Jorge Edwards : Faustino

Faustino
Originalausgabe: El anfitrión Planeta, Santiago de Chile 1987 Faustino Übersetzung: Sabine Giersberg Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2008 ISBN 978-3-8031-3217-8, 188 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der chilenische Kommunist Faustino Joaquín Piedrabuena Ramírez lebt seit dem blutigen Militärputsch gegen Salvador Allende in Ostberlin im Exil. Bei einem Ausflug nach Westberlin lernt er einen geheimnisvollen Mann namens Apolinario Canales kennen, der ihn schließlich mit einem Privathubschrauber nach Chile bringt und ihm einen Vertrag anbietet, mit dem Faustino auf seine Vergangenheit verzichten würde ...
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Kritik

"Faustino" ist eine witzige Parodie von Goethes "Faust". Statt eines Theaterstücks hat Jorge Edwards allerdings einen unterhaltsamen, skurrilen Roman geschrieben, eine Art surrealistischen Agententhriller.
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Faustino Joaquín Piedrabuena Ramírez wurde in der chilenischen Provinzstadt Talca geboren und wuchs in der 250 Kilometer weiter nördlich gelegenen Metropole Santiago de Chile auf. Nach dem Jurastudium betätigte er sich als Kunstkritiker und gab Kulturbeilagen heraus. In dem linken Wahlbündnis Unidad Popular, das 1970 Salvador Allende ins Amt des Staatspräsidenten brachte, eckte der Kommunist Faustino durch eigenwillige Meinungsäußerungen an. Seine Ehe mit María Eduvigis scheiterte; auch mit seiner 1961 geborenen Tochter Asunta hat Faustino seit mehr als zwei Jahren keinen Kontakt mehr. Nach dem blutigen Putsch gegen Salvador Allende am 11. September 1973 flüchtete er in die israelische Botschaft in Santiago de Chile und von dort in einem Lieferwagen versteckt in die italienische Botschaft. Über Rom gelangte Faustino nach Ostberlin, wo er nun im Exil lebt.

Mit seinem Jugend- und Parteifreund Norberto („Chico“) Fuenzalida, der ebenfalls nach Ostberlin emigrierte, unternimmt er hin und wieder einen Ausflug nach Westberlin. Während Faustino einmal in einem Straßencafé am Kurfürstendamm auf Chico wartet, der einen politischen Auftrag zu erledigen hat, fällt ihm ein Mann auf, den er aus Chile zu kennen glaubt.

[…] sah ich aus den Augenwinkeln bereits einen Mann mit brauner Haut, einem Hut mit breiter Krempe, riesigen schwarz-weißen Schuhen, schwarzer Hose, weißem Jackett und türkisfarbenem Hemd mit langem, spitz auslaufendem Kragen. Er trug mehrere Metallketten auf der behaarten Brust und eine Stahluhr am Handgelenk, übersät mit Uhrzeigern und Zifferblättern in verschiedenen Farben und Größen. (Seite 14)

Der Fremde spricht Faustino an. Er heiße Apolinario Canales, erklärt er. In der Ära der Unidad Popular war er Inspekteur in einer Haushaltsgerätefabrik in Chile und studierte schließlich Ingenieurwissenschaften. 1975 verließ er Chile. Bevor Chico zurückkommt, wird Apolinario von einer ebenso auffallend gekleideten Frau abgeholt.

Kurz darauf erhält Faustino einen Anruf von Apolinario, der ihn für einen Tag nach Westberlin einlädt. Ohne Chico etwas von dem neuen Bekannten zu erzählen, fährt Faustino zu der U-Bahn-Station, die als Treffpunkt vereinbart wurde. Apolinario nimmt ihn zunächst mit in die Lebensmittelabteilung eines Kaufhauses, eine „Kathedrale der Leckerbissen“ (Seite 27), wo sie Austern schlürfen.

Was hätte Chico dazu gesagt! Mit Sicherheit hätte er von der Konsumgesellschaft gesprochen, vom Hunger in Indien, in Äthiopien, in Biafra, in den Dörfern aus Santiago. Dieser Chico war ein Wurm in meinem Bewusstsein! Ein Wurm, der nicht müde wurde, mich innerlich zu zerschlagen! (Seite 28)

In einer unterirdischen Passage gehen sie weiter und betreten ein Edelbordell, in dem Apolinario seinen Begleiter mit einem Mädchen in Asuntas Alter bekannt macht, das sich Margit nennt. Apolinario lässt Faustino und Margit allein. Am nächsten Morgen folgt die Ernüchterung.

Ich stand auf, betreten und nackt, erschauderte, als ich auf die kalten Dielen trat, und schloss das Fenster. In Windeseile zog ich mich an, und bevor ich das Zimmer verließ, warf ich noch einen Blick auf das schnarchende Bündel im Bett. Wo war das Mädchen mit der milchigen Haut geblieben? Ich ging voller Ekel und Scham hinunter, ich zitterte und wollte nichts mehr von dem Mädchen oder der Person, die es ersetzt hatte, wissen. (Seite 35)

Apolinario erwartet ihn und führt ihn zu einem still gelegten Bahnhof. Sie kriechen durch einen Stacheldrahtzaun, und Apolinario fordert Faustino auf, in den dort abgestellten Privathubschrauber zu klettern, während er sich den Pilotensitz zurechtrückt und die Maschine startet.

Als Faustino aufwacht und aus dem Fenster schaut, erkennt er zu seiner Verblüffung die Anden. Sie landen in einer Irrenanstalt in den Bergen unweit von Santiago de Chile. Unter den Insassen trifft Faustino einen alten Freund wieder: den Dichter Jorge.

Apolinario reist mit Faustino quer durchs Land. Er nimmt seinen Gast mit in die exklusivsten Clubs, hat überall Zutritt und wird offenbar von allen respektiert. Faustino fällt auch auf, dass Apolinario Kreuze meidet, und er beobachtet, wie sich ein Pferd aufbäumt, als sie in dessen Nähe kommen.

Apolinario stellt Faustino schließlich eine junge Frau vor, Margarita de la Sierra, deren Stimme diesen an seine erste Liebe erinnert.

„Genießen Sie es!“, sagte er [Apolinario Canales]. „Seien Sie nicht dumm. Wir treffen uns hier zum Frühstück …“
„Aber sie scheint ein anständiges Mädchen zu sein …“, murmelte ich. „Ich kann nicht glauben, dass …“
„ihr Kommunisten seid ein halbes Jahrhundert zurück“, ereiferte sich Apolinario leise. „Natürlich ist sie ein anständiges Mädchen, aus guter Familie, das die besten Schulen besucht hat! Aber die anständigen Mädchen sind heutzutrage nicht mehr wie die, die Sie damals in Talca bei der Ersten Kommunion getroffen haben.“ (Seite 76)

Sobald Apolinario sie allein gelassen hat, zieht Margarita sich aus. Faustino erschrickt und läuft davon.

[…] und ich hörte noch, dass sie, die feine Margarita de la Sierra, heulte, fluchte, mich beleidigte wie ein altes Fischweib. (Seite 80)

Am nächsten Tat erklärt Apolinario, er habe seit zwei oder drei Jahren nach einem geeigneten Mann gesucht, der bereit sei, das Land aus einer tiefen Krise zu führen. Faustino sei genau der Richtige. Deshalb biete er ihm einen entsprechenden Vertrag an. Den Entwurf hat er schon dabei, und für den nächsten Morgen ist ein Notartermin vereinbart.

Nach diesem Vertrag behalte ich Ihre Vergangenheit. Warum? Weil ich es so will. Weil ich unter vielen Kuriositäten Vergangenheiten sammle. Wussten Sie das nicht? Na schön, dieses Detail ist in der Tat nicht sonderlich bekannt. Das gemeine Volk denkt immer an die Seele, an den Verkauf der Seele, aber die ist eine Entelechie und nutzt nicht viel, wenn es ums Konkrete geht. Die Vergangenheiten in all ihrer Verschiedenheit, ihrer gelegentlichen Schönheit, ihrer Traurigkeit, ihrer Korruption, mit ihren Schandflecken und ihren glanzvollen Momenten … Denken Sie ein wenig nach. Nun gut, von dem Augenblick an, in dem Sie den Formalitäten entsprechend Ihre Unterschrift unter den Vertrag setzen, wird Ihre echte Vergangenheit Teil meiner privaten Sammlung […] Als Gegenleistung entwickle und verschaffe ich Ihnen ad hoc eine Vergangenheit, die mit einem Federstrich all Ihre Probleme und, sagen wir mal, Ihre Begrenzungen lösen wird. (Seite 108)

Faustino hat jedoch keine Lust, auf seine Vergangenheit zu verzichten, zumal er diese während der gesamten Laufzeit des auf unbestimmte Zeit zu schließenden Vertrags nicht zurückbekäme. Außerdem überlegt Faustino, ob man ihn am Jüngsten Tag nach seiner ursprünglichen oder seiner neuen Vergangenheit richten würde. Dass ein Kommunist und Atheist an den Jüngsten Tag glaubt, wundert Apolinario.

„Jetzt lassen Sie doch diese Haarspaltereien!“, kreischt Faustino, außer sich. „Es wird immer ein Urteil über die Menschen gesprochen, ob von Gott, von den Menschen, von der Geschichte, von wem auch immer. Und wenn dieses Urteil nicht auf der Vergangenheit des Einzelnen basiert, worauf zum Teufel dann?“ (Seite 113f)

Im Notariat bemerkt Faustino ein weißes Tuch, Watte, ein Fläschchen Wundalkohol und Instrumente zur Blutentnahme. Soll er den Vertrag etwa mit Blut unterschreiben? Faustino rennt davon.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

In seiner Verzweiflung ruft er bei seiner Ex-Frau an. Seine Tochter Asunta meldet sich und freut sich, als sie hört, dass ihr Vater in Santiago de Chile ist. Ohne ihrer Mutter etwas zu verraten, trifft sie sich mit ihm in einer Bar. Faustino benötigt einen Pass und ein Flugticket für die Rückreise nach Ostberlin. Asunta, die inzwischen auch zu den Aktivisten der seit 1973 verbotenen Partido Comunista de Chile gehört und annimmt, dass ihr Vater ins Land kam, um im Auftrag der Partei eine gefährliche Mission durchzuführen, führt ein paar Telefongespräche, bringt ihn dann in eine leer stehende Wohnung und von dort nach ein paar Tagen in ein Hotel. Das soll er nur verlassen, um Passfotos machen zu lassen.

Ein vor dem Hoteleingang herumstreunender Hund mit Rubinaugen hängt sich knurrend an Faustino, beißt ihn in die Wade und zerreißt die teure Hose, die Apolinario ihm gekauft hatte.

Während Faustino auf den Pass wartet, wird ein Anschlag auf den Diktator verübt. Der überlebt das Attentat und verhängt den Ausnahmezustand.

Endlich erhält Faustino einen Pass und ein Flugticket auf den Namen Demetrio Aguilera Sáez. Als Berufsbezeichnung ist „Rechtsanwalt“ eingetragen, und der Überbringer meint:

„Das ist eine gute Tarnung. Rechtsanwalte gibt es wie Sand am Meer.“ (Seite 151)

Bei der Ankunft in Berlin-Tegel überkommt Faustino alias Demetrio Aguilera Sáez ein Gefühl der Freiheit. Den Beamten, die ihn bei der Einreise nach Ostberlin kontrollieren, fällt auf, dass er fast zwei Wochen fort war, obwohl er nur ein Tagesvisum hatte. Faustino behauptet, er sei entführt worden und möchte, dass man seinen Freund Chico Fuenzalida anruft. Der kommt daraufhin ebenso wie der Psychologe Vladimir Valderrama, der ebenfalls zu Faustinos Freundeskreis in Ostberlin gehört.

Faustino hat zwar einen Pass bei sich, den ihm offenbar die Partido Comunista de Chile beschafft hatte, und der bei der Einreise nach Westberlin ordnungsgemäß abgestempelt wurde, aber niemand glaubt ihm, dass er ohne Zwischenlandung in einem Hubschrauber von Deutschland nach Chile gebracht worden sei. Hat er sich alles eingebildet? Faustino wünscht jetzt, er hätte den Vertrag mit Apolinario Canales unterschrieben. Valderrama fragt ihn schließlich, ob Demetrio Aguilera Sáez sein richtiger Name sei.

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Wie der Titel schon andeutet, handelt es sich bei „Faustino“ um eine witzige Parodie das Klassikers „Faust“ von Johann Wolfgang von Goethe. Statt eines Theaterstücks hat Jorge Edwards allerdings einen Roman geschrieben, eine Art Agententhriller, der einige Jahre nach dem blutigen Militärputsch von General Augusto Pinochet (1915 – 2006) gegen den chilenischen Staatspräsidenten Salvador Allende (1908 – 1973) am 11. September 1973 in Berlin und Chile spielt. Jorge Edwards erzählt eine skurrile, surrealistische und unterhaltsame Geschichte. Dabei wechselt er zwischen der ersten, zweiten und dritten Person Singular.

[…] Jorge Edwards […] nutzt die literarische Folie für witzige Überblendungen, bringt durch Schauplatzwechsel, Perspektivbrüche und schnittige Dialoge Schwung in die Sache und liefert eine spitzfindige Polit-Satire seines Heimatlandes. Sein verschmitzter Faust-Verschnitt, in dem an lasziven Gretchenkopien und teuflischen Hündchen nicht gespart wird, entstand vor über zwanzig Jahren und wirkt ähnlich nostalgisch wie alte Agentenfilme.
(Maike Albath, Süddeutsche Zeitung, 10. Juli 2008)

Jorge Edwards wurde 1931 in Santiago de Chile geboren. Er studierte in Chile und Princeton Jura und Philosophie, bevor er sein Land als Diplomat in Brüssel, Havanna, Lima und Paris vertrat. Nach der Ermordung von Salvador Allende am 11. September 1973 ging er – wie der Protagonist Faustino – für fünf Jahre ins Exil, allerdings nicht nach Ostberlin, sondern nach Spanien.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2008
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.