Antonio Fian : Das Polykrates-Syndrom
Inhaltsangabe
Kritik
Artur hat zwar Geschichtswissenschaften studiert, arbeitet jedoch halbtags in einem Copyshop in Wien, gibt Nachhilfestunden und schreibt TV-Sketche, die allerdings kein Fernsehsender ins Programm aufnimmt. Abgesehen von den paar Schilling, die Artur dazuverdient, sorgt seine Ehefrau Rita als Lehrerin für den Lebensunterhalt. Im Gegensatz zu ihm ist sie ehrgeizig. Rita hat kürzlich die Administratorenstelle an ihrer Schule übernommen und möchte es in etwa vier Jahren zur Direktorin bringen. Sie und Artur hatten sich während des Studiums kennengelernt; vor 15 Jahren schliefen sie erstmals miteinander, und seit acht Jahren sind sie verheiratet.
Artur ist nicht nur abergläubisch, er glaubt mitunter auch Geister zu sehen und befürchtet, dass er am Polykrates-Syndrom leide.
Der Tyrann Polykrates beherrschte in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts v. Chr. die griechische Insel Samos. Er schien vom Glück begünstigt zu sein, denn mit seinen Söldnern und seiner Flotte gewann er alle Kriege. Der persische Statthalter Oroites machte sich jedoch Polykrates‘ Gier und Selbstsicherheit zunutze, um ihn auf dem Berg Mykale in einen Hinterhalt zu locken. Der Mord soll so grausam gewesen sein, dass Herodot die Bluttat nicht schildern mochte. Friedrich Schiller warnt in seiner 1797 geschrieben Ballade „Der Ring des Polykrates“ davor, dass auf große Erfolge nicht selten ein tiefer Sturz folge.
Als Polykrates-Kranker hat man dieses Schicksal immer im Kopf, man fürchtet, zu viel Glück zu haben und irgendwann dafür bestraft zu werden, darum bemüht man sich ständig, Opfer zu bringen.
In der Adventszeit betritt eine attraktive Frau Mitte 20 wenige Minuten vor Geschäftsschluss den Copyshop. Nachdem sie drei Blätter kopierte, etwas auf einen Zettel schrieb und wieder ging, öffnet Artur den Deckel des Kopiergeräts. Da liegt der Zettel. „Hübsches Hemd“, steht darauf. Artur wirft den Studenten hinaus, der seit einer Stunde dabei ist, ein Buch zu kopieren, und läuft auf die Straße. Tatsächlich entdeckt er die Frau wieder. Er folgt ihr zur U-Bahn, fährt mit ihr in den Wiener Stadtteil Favoriten und geht ihr weiter nach. Plötzlich wird sie von einem Mann gepackt. Artur nimmt seinen ganzen Mut zusammen und schreit: „Lassen Sie die Frau in Ruhe!“ Die Hoffnung, dass ihn jemand hört und etwas unternimmt, gibt er gleich wieder auf.
Schallschutzfenster, dachte ich, irgendein Scheißvertreter hat der ganzen Gasse Schallschutzfenster aufgeschwatzt, und das ist der Erfolg. Der Mann wandte mir, ohne seinen Griff zu lockern, das Gesicht zu. „Hau ab“, rief er, „das geht dich nichts an!“ Ich drohte, die Polizei zu rufen, und näherte mich den beiden langsam. Als ich vor ihnen stand, riss ich an seinem Arm, und ich sah noch, dass er tatsächlich losließ, dann spürte ich, wie sich ein Rammbock in meine Magengrube bohrte und ein Vorschlaghammer mein Gesicht traf, dann war es dunkel.
Erst als Artur wieder zu sich kommt, lehnt in einem der Fenster über ihm eine Frau und fragt, ob sie die Polizei rufen solle. Artur überlegt:
Wenn die Polizei hier erschien, würde ich aufs Revier müssen, und man würde ein Protokoll aufnehmen und mich ins Unfallkrankenhaus bringen, und es wäre ziemlich schwierig gewesen, Rita zu erklären, wie es dazu gekommen war, dass ich in Favoriten in eine Schlägerei verwickelt worden war.
Zu Hause behauptet er, auf dem Heimweg von einem Radfahrer angefahren worden zu sein.
Ein paar Tage später gibt ihm die ebenfalls im Copyshop jobbende Biologie-Studentin Marlene einen Zettel, den eine Frau für ihn abgab. Die Handschrift erkennt er sofort wieder. Der Name eines Wiener Cafés steht darauf, dazu eine Uhrzeit. Er geht hin. Sie heißt Alice, lügt zunächst, sie habe die Hauptrolle in „Die Venusfalle“ gespielt und gibt dann zu, hauptsächlich in der Meinungsforschung zu arbeiten, dabei allerdings die meisten Interviews zu fälschen. Obwohl sie ahnt, dass er verheiratet ist, schlägt sie ihm vor, sie nach Hause zu begleiten und nimmt ihn mit ins Schlafzimmer. Als Artur sie nackt vor sich liegen sieht, ejakuliert er bereits. Alice meint beschwichtigend, in zehn Minuten sei gewiss eine neue Erektion möglich, aber die Ejaculatio praecox bringt Artur zur Besinnung, und Alice kann ihn nicht davon abhalten, dass er sich wieder anzieht.
„Lass mich ein paar Tage darüber nachdenken“, sagte ich. „Kann ich dich anrufen?“
Sie schüttelte den Kopf. „Nächsten Freitag, selbes Café, selbe Uhrzeit. Entweder du kommst oder du kommst nicht. Falls mich das dann noch interessiert, werde ich da sein.“
Artur ärgert sich darüber, dass er nach dieser „Parodie auf einen Ehebruch“ gleich zwei Frauen gegenüber ein schlechtes Gewissen hat. Nachdem er am Freitag stundenlang vergeblich im Café auf Alice gewartet hat, fährt er nach Favoriten. Weil er ihren Nachnamen nicht kennt und nicht weiß, wo er klingeln soll, wartet er, bis ein Betrunkener aus dem Haus kommt und geht dann hinein. Das Stockwerk kennt er vom ersten Besuch. Sie will nicht öffnen.
„Was willst du?“ fragte sie, und es klang wie ein Befehl zu verschwinden.
„Ich habe im Café auf dich gewartet.“
„Und? War ich da?“
„Nein, aber –“
Weil er sich nicht wegschicken lässt, öffnet sie schließlich doch die Türe. Im Schlafzimmer sieht er die Beine des Mannes, der ihn auf der Straße zusammenschlug.
Er lag langgestreckt auf dem Rücken, unter seinem Hinterkopf hatte sich ein dunkler Fleck gebildet. Ich hatte damals noch keine Erfahrung in solchen Dingen und konnte daher nicht entscheiden, ob er tot war. Lebendig jedenfalls sah er nicht aus.
Alice sagt, ihr früherer Liebhaber müsse noch einen Schlüssel gehabt haben, denn er sei bereits vor ihr in der Wohnung gewesen. Vermutlich habe er sich einen Schlüssel nachmachen lassen, bevor er ihren vor einem halben Jahr zurückgab.
„Ich bin nach Hause gekommen, er ist auf dem Bett gesessen, voll mit meinem Wodka. Das einzige, was zu verstehen war, waren seine Beteuerungen, dass er mit dem Saufen aufgehört habe. Ich nehme an, er wollte Geld. Geld und das Video.“
„Was für ein Video?“
„Bambi.“
„Bambi?“
„Vergiss es.“
Ich tat mein Bestes. „Und wie ist er gestorben?“, fragte ich.
„Ich habe ihn angebrüllt.“
„Davon stirbt man nicht.“
Sie habe ihn angebrüllt, erklärt sie, als er sie zu küssen versuchte – angebrüllt und weggestoßen. Und da sei er mit dem Kopf gegen die Bettkante gestoßen.
Glücklicherweise hatte „Arschloch“ – nur so nennen sie ihn – sein Auto gleich vor der Haustür geparkt. Wie einen Betrunkenen nehmen Artur und Alice den Toten in die Mitte und setzen ihn auf den Beifahrersitz seines Wagens. Artur fährt los, und Alice folgt in ihrem R4. In einem Wald bei Weidlingbach lassen sie das Fahrzeug mit der Leiche stehen.
Unvermittelt behauptet Alice, sie habe ihrem Ex den Schädel mit einem Hockeyschläger zertrümmert. Artur glaubt ihr nicht. Bevor sie ihn an einer U-Bahn-Station absetzt, hält sie in einer dunklen Seitenstraße und bläst ihm einen. Zum Dank, sagt sie. Aber er stellt klar, dass es keine Fortsetzung geben soll.
Nachdem Artur sich eine glaubwürdige Alkoholfahne zugelegt hat, kehrt er nach Hause zurück und spielt Rita vor, er sei sturzbetrunken.
Während Rita einige Zeit später an einem Seminar in Oberösterreich teilnimmt, taucht Alice im Copyshop auf und nennt ihn trotz Marlenes Anwesenheit beim Vornamen. Er fehle ihr, klagt sie dann mit abgesenkter Stimme. Sie verabreden sich erneut. Als er in ihrer Wohnung noch einmal nach „Bambi“ fragt, holt sie eine versteckte Videokassette und legt sie in den Rekorder. Die augenscheinlich auf ein Stativ montierte Kamera zeigt ein Sofa. Darauf liegt Alice – nackt. Nachdem Arschloch aus dem Bild gegangen ist, lässt sie sich von einem schwarzen Labrador – „Bambi“ – zwischen den Beinen lecken und dann bespringen. Arschloch habe mit dem Video beabsichtigt, Geld von ihrem Vater in München zu erpressen, erklärt sie.
Als sie ihn später fragt, warum er trotz des abgeschlossenen Studiums nicht als Historiker tätig sei, meint er:
„Karriere macht man mit Nazisachen. Das hätte ich nicht ausgehalten.“
Zur Veranschaulichung erzählt er ihr, dass Heinrich Himmler bei der Vorführung einer neuen Anlage in Auschwitz die schönsten der weiblichen Gefangenen vergasen ließ. Alice behauptet, sie wisse davon, denn eine der ermordeten Jüdinnen sei ihre Großtante gewesen. Artur ist betroffen. Aber Alice lacht und ruft: „Du glaubst wirklich alles!“ Das findet er gar nicht lustig. Über den Holocaust mache man keine Witze, weist er sie zurecht.
Jeden Mittwoch besucht Artur seine 75-jährige Mutter, die seit drei Jahren in einem Seniorenheim bei der Straßenbahnhaltestelle Kühllagerhaus in Vösendorf lebt. Sie war Lehrerin wie Rita, kann ihre Schwiegertochter aber nicht ausstehen. Arturs Vater ist schon lange tot. Er war 14 Jahre älter als seine zweite Frau und fast 50, als Artur zur Welt kam. Im Aufenthaltsraum läuft das Fernsehgerät, und Artur findet es grotesk, dass die Anwesenden keine Miene verziehen, während die Lacher eines fiktiven Publikums eingespielt werden. Kürzlich starb Doris Baranyi, eine der Pflegeschwester, und Arturs Mutter ist überzeugt, dass sie ermordet worden sei, weil sie einiges über Unregelmäßigkeiten im Heim herausgefunden habe. Artur soll ihr ein Gewehr kaufen, mit dem sie auf die lästigen Tauben schießen kann, denn mit ihrer Wasserpistole kann sie die Vögel nicht vertreiben.
Um mehr Zeit für Alice zu haben, sagt Artur seinen nächsten Wochenbesuch im Seniorenheim mit der Begründung ab, er sei krank.
Während eines Spaziergangs merkt er, dass Alice keine Unterwäsche trägt. Ihre Bemerkung, sie verbinde gern das Angenehme mit dem Nützlichen, versteht er erst, als sie in einem Geschäft Pullover anprobiert und Wäsche stiehlt.
Ich betrog meine Frau, belog meine Mutter, leistete Beihilfe zum Diebstahl, schaffte Leichen weg und hatte bei all dem keinen anderen Gedanken, als dass Alice bald wieder mit mir schlafen würde.
Solange Rita sich noch in Oberösterreich aufhält, will Alice unbedingt die Wohnung stehen. Obwohl Artur an diesem Nachmittag den Nachhilfeschüler Athan erwartet, fügt er sich. Bevor der Zwölfjährige klingelt, lässt Alice sich ein Bad ein und legt sich in die Wanne. Während Artur dann mit dem Jungen in der Wohnküche übt, kommt sie nackt herein und grüßt Athan, der sie verwundert anstarrt, mit „hallo, Kleiner“. Sie habe ihre Sachen zum Anziehen vergessen, erklärt sie und kehrt mit der Wäsche ins Bad zurück. Das sei seine Schwester Aphrodite, behauptet Artur, und Athan kommentiert: „Coole Schwester.“
Ein paar Stunden später ruft Rita aus dem Hotel an. Alice streift Arturs Hemd ab, streichelt ihre Brüste, kniet sich nackt vor ihn, öffnet seine Hose und macht sich an seinem Penis zu schaffen. Rita referiert über Koedukation. Dann sagt sie:
„Was ist mit dir, warum atmest du so komisch? Du klingst, als würdest du dir grade einen runterholen.“
Schnell sagt Artur, er sei erkältet und habe gerade geglaubt, niesen zu müssen.
Aus Oberösterreich bringt Rita sündhaft teuren Christbaumschmuck mit. Einen riesigen Christbaum hat sie ebenfalls besorgt, obwohl Weihnachten erst in zwei Wochen ist. Bis dahin werde der Baum bereits nadeln, nörgelt Artur. Widerwillig hilft er beim Aufstellen. Da klingelt es, und er hört Alices Stimme. Sie sei vom Österreichischen Sozialforschungsinstitut und würde gern ein paar Fragen stellen, sagt sie. Nachdem sie mit Rita fertig ist, macht sie mit Artur weiter, ohne aus der Rolle zu fallen. Bevor Alice geht, fragt sie Rita noch, ob sie das WC aufsuchen dürfe – und geht zielsicher zur richtigen Türe. Daraufhin argwöhnt Rita, dass ihr Mann die Frau kenne und diese bereits bei ihm in der Wohnung gewesen sei. Aber er leugnet es.
Bald darauf eröffnet Alice ihrem Liebhaber, sie sei schwanger, und weil sie in der letzten Zeit nur mit ihm geschlafen habe, müsse er der Vater sein. Artur protestiert und weist darauf hin, dass seit ihrem ersten Geschlechtsverkehr erst zehn Tage vergangen seien und sie außerdem versicherte, dass sie verhüte.
„Wie kannst du da wissen, dass du schwanger bist?“
„Ich habe es im Gefühl.“
„Gefühl! Wie wäre es mit einem Schwangerschaftstest?“
„Dazu ist es noch zu früh.“
Unmissverständlich erklärt Artur seiner Geliebten, dass sie abtreiben müsse, falls sie tatsächlich schwanger sei, denn er lasse sich sein Leben nicht ruinieren. Alice erwidert:
„Du zahlst, was zu zahlen ist, und einmal im Monat kommst du uns besuchen. Mehr verlange ich nicht.“
Als Artur nach Hause kommt, eröffnet Rita ihm, dass sie schwanger sei. Er argwöhnt, dass nicht er der Vater ist, sondern beispielsweise Albert, der Ehemann ihrer Freundin Verena, behält seinen Verdacht jedoch für sich.
Am Ende der nächsten Nachhilfestunde richtet Athan einen schönen Gruß an Arturs Schwester aus. „Welche Schwester?“, fragt Rita anschließend, und Artur antwortet, der Junge müsse da etwas durcheinander gebracht haben.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.
Die Heimleitung ruft an: Seiner Mutter geht es schlecht. Er fährt hin, kommt jedoch zu spät. Der Notarzt ist noch da und meint, ein Aneurysma sei die Todesursache gewesen.
Als Artur wieder nach Hause kommt, sieht er erneut Beine auf dem Boden, diesmal jedoch keine Männer-, sondern Frauenbeine: Alice! Und der Christbaum ist umgestürzt. Die Marktforscherin habe geklingelt, berichtet Rita, sie dann beschimpft und behauptet, von Artur schwanger zu sein. Als die Frau mit einem Hockeyschläger auf Rita losging, kam es zum Kampf, und plötzlich stürzte die Angreiferin gegen die Schreibtischkante und brach sich das Genick.
Nach dem ersten Schreck schlägt Artur vor, die Polizei zu rufen. Aber Rita hält ihn davon ab:
Rita starrte mich hasserfüllt an, dann stand sie auf und trat auf mich zu. „Was soll ich sagen?“, wiederholte sie und schlug mir ins Gesicht. „Das Flittchen, das mein Mann geschwängert hat, wollte mich umbringen und ist dabei so unglücklich ausgerutscht.“
Wenn er die Polizei rufe, droht sie, werde sie aussagen, gerade erst nach Hause gekommen zu sein und ihren Mann neben der Leiche vorgefunden zu haben.
„Ich habe ein Ziel, verstehst du? In sieben Monaten werde ich Mutter sein und in vier Jahren Direktorin, und dein Flittchen wird mich nicht daran hindern.“
Um seine tote Geliebte fortzuschaffen, sieht Artur keine andere Möglichkeit, als sie zu zerstückeln. Rita hilft ihm, Plastikbahnen im Bad auszulegen und die Leiche zu entkleiden. Dann fragt sie:
„Kann ich noch irgendwas für dich tun?“
Ich verstand die Frage nicht.
„Ich meine, ob ich irgendwas bringen soll.“
„Nein.“
„Dann lasse ich dich jetzt allein.“
„Was?“
„Ich kann das nicht. Was glaubst du, warum ich mein Medizinstudium nach zwei Semestern aufgegeben habe?“
Zuerst verhüllt Artur Alices Gesicht in einer Plastiktüte. Dann schneidet er ihr mit einem Messer den Kopf ab. Als er die Arme abgetrennt hat, schwitzt er bereits. Erst jetzt fällt ihm auf, dass aus ihrer Vagina ein Tamponfaden hängt. Sie war also doch nicht schwanger!
Es klingelt: Ritas beste Freundin Sylvia mit ihrer Tochter. Mareike habe ihren Vater besucht, sagt Sylvia, deshalb seien sie in der Gegend gewesen und hätten beschlossen, kurz vorbeischauen. Das mit Arturs Mutter sei furchtbar. Ob er da sei und wie es ihm gehe? Rita lügt, er habe sich hingelegt. Bevor die beiden wieder gehen, will das Kind noch ins Klo. Weil Mareike gewohnt ist, sich im Bad neben dem WC die Hände zu waschen, ruft Rita ihr nach, die Hände müsse sie sich diesmal in der Küche waschen, weil der Wasserhahn im Bad kaputt sei. Mareike rüttelt anschließend dennoch an der Badezimmertür und wundert sich, dass abgeschlossen ist. Kurz darauf übergibt Artur sich lautstark ins Waschbecken.
„Artur?“ Wieder wurde an die Tür gehämmert. „Artur, ist alles in Ordnung mit dir?“
„Es geht schon“, presste ich hervor. „Sind die Scheißweiber endlich weg?“
Kurz Stille, dann Sylvias Stimme: „Wir gehen schon, Artur. Ist wirklich alles in Ordnung?“
An diesem Adventssonntag schleppen Rita und Artur noch 14 schwarze Plastiksäcke zum Müllcontainer. Am Mittwochmorgen wird ihn die Müllabfuhr leeren.
Mit dem Schlüsselbund, den er bei der Toten fand, fährt Artur nach Favoriten und durchsucht Alices Wohnung, bis er ihren Autoschlüssel gefunden hat. Er bringt den Wagen nach Haslau-Maria Ellend. Während der Fahrt glaubt er, Arschloch sitze im Fond, habe Alices Kopf bei sich und stecke seinen Penis in den Mund. Endlich kann Artur das Fahrzeug am Donau-Ufer abstellen. Einen Mantel und Schuhe der Toten wirft er direkt am Wasser in den Kies.
Zu Hause erklärt er Rita, er müsse das alles aufschreiben.
Sie zeigte auf das Heft. „Niemand wird das je lesen. Was für einen Sinn hat es also, es aufzuschreiben?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Willst du es nicht lesen?“
„Nein. Mir reicht, was ich weiß.“
„Ich verbrenne es, wenn ich fertig bin.“
Das Telefon klingelt. Polizei! Artur hört Rita sagen:
„Dunkelgrüner R4? In Haslau? Wie ist der Name? Nein, sagt mir nichts. Und Sie sagen, die Brieftasche meines Mannes lag drin?“
Aber das hat Artur sich nur eingebildet. In Wirklichkeit hält Rita ihm den Hörer hin und erklärt, es gehe um seine Mutter. Die Polizei ermittelt, weil schwerwiegende Anschuldigungen gegen die Heimleitung erhoben wurden. Der Aussage einer Mitbewohnerin zufolge, wollte Arturs Mutter Anzeige erstatten. Die Greisin hält es für möglich, dass Arturs Mutter deshalb mundtot gemacht wurde.
An Weihnachten hält Rita es schließlich für ratsam, die Kerzen auszumachen, weil der Baum schon ziemlich trocken ist. Artur ist es egal. Er habe noch ein Geschenk für sie, sagt er und holt aus seiner Manteltasche den Schal, den er Alice schenkte und nach ihrem Tod aus ihrer Wohnung mitnahm.
Ich nahm ihn heraus, wickelte ein Ende zweimal um meine linke Hand und zog am anderen. Gutes Material.
Paul Jandl bezeichnet den Roman „Das Polykrates-Syndrom“ von Antonio Fian als „Tragikomödie der Spießigkeit“ („Die Welt“, 3. April 2014). Besser kann man es nicht auf den Punkt bringen.
Die Geschichte beginnt harmlos. (Auch der Witz wirkt zunächst nicht besonders vielversprechend.) Da bahnt sich eine Dreiecksgeschichte an: Ehefrau – Ehemann – Geliebte. Doch unversehens gibt es Tote, und wir geraten in eine sehr unterhaltsame Groteske: Sex and Crime in einer ebenso bizarren wie originellen Melange. Bei den Witzen greift Antonio Fian mitunter daneben und erwischt Zoten bzw. Kalauer.
Besonders makaber ist folgende in allen Einzelheiten geschilderte Szene: Der Protagonist zerstückelt im Badezimmer die nackte Leiche einer schönen jungen Frau, während in der Wohnküche der Concentus Musicus unter Leitung von Nikolaus Harnoncourt mit dem Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach zu hören ist.
Immer wieder wendet sich der Ich-Erzähler in „Das Polykrates-Syndrom“ an die Leserin bzw. den Leser.
Denken Sie jetzt nicht […]
Sagen Sie nicht, Sie hätten etwas anderes gedacht in diesem Augenblick, sagen Sie nicht, Sie hätten ohne zu zögern eingegriffen.
Haben Sie gehört?
Ich nehme nicht an, dass Sie die Eichhörnchenstellung kennen. Ich hatte sie auch nicht gekannt.
Übrigens: Auf eine Beschreibung der Eichhörnchenstellung lässt uns Antonio Fian vergeblich warten.
Antonio Fian wurde 1956 in Klagenfurt geboren, wuchs in Kärnten auf und zog später nach Wien. 1992 veröffentlichte er seinen Debütroman: „Schratt“. Mit „Das Polykrates-Syndrom“ schaffte er es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2014.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Textauszüge: © Literaturverlag Droschl