Haroon Gordon : Palast aus Staub und Sand

Palast aus Staub und Sand
Palast aus Staub und Sand Originalausgabe: hockebooks, München 2016 ISBN: 978-3-95751-162-1, 312 Seiten ISBN: 978-3-95751-157-7 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Ella, eine junge Australierin auf der Suche nach sich selbst, engagiert sich 2001 in einem Entwicklungsprojekt in Malawi und glaubt, den Sinn ihres Lebens gefunden zu haben. Als sie in Frankreich Spenden sam­melt, trifft sie auf einen in Algerien gebo­re­nen Franzosen Mitte 60, der seine Woh­nung verkauft, um mit dem Geld das Pro­jekt vor dem drohenden Aus zu be­wahren. Er fliegt mit nach Afrika und erzählt Ella dort seine Lebensgeschichte ...
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Kritik

Haroon Gordon erzählt in seinem Roman "Palast aus Staub und Sand" zwei verknüpfte Geschichten und ver­schach­telt die Zeitebenen so ge­schickt, dass er den in der Chrono­logie früheren Höhepunkt bis fast zu Ende aufspart.
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Nach dem Schulabschluss im Jahr 1996 reist die Australierin Elizabeth („Ella“) nach Indien, um sich selbst zu finden.

Dort hatte sie sich im Charisma eines gut zehn Jahre älteren, blonden Schweden mit gewinnendem Lachen, lockigem Haar und manipulierender Rhetorik verloren und sich fast drei Jahre in einer undurchsichtigen Gruppe umherziehender und Marihuana rauchender Aussteiger wiedergefunden. Nur sich selbst hatte sie dabei nicht entdeckt.
Also war sie weitergezogen. War nach Thailand geeilt, um die Kunst des Kochens, Meditierens und Nichtstuns zu erlernen. Irgendwann aber bemerkte sie, dass ihre Reise nicht mehr als eine Flucht war, auf der ihre Ängste, Nöte und der schmerzende Stachel der Einsamkeit ihr als stete Weggefährten treu blieben.

2001 erhält Ella in Thailand eine Nachricht von ihrem Schulfreund Jason. Der hat sich vorgenommen, in einem Dorf in Malawi eine Schule zu gründen. Vor einem Jahr begannen die Bauarbeiten. Ella erfährt aus dem Brief, dass sich Sam, Simon und Lester, die ebenfalls mit ihr in Armidale zur Schule gingen, dem „Little Hearts Project“ bereits angeschlossen haben. Jason lädt Ella ein, auch mitzumachen. Begeistert fliegt sie nach Lilongwe und steigt dort in einen Bus, der sie nach einer tagelangen Fahrt in Chipita absetzt, wo Sam sie zu einem Tagesmarsch nach Chila abholt.

Im gesamten Dorf gab es weder fließendes Wasser noch Strom. Als Latrinen dienten behelfsmäßige Aborte.

Sie half, brachte sich ein und achtete darauf, dies in Eintracht mit den hier lebenden Menschen und der Natur zu tun. Sie wuchs an ihrer Aufgabe und manchmal fragte sie sich, wer hier eigentlich wem half.
Ellas Empfindungen vollführten kleine Pirouetten, denn schon meldete sich ihr schlechtes Gewissen, da letztlich das Leid der anderen Basis ihres Stolzes war. War das schändlich? Ja, sie war hier, um zu helfen, und ja, sie fühlte sich gut damit. Aber sie war auch hier, weil ihre australische Heimat sie enttäuscht hatte. Weil sie eine Suchende war.“

Jason rät Ella, sich nicht vom Mitleid mit den Dorfbewohnern auffressen zu lassen.

„Die Gefühle, die du empfindest, sind Gefühle, die deiner Seele entspringen. Es sind nicht die der Menschen, die hier aufgewachsen sind. Es ist wichtig, diese Unterscheidung schnell zu lernen, denn sonst wirst du hier zugrunde gehen.“

Ella und Jason hatten sich in Armidale gemeinsam in der Schülervertretung engagiert. Während Ella dann Australien verließ, immatrikulierte sich Jason an der Universität in Sydney, aber nach einem Semester brach er das Studium ab.

Er war in Vorlesungen, Stundenplänen, Pünktlichkeiten, Kommilitonen, Mensen, Joints, Hausarbeiten, Tutorien, nächtlichem Kellnern und Skripten erstickt.

Hin und wieder sah er Sam, der Philosophie und Linguistik studierte, und Simon, der eine Lehre auf verschiedenen Baustellen machte. Lester war wegen seiner auf einen Rollstuhl angewiesenen Schwester in Armidale geblieben und ließ sich dort zum Schreiner ausbilden.

Von seiner Freundin Clarissa trennte Jason sich, weil sie ihn mehrmals betrogen hatte. Ella hat die enge Freundschaft mit Jason als geschwisterlich in Erinnerung. Das hatte weder mit Sex noch Erotik zu tun. Aber in Afrika stellt Ella überrascht fest, dass sie es nicht mag, wenn er sie bei der Hand nimmt. Es dauert eine Weile, bis sie den Grund begreift: Sie hat sich in Jason verliebt und wartet ungeduldig darauf, dass er sie begehrt. Aber dazu müsste er sie erst als Frau wahrnehmen.

Jason möchte inzwischen nicht nur eine Schule, sondern auch ein Waisenhaus in Chila bauen. Weil er sich jedoch weigert, korrupte Beamte zu bestechen, erhält er vom zuständigen Verwaltungszentrum in Mzuzu einen abschlägigen Bescheid auf seinen Antrag. Er solle sich an die Baubehörde in Lilongwe wenden, heißt es. Aber von dort kommt die Aufforderung, erst einmal 15 000 US-Dollar bei der Staatsbank zu hinterlegen.

Daraufhin ruft Ella ihren reichen Onkel Shawn in Frankreich an. Der ist zwar nicht bereit, die erforderliche Summe für das Little Hearts Project zur Verfügung zu stellen, weil er an den Erfolgsaussichten zweifelt, aber er schenkt Ella und Jason Flugtickets nach Frankreich, damit sie für ihr Vorhaben Spenden sammeln können.

Ella und Jason fliegen also nach Frankreich, in die Provence, zu Shawn und seiner Lebensgefährtin Celine. Ellas Onkel vermittelt ihnen Einladungen zu Diavorträgen über das Little Hearts Project.

Beim Vortrag im Schwester-von-Tarsilia-Seniorenstift in einem zwei Autostunden entfernten Dorf fällt Ella ein zu spät gekommener Greis auf, der konzentriert zuhört. Als sie am Ende zum Sammeln herumgeht, gesteht er ihr, dass er kein Geld bei sich habe, aber unbedingt helfen wolle.

„Bitte, geben Sie mir die Gelegenheit, Ihnen zu helfen. Ich möchte mit einem Freund reden. Er hat immer Lösungen für Probleme.“

Ella erwartet nicht viel davon, zumal es nach drei Wochen in Frankreich ohnehin nicht gut aussieht: Die Spenden reichen bei weitem nicht. Immerhin verspricht Ella dem Mann, vor dem Rückflug nach Afrika noch einmal vorbeizukommen.

Bei dem Alten handelt es sich um Baptiste Dumont. Er gehört nicht zu den Bewohnern des Seniorenheims in der Provence, sondern erholt sich im zugehörigen Reha-Zentrum von den Folgen eines Sturzes.

Baptiste war in den Siebzigerjahren wie aus dem Nichts in dem französischen Dorf aufgetaucht. Der aus Italien stammende Musikalienhändler Tommaso Regondi und dessen Ehefrau Martha hatten ihn aufgenommen. Später heiratete Baptiste ein Mädchen aus dem Dorf – Claire –, und die beiden Ehepaare wurden enge Freunde.

Vor fast sieben Jahren erhielten Claire und Baptiste Dumont die Nachricht, dass sie Großeltern geworden seien, aber als ihr Schwiegersohn Jacques seine Frau Michelle und das Neugeborene aus der Klinik holte, krachte ein übermüdeter Autofahrer in ihren Wagen und tötete sie alle drei.

Später erkrankte Claire an Krebs. Zwei Jahre lang ertrug sie die Chemotherapien, dann brach sie die Behandlung ab, und vor einigen Monaten starb sie an einer Lungenembolie – ausgerechnet in einer der wenigen Nächte, die Baptiste nicht bei ihr im Krankenhaus verbrachte, weil er sich von zu Hause frische Wäsche holen wollte.

Claires Schwester Esther und ihr Ehemann Theodore Giradot übernahmen es, die Beerdigung zu organisieren. Bei der Trauerrede hob Baptiste an:

„Schmerzen hatten meiner Seele ihre Heimat geraubt […], und Claire hat sie für mich zurückerobert.“

Weiter reden konnte er nicht. Er ging hinaus, und Esther sprang mit einer vermutlich ohnehin bereits vorbereiteten Rede für ihn ein, tat allerdings so, als improvisiere sie.

Kurz darauf besuchten ihn Esther und Theodore mit ihren Töchtern Julie und Justine. Scheinheilig fragten sie, ob er nicht im Schwester-von-Tarsilia-Seniorenstift besser aufgehoben wäre. Damit er sich das leisten könne, wären sie bereit, ihm die Wohnung abzukaufen. Baptiste durchschaute, dass es seiner Schwägerin auf die Wohnung ankam, die ihr Vater nicht ihr, sondern ihrer Schwester vermacht hatte, und er war zunächst nicht bereit, sie ihr zu überlassen.

Nach dem Vortrag über das Little Hearts Project ändert er seine Meinung. Fasziniert von der Vorstellung, am Ende seines Lebens bei einer guten Sache helfen zu können, beschließt Baptiste, die Wohnung zu verkaufen, um die von den Behörden in Malawi verlangten 15 000 Dollar aufbringen zu können – und mit den jungen Menschen nach Afrika zu fliegen.

Tommaso Regondi hält das Vorhaben für eine „Riesendummheit“.

„Wer waren diese jungen Menschen überhaupt? Vielleicht ein Betrügerpärchen. Wer käme schon aus Afrika bis nach Frankreich, um Spenden zu sammeln?“

Aber Baptiste lässt sich nicht beirren, und nachdem es ihm gelungen ist, den von Esther und Theodore Giradot gebotenen Preis für die Wohnung von 85 000 auf 122 000 Euro hochzutreiben, unterschreibt er vor dem Notar Bergerac den Vertrag.

Ella und Jason ahnen davon nichts. Sie sind enttäuscht über das Ergebnis der Sammlung. Bei dem alten Mann im Schwester-von-Tarsilia-Seniorenstift vorbeizuschauen, hält Ella für sinnlos. Aber am Ende fahren Ella und Jason doch noch einmal hin. Während Jason im Auto wartet, hört Ella sich an, was Baptiste Dumont ihr zu sagen hat. Sie kann es kaum glauben. Als sie zurückkommt, erzählt Jason ihr begeistert, er habe soeben durch einen Telefonanruf erfahren, dass die Nach­wuchs­journalistin Marie Leclerc vom Journal Mondial mit nach Malawi fliegen werde, um einen Bericht über das Little Hearts Project zu schreiben.

Einige Tage später fliegen Ella, Jason, Marie Leclerc und Baptiste Dumont nach Lilongwe. In Chipita übernachten sie in einem kleinen Gasthaus und mieten einen Transporter für die Fahrt nach Chila.

Ella, die inzwischen mit Jason schläft, fällt es schwer, die Anwesenheit der jungen Journalistin zu ertragen. Eifersüchtig beobachtet sie, wie angeregt Jason sich mit der Französin unterhält.

Während Jason, Sam, Simon und Lester mit Marie Leclerc aufbrechen, um in der Hauptstadt Fotos für das Journal zu schießen, bleiben Ella und Baptiste in Chila zurück.

Am nächsten Tag stellt Baptiste erschrocken fest, dass Ella fiebert. Und dann verwüstet auch noch ein Unwetter die Baustelle. Baptiste sorgt sich um die junge Frau. Dabei erkrankt er selbst. Und als Ella aus dem Fieberwahn wieder zu sich kommt, liegt er im Sterben. Mit letzter Kraft bittet er sie, für ihn ein Grab in Algerien aufzusuchen und beschreibt ihr den Weg dorthin. Das erforderliche Geld für die Reise werde sie im Futter seines Koffers finden, flüstert er.

Jason und die anderen kommen ohne Marie Leclerc zurück, die nach einem Streit das Land verlassen hat.

Baptiste ist tot, und das Little Hearts Project steht vor dem Aus. Aber auch wenn es eine Zukunft hätte, würde Ella abreisen. Ihr ist, als habe Baptiste ihr seine Lebensgeschichte erzählt, während sie im Fieberwahn lag.

Baptiste wurde 1933 in Algerien geboren, und zwar als einziges Kind des Colonel Dumont und dessen Ehefrau Celine. Henry Dumont, ein Offizier der französischen Kolonialmacht, war für das Frauengefängnis in Abd-El-Quadir verantwortlich, an einem Ort in der Wüste, den die Tuareg Jumanah (silberne Perle) und die Bewohner der drei umliegenden Dörfer Abda (schwarze Sklavin) nannten. Als Celine Fauré mit Baptiste schwanger war, gab sie ihre Karriere als Pianistin in Frankreich auf und zog zu ihrem Ehemann in ein Haus mit neun Zimmern. Die Bediensteten unterstanden Major Francis Laval.

Weil es in Abda keine Schule gab, wurde Baptiste von seiner Mutter und dem Privatlehrer Abbe Seth unterrichtet. Sein Vater verfügte, dass auch sein einziger Freund dabei sein durfte. Gabriel war ein Jahr nach Baptiste als Sohn der Strafgefangenen Yasmina, die ihren Ehemann ermordet hatte, in Abda geboren worden. Es kam vor, dass Frauen bei ihrer Verhaftung bereits schwanger waren, und manchmal zeugte auch einer der Aufseher ein Kind mit einer Gefangenen, aber bis auf Gabriel wurden sie alle ein paar Wochen nach der Geburt Pflege- bzw. Adoptiv­eltern übergeben. Weil Gabriel selbst keine Haftstrafe verbüßte, durfte er das Gefängnis verlassen, zum Beispiel, wenn Baptiste kam, um mit dem einzigen Jungen in seinem Alter zu spielen.

Als Baptiste und Gabriel pubertierten, begannen sie sich für Rani zu interessieren, eine höchstens 16 Jahre alte Rifkabylin, die als Taschendiebin aufgegriffen worden war. Als Yasmina ihren Sohn beim Masturbieren erwischte, verbot sie ihm die weitere Teilnahme am Unterricht des Moslems Abbe Seth und bat stattdessen die als Hexe verrufene Mitgefangene Sahira, mit Gabriel die Bibel zu lesen.

Im Alter von 15 Jahren nutzte Baptiste eine Gelegenheit, Miguel Alejandro de Ponce y Saragossa de la Rocha, den spanischen Koch der Dumonts, nach Sola zu begleiten. Während Miguel dort einkaufte, suchte Baptiste die alte Hebamme Laia auf, die sowohl bei seiner als auch bei Gabriels Geburt dabei gewesen war. Von ihr hoffte er zu erfahren, warum sein Vater Gabriel nicht wie die anderen Kinder von Gefangenen hatte wegbringen lassen.

Laia erinnerte sich an die Ereignisse im Jahr 1934. Weil Yasmina sich stundenlang gegen die Wehen gesträubt hatte, war es notwendig gewesen, das Kind mit der Zange zu holen. Als sie der Mutter das Neugeborene auf den Bauch legen wollte, wandte diese sich erschöpft ab. Während Colonel Dumont im Gefängnis geborene Kinder sonst sechs Wochen lang bei der Mutter ließ, ordnete an, diesen Säugling sofort wegzubringen. Weil Yasminas Sohn bei der Amme nicht trinken wollte und zu verhungern drohte, brachte man ihn zu seiner Mutter zurück. Von ihr genährt, erholte sich der Junge, der den Namen Gabriel erhielt. Laia erfuhr, dass das Kind durch eine Vergewaltigung gezeugt worden war. Jemand hatte Yasmina in der Krankenstation aus dem Schlaf gerissen, ihr einen Leinensack über den Kopf gestülpt und sie gewaltsam penetriert. Bei der Vernehmung war der Schwangeren kein Name über die Lippen gekommen, aber Colonel Dumont hatte in den Dienstplänen geblättert und dann einen Aufseher namens Pascal halb tot geschlagen, dem bereits zwei andere Vergewaltigungen nachgesagt worden waren.

Baptiste verschwieg seinem Freund, was er über dessen Zeugung und Geburt erfahren hatte.

Ein Jahr später beobachtete er zufällig, wie Rani Gabriel auf den Mund küsste. Ebenso zornig wie eifersüchtig nahm Baptiste an, dass ihm sein Freund die Liebesbeziehung verheimlichte.

Am nächsten Tag war Rani verschwunden, und mit ihr nicht etwa Gabriel – wie Baptiste zunächst argwöhnte –, sondern der Koch Miguel. Gabriel gestand Baptiste, dass er für Rani einen Schlüssel aus dem Wärterhäuschen gestohlen hatte und auf ihre Liebesbekundungen hereingefallen war. Baptiste behielt das Geheimnis für sich und verriet seinen Freund nicht.

Um die Hochschulreife zu erwerben, brauchte Baptiste nicht nach Frankreich zu reisen, sondern er konnte die Prüfung einen Monat vor seinem 18. Geburtstag unter militärischer Aufsicht in Abda schriftlich absolvieren, und seine Arbeiten wurden an die Schulbehörde in Paris geschickt. Als Belohnung für die bestandene Prüfung und als Geburtstagsgeschenk versprach sein Vater, er werde ihn zum Studium nach Paris schicken und die Kosten für ein kleines Apartment übernehmen.

Baptiste war sprachlos. Während es seine Mutter vor Aufregung über die Überraschung kaum auf dem Stuhl hielt und sie wie infantil zu klatschen begann, wusste er nicht, wie ihm geschah.
Paris. Das klang nach Freiheit. Nach Entfaltung und Leben. Aber es klang auch nach Abschied. Nach Hinter-sich-lassen und Verrat. Dann wieder nach Neuanfang. Er blickte hinüber zu Gabriel, der betrübt zu Boden schaute.
„Und dann ist da noch etwas“, nahm der Vater den Faden wieder auf. An der Reaktion seiner Mutter erkannte Baptiste, dass sie überrascht war, dass er etwas ankündigte, das auch ihr noch unbekannt war. Der Colonel wandte sich an Gabriel: „Gabriel, du bist unserem Sohn stets ein loyaler Freund gewesen. Dass dein Leben nicht leicht war, wissen wir, und du hast dich mit Bravour deinem Schicksal gestellt. […] Ursprünglich hatte ich vor, dir eine Arbeit in einer der Städte im Norden des Landes zu verschaffen“, fuhr er fort. „[…] Doch ich habe mich anders entschieden.“
Jetzt war die Spannung auf dem Höhepunkt.
„Gabriel, ich möchte, dass du unseren Sohn nach Paris begleitest. Dass ihr gegenseitig auf euch aufpasst und dass du dort die Chance erhältst, eine Lehre als Schreiner zu absolvieren.“

Da sprang Baptistes Mutter wie eine Furie auf und schrie, sie werde das niemals zulassen. Dann sackte sie schluchzend zusammen.

Aber auch Gabriels Mutter waren gegen den Plan. Yasmina wies Gabriel darauf hin, dass sie mit ihrer baldigen Freilassung rechnen könne und außerhalb des Gefängnisses auf die Unterstützung ihres Sohnes angewiesen sei. Daraufhin bat Gabriel den Colonel, bei seiner Mutter bleiben zu dürfen.

Baptiste reiste also allein nach Paris und begann dort zu studieren. Er las Sartre und Camus, sympathisierte mit der KPF und wurde durch eine junge Frau namens Lola in die körperliche Liebe eingeführt.

Aus Lola war eines Tages Chloé geworden. Aus Chloé recht bald Louna. Bei der nächsten konnte er sich nicht einmal an den Namen erinnern.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Yasmina wurde drei Monate nach Baptistes Abreise vorzeitig entlassen und zog mit ihrem Sohn in ein schäbiges Quartier. An eine Schreinerlehre war nicht zu denken. Stattdessen nahm Gabriel jede mögliche Aushilfstätigkeit an, um sich und seine Mutter vor dem Verhungern zu bewahren.

1954 begeisterte er sich für den soeben gegründeten Front de Libération Nationale (FLN).

Unerwartet tauchte Sahira bei ihm auf, die das Gefängnis inzwischen ebenfalls verlassen hatte. Sie fragte Gabriel:

„Was glaubst du, warum du so viele Jahre bei deiner Mutter bleiben durftest? Als einziges Kind an einem kinderlosen Ort.“

Sie klärte ihn darüber auf, dass der Colonel selbst Yasmina vergewaltigt hatte:

„Genommen hat er sich, was er haben wollte. Hat deiner Mutter einen Sack über den Kopf gestülpt. Dachte wohl, dass sie nicht merken würde, wer es da mit ihr trieb.“

Obwohl Yasmina wusste, wer sie vergewaltigt hatte, schwieg sie bei der Vernehmung, und der Colonel prügelte den Sündenbock Pascal halb tot. Aber seine Frau Celine habe die Wahrheit gewusst oder zumindest geahnt, meinte Sahira.

„Was denkst du, warum er dich nach Paris verfrachten wollte? Nicht als Aufpasser. Nein. Weil er dich aus dem Weg haben wollte. Wie bei deiner Geburt schon. Weit weg. Weil er hoffte, dass er wieder ein normales Leben mit seiner Frau führen könnte.“

Gabriel beschloss, seine Mutter zu rächen und ging hasserfüllt zum Haus der Dumonts. Er fand den Colonel – seinen Vater – im Arbeitszimmer. Henry Dumont war betrunken. Von Gabriel zur Rede gestellt, schimpfte der Colonel auf Yasmina.

„Deine Mutter ist ein richtiggehendes Stück Dreck, das mir mein Leben zerstört hat.“

Als sich der Colonel auf ihn stürzte, rastete Gabriel aus, bekam etwas Schweres vom Schreibtisch zu fassen und erschlug damit den Angreifer.

Wie seine Mutter eine Gattenmörderin war, war er nun zum Vatermörder geworden.

Nachdem Baptiste die Nachricht von der Ermordung seines Vaters erhalten hatte, flog er mit einer Militärmaschine nach Algerien. Seine geistig zerrüttete Mutter erkannte ihn nicht mehr. Aufgrund von Zeugenaussagen gab es keinen Zweifel daran, dass Gabriel der Mörder war. Nach ihm wurde gefahndet, und Baptiste wollte nicht abreisen, ohne seinen Vater gerächt zu haben.

Weil er annahm, dass Gabriel über kurz oder lang nach seiner schwer lungen­kranken Mutter sehen würde, legte er sich in der Nähe des Hauses auf die Lauer. Als er durchs Fenster schaute, sah er Sahira, und Yasmina lag tot auf dem Bett. Er folgte Sahira unbemerkt zu einer Höhle. Zunächst nahm er an, dass sie dort hauste, aber als sie wieder herauskam und ins Dorf zurückkehrte, ahnte er, dass Gabriel sich in der Höhle versteckte.

Über sein Funkgerät verständigte er Major Laval. Bevor dieser mit seinen Männern eintraf, verließ Gabriel die Höhle, bemerkte Baptiste und rannte davon. Nach einer langen Verfolgungsjagd holte Baptiste ihn ein und warf sich auf ihn.

Im Sturz schrie Gabriel Baptiste an, er solle aufhören. „Willst du mich umbringen?“, schrie er. „Deinen eigenen Bruder?“

Gabriel versuchte Baptiste zu erklären, dass er den gemeinsamen Vater ermordet habe. Während des Gerangels löste sich aus der Pistole des Colonels, die Gabriel an sich genommen hatte, ein tödlicher Schuss.

Ella, die das alles im Fieberwahn aufgenommen hat, landet in Algier und mietet nach ein paar Tagen ein Auto mit Fahrer für den Weg nach Abda. Dort lernt sie Amir kennen, einen Sohn des inzwischen gestorbenen Gefängniswärters Hamid, und sie überredet ihn, mit ihr den von Baptiste beschriebenen Ort zu suchen. Dort finden sie eine Inschrift: „Hier liegt mein Bruder, mein Freund“, dazu die Jahreszahlen 1933 und 1954 und die Initiale B. Da begreift Ella, dass der alte Mann nicht Baptiste, sondern Gabriel war. Offenbar hatte er die Identität des Getöteten angenommen und war mit dessen Pass nach Frankreich gereist.

Ella und Amir kommen sich näher. Dennoch verlässt Ella Algerien, fliegt nach Australien und stellt ihren Stiefvater zur Rede, der sie als Kind missbraucht und geschlagen hatte. Dann beginnt sie in Frankreich Geschichte und Archäologie zu studieren. Jason kommt zu ihr nach Frankreich, um sie zurückzugewinnen. Das Little Hearts Project existiert nicht mehr:

Die Schäden am Gebäude, der Streit und die anschließende schlechte Presse durch Marie, aber auch Ellas Weggang hatte die Gruppe nicht überstanden. Das Wiedersehen stellte Ella vor die vielleicht schwerste Wahl ihres Lebens. Amir oder Jason.

Die beiden Söhne, die sie zur Welt bringt, nennt sie Baptiste und Gabriel. Inzwischen ist sie erneut schwanger. Wenn es ein Mädchen wird, soll es den Namen Rani bekommen.

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In seinem Debütroman „Palast aus Staub und Sand“ erzählt Haroon Gordon (* 1969) von einer jungen Australierin auf dem Weg zur Selbstfindung und die Lebensgeschichte eines in Algerien geborenen Franzosen. Es geht um Freundschaft, Loyalität und Verrat, Liebe und Eifersucht, Rache und Schuld.

Der Prolog spielt 1934 in Algerien. Dann springt Haroon Gordon ins Jahr 2001. Er stellt Baptiste Dumont vor, einen Witwer Mitte 60, und Ella, eine junge Frau, die nach vergeblicher Identitätssuche in Indien und Thailand glaubt, das Projekt eines Schulfreundes für Kinder in Malawi werde ihrem Leben endlich einen Sinn geben. Haroon Gordon entwickelt die beiden Handlungsstränge parallel, bis sie sich verknüpfen. Der zweite Teil des Romans „Palast aus Staub und Sand“ beginnt 1944 in Algerien und endet 1954 dort. Wir erfahren vor allem, was Baptiste und sein einziger Freund Gabriel in ihrer Jugend erlebten: Gabriel, der in einem Frauengefängnis geborene Sohn einer Mörderin, und Baptiste, der Sohn des Gefängnisleiters, eines Offiziers der französischen Besatzungsmacht. Im dritten und letzten Teil kehren wir wieder ins Jahr 2001 zurück. Und der Epilog spielt noch einige Jahre später. Innerhalb der einzelnen Abschnitte folgt Haroon Gordon der Chronologie, streut jedoch Rückblenden ein. Außerdem springt er gern zwei Schritte vor und holt dann das Ausgelassene nach. Dieses Spiel beherrscht er souverän und elegant.

Die 1944 bis 1954 in Algerien spielende Handlung ist weitaus dramatischer als es die Ereignisse im Jahr 2001 sind. Durch die geschickte Verschachtelung der Zeitebenen ist es Haroon Gordon gelungen, diesen Teil der Geschichte und sein tragisches Ende möglichst lange zurückzuhalten. Auf diese Weise spart er sich auch die überraschenden Wendungen bis fast zum Schluss auf und steigert die Spannung.

Zwei Kapitel enden damit, dass jemand durch eine Tür kommt, aber wir erfahren erst später, wer es in dem einen und wer es in dem anderen Fall war. Am Ende des Romans „Palast aus Staub und Sand“ bleibt offen, wen Ella als Lebensgefährten gewählt hat.

Die Szene, in der Baptiste erkrankt, während Ellas Fieber abklingt, könnte man in den magischen Realismus einordnen.

Bemerkenswert ist auch, wie intensiv Haroon Gordon in „Palast aus Staub und Sand“ die psychischen Vorgänge ausleuchtet. Dazu bedient er sich innerer Monologe.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Textauszüge: © Haroon Gordon

Tanguy Viel - Paris – Brest
Der Roman "Paris – Brest" von Tanguy Viel ist aus einem Vor und Zurück von Andeutungen, Ankündigungen und Fragmenten kunstvoll komponiert und funkelt vor Witz, Esprit, Ironie und Sarkasmus.
Paris – Brest

 

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.