftspartner suchte. Friederike, die nicht merkte, dass Adolf sie fortwährend mit anderen Frauen betrog, wurde 1968 seine Ehefrau und im Sommer 1969 von ihrer einzigen Tochter entbunden: Louise.
Vor vier Jahren drängte Oswald Rehl seinen Partner Adolf Klarhäuser mit der Begründung, er sei zu nervös, aus dem Geschäft. Adolf begann zu trinken. Im Frühjahr 2005 stürzt Louises Vater so unglücklich, dass er auf dem rechten Auge erblindet. Doch sobald er aus dem Krankenhaus entlassen wird, beginnt er wieder neue Affären: Louise sieht ihn einmal zu einer gerade einmal dreißigjährigen Frau ins Auto steigen.
Von Ben Bergrath hört Louise nichts mehr. Sie mag nicht glauben, dass der freundliche Herr sein Versprechen, ihr Fotos von Neuseeland zu zeigen, nicht einhält. Da sie weiß, wie zornig Feltzer darüber gewesen war, dass sie sich mit seinem Fahrgast so gut verstanden hatte, befürchtet sie, er könne ihm während der Weiterfahrt etwas angetan haben. Als sie dann auch noch dunkle Flecken an dem Küchenmesser bemerkt, das Feltzer zu seiner Selbstverteidigung im Türfach des Taxis liegen hat, vertraut sie den Verdacht ihrer sechs Jahre jüngeren Freundin Claudia Wiese an, einer Studentin, die hin und wieder Theaterkritiken für Lokalzeitungen schreibt und für Feltzer Taxi fährt.
Mit ihrer achtundvierzigjährigen Mutter Simone versteht Claudia sich seit ihrer Jugend nicht mehr. Simone Dorfke hatte mit neunzehn als Schreibkraft bei Werner Wiese angefangen, dem Inhaber eines Imperiums aus Containerfirmen. Drei Wochen später rief er sie ins Büro, zog ihr wie selbstverständlich die Jeans aus, setzte sie auf den Schreibtisch und nahm sie, ohne sie zu küssen oder zu liebkosen, ohne erkennbare Gefühlsregung, ohne auch nur zu stöhnen – und machte ihr anschließend einen Heiratsantrag. Neun Monate später kam Simone mit Claudia nieder. Als das Mädchen sechs Jahre alt war, hängte sich Werner Wiese auf. Simone Wiese verkaufte das Unternehmen und lebt seither als steinreiche Witwe mit wechselnden Liebhabern in ihrer Villa.
Seit fünf Jahren sammelt Claudia Lebensmittel, deren Haltbarkeitsdatum mit ihrem Geburtstag übereinstimmt. Nicht selten verbringt sie Stunden damit, in Supermärkten nach entsprechenden Produkten zu suchen. Die Sammlung bewahrt sie auf Regalen in einem Abstellraum der Wohnung auf, die sie sich mit dem achtundzwanzigjährigen Künstler Uwe Scharck teilt.
Am 4. April 2005 findet Scharcks erste Vernissage statt, und zwar in der Galerie Krahlberg. Der Künstler versucht, die Gäste durch haarsträubende Geschichten über seine Kindheit und Jugend zu beeindrucken, behauptet, er sei seiner bei einem Raubüberfall in Spanien ermordeten Mutter aus dem Leib geschnitten und als Kind zum Betteln in Sevilla gezwungen worden. Eine Frau meint denn auch: „Man erkennt dieses Leiden sofort in Ihren Bildern.“ (100)
Etwa alle vier Wochen wartet Claudia im Taxi, bis ihre Mutter das Haus verlässt. Dass sie in ihrer Jugend einen Schlüssel nachmachen ließ, den sie noch immer besitzt, ahnt Simone nicht. Claudia weiß dagegen, wo ihre Mutter Bargeld aufbewahrt und holt sich regelmäßig ein paar 50-Euro-Scheine.
Friedhelm Deventer, der neben Claudia und Uwe wohnt, liebt es, Platten mit Sinfonien von Anton Bruckner aufzulegen. Uwe ärgert sich jedes Mal über die Lautstärke. Nachdem er Deventer wieder einmal zurechtgewiesen hat, stürzt dieser sich aus dem Fenster.
Einige Zeit später wird Claudia von der gehörlosen Nachbarin Rosemarie Fenner auf sechs schwarze Müllsäcke aufmerksam gemacht, die jemand neben die Mülltonnen gelegt hat. Einen hat sie geöffnet. Claudia kann nicht fassen, was sie darin sieht. Sie rennt in ihre Wohnung: Uwe hat ihre Sammlung weggeworfen! Claudia fährt zur Galerie – und überrascht dort Uwe mit ihrer Mutter, die augenscheinlich ein weiteres Bild des Künstlers gekauft hat, das sie gerade zusammen einpacken.
Feltzers Großmutter stirbt im Seniorenheim. Gegen Klaras ausdrücklichen Willen wird die Leiche eingeäschert.
Bei seinem Taxifahrer-Kollegen Kröning wurde Bauchspeicheldrüsenkrebs diagnostiziert, doch obwohl er sich einer Chemotherapie unterziehen muss, arbeitet er weiter.
Seit Louise schwanger ist, umsorgt Feltzer sie liebevoll. Er holt das Kinderbett, in dem er selbst gelegen hatte, aus dem Keller seiner Eltern, aber beim Aufbauen reißt er versehentlich Neuseeland von der Weltkarte an der Wand.
Als Feltzer seine Frau zur Sonografie begleitet, erkennt er in der Ärztin eine der drei Frauen, die vor der Rennbahn in sein Taxi einsteigen wollten. Sie kennt ihn auch, aber sie erinnert sich an ihn in einem anderen Zusammenhang: Sie heißt Hildegard Blech; ihre Mutter Eva war mit Feltzers Mutter Viktoria befreundet, und als Kind aß er ihr des Öfteren das Eis weg. Auf dem Bildschirm des Ultraschallgerätes entdeckt Hildegard Blech, dass bei dem Fetus die Schlagadern an den Herzkammern vertauscht sind. Aufgrund der Transposition der großen Gefäße gibt es im Körper des Ungeborenen zwei getrennte Kreisläufe: einen sauerstoffreichen und einen sauerstoffarmen. Ohne medizinischen Eingriff würde der Säugling nach der Geburt ersticken.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.
Am 21. November 2005 wird Lennart Beer durch einen Kaiserschnitt zur Welt gebracht. Er wiegt 3800 Gramm und ist 53 Zentimeter groß. Louise darf ihn nur ganz kurz ansehen, dann wird dem Neugeborenen im Nebenraum ein Herzkatheter gelegt, um die Zeit bis zur eigentlichen Operation zu überbrücken.
Als Louise ihre Freundin Claudia anruft, um ihr mitzuteilen, dass sie einen Sohn geboren habe, erzählt Claudia ihr wutschnaubend, dass Uwe bei ihr aus- und bei ihrer Mutter eingezogen sei.
Die achtstündige Herzoperatin verläuft einige Tage später komplikationslos. Doch nach einigen Stunden bleibt Lennarts Herz stehen. Beim zweiten Mal muss er an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen werden. Dann versagen die Nieren. Das Gehirn wird nicht mehr ausreichend durchblutet, und ein Organ nach dem anderen kollabiert. Der Arzt bittet die Eltern, zu entscheiden, wann die Geräte abgeschaltet werden sollen. Louise will, dass es sofort gemacht wird und hält ihren kleinen Sohn im Arm, während er stirbt. „Morgen war schon“, flüstert Feltzer (Seite 315).
Einige Tage später liegt ein Brief auf der Fußmatte. Ben Bergrath hat die Todesanzeige in der Zeitung bemerkt und kondoliert Louise zum Verlust ihres Kindes. Er entschuldigt sich dafür, dass er sich nicht mehr meldete, aber nachdem er von ihrem jähzornigen Mann während der Fahrt zu seiner Schwester aus dem Taxi geworfen worden sei, habe er es nicht mehr gewagt.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)[Nach der Beerdigung des Neugeborenen] machten Feltzer und Louise sich auf den Nachhauseweg, gingen Hand in Hand den Ring entlang […]
Es begann zu nieseln. Die Autofahrer schalteten die Scheinwerfer ein. Am Itzak-Rabin-Platz zog der Kioskbesitzer Plastikfolien über die Zeitungsständer. Feltzer ging etwas schneller, wischte sich den feuchten Film vom Gesicht. Die Helligkeit zog sich nach und nach aus den Straßen zurück, löste sich auf, verwandelte den Himmel in eine dunkle Suppe, obwohl es erst zwei Stunden nach Mittag war.
„Da kommt noch was“, sagte Feltzer.
Von der anderen Seite der Roonstraße aus wirkten die Bäume und Hecken des Rathenauplatzes wie eine bröckelnde Wand. Ein Hundebesitzer pfiff seinen Rottweiler zu sich, legte ihn an dei Leine. Niemand spielte mehr Boule.
Vor ihrer Haustür nahm Feltzer den Schlüssel aus der Tasche, steckte ihn ins Schloss. Irgendwo schrie jemand kurz auf, dann war nur der stärker werdende Regen zu hören.
Als Feltzer die Tür aufdrückte, sagte Louise: „Wir sollten wegfahren. Es wäre das Beste. Ich möchte eine Zeitlang nicht mehr in unser Schlafzimmer. Wir wollten doch nach Neuseeland.“
Feltzer hielt die Tür einen Augenblick auf, ließ sie dann wieder zufallen. Der Schlüsselanhänger baumelte zweimal gegen das Holz und beruhigte sich. Feltzer drehte sich um, legte beide Arme um Louise. Sein Kinn berührte ihre Stirn.
Im Nebenhaus schloss jemand das Fenster. (Seite 330f)
Guy Helminger eröffnet seinen Roman „Morgen war schon“, als würde es sich um einen Psychothriller im Kino handeln: mit einer starken Szene, in der zwei der Hauptfiguren charakterisiert werden und Suspense entsteht. Wie in einem Film geht es dann auch weiter, mit einer rasanten Schnitttechnik, mehrfach verschachtelten Rückblenden und einem ständigen Wechsel zwischen den eng verflochtenenen Handlungssträngen. Dabei schildert Guy Helminger die Handlung nicht, sondern er inszeniert sie in konkreten, eindrucksvollen Szenen, stellt die Charaktere sowie ihre Beziehungen und Entwicklungen durch ihr Verhalten dar und erweist sich als hervorragender Beobachter auch von Details, die er präzise wiedergibt. Nicht einmal einen Sprecher aus dem Off benötigt Guy Helminger in „Morgen war schon“. Gleich zu Beginn hören wir Namen und sehen eine Libellenbrosche sowie die rasierten Augenbrauen einer Frau. All das blitzt später nochmals in anderen Zusammenhängen auf. Mehrmals wiederholt Guy Helminger, dass Louise argwöhnt, ihr Ehemann Feltzer könne Ben Bergrath etwas angetan haben.
Der Roman spielt im Jahr 2005 in Köln. In Rückblenden greift Guy Helminger jedoch bis in die Vierzigerjahre zurück und zeigt, wie sich die Eltern der Hauptfiguren in der Nachkriegszeit etabliert haben.
„Morgen war schon“ ist ein mitreißender, tragischer und an keiner Stelle sentimentaler Roman über alltägliche Figuren mit skurrilen Facetten, die mitunter für makrabre Komik sorgen. Das Bild, das Guy Helminger vom Leben und von der Gesellschaft entwirft, ist nicht besonders positiv. „Eine kranke Welt“, meint der Taxifahrer Bellini (Seite 289).
Übersicht über die Verwandtschaftsbeziehungen:
- Feltzer und Louise Beer, Sohn Lennart
- Feltzers Eltern: Reinhold und Viktoria Beer; Reinholds Mutter: Klara
- Louises Eltern: Adolf und Friederike Klarhäuser;
Adolfs Eltern: Rüdiger und Sieglinde Klarhäuser - Claudias Eltern: Werner Wiese und Simone, geb. Dorfke
Guy Helminger wurde 1963 in Esch-sur-Alzette (Luxemburg) geboren. Seit 1985 lebt er in Köln. Sein Erzählband „Etwas fehlt immer“ erschien 2005 im Suhrkamp Verlag.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007
Textauszüge: © Suhrkamp