Günter de Bruyn : Zwischenbilanz

Zwischenbilanz
Zwischenbilanz Eine Jugend in Berlin Erstausgabe: S. Fischer Verlag, Frankfurt/M 1992
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Günter de Bruyn wurde 1926 in Berlin geboren. Ein halbes Jahr vor Kriegsende schickte man ihn zu einer Offiziersanwärter-Ausbildung. 1946 bis 1949 arbeitete er als Dorfschullehrer, 1949 bis 1961 als Bibliothekar in Berlin (Ost). Dann ließ er sich als freier Schriftsteller nieder. In "Zwischenbilanz" erzählt er über seine Erlebnisse und die Zeit bis 1949.
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Kritik

Wenn der 60-Jährige sich an seine Kindheit und Jugend erinnert, versucht er nicht, sich zum Helden zu stilisieren oder die Erlebnisse zu dramatisieren, sondern er erzählt schlicht und besonnen, leise und mit feinem Humor. Unaufdringlich kommt er auch auf den Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg und die Gründung der DDR zu sprechen.
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Mit achtzig gedenke ich, Bilanz über mein Leben zu ziehen; die Zwischenbilanz, die ich mit sechzig beginne, soll eine Vorübung sein: ein Training im Ich-Sagen, im Auskunftgeben ohne Verhüllung durch Fiktion.

Günter de Bruyn berichtet zunächst über seine Herkunft: den aus einer bayrischen Schauspielerfamilie stammenden katholischen Vater Carl und die 1912 – ein Jahr nach der Hochzeit – vom protestantischen zum katholischen Glauben konvertierte Mutter Jenny, die Tochter eines preußischen Briefträgers. Günter de Bruyn wurde am 1. November 1926 geboren. Seine Schwester Isolde hatte 1912 nur eine halbe Stunde lang gelebt, Karlheinz war Jahrgang 1914, Gisela fünf Jahre jünger als Karlheinz, und Wolfgang kam 1921 zur Welt. Die Familie wohnte in einem Vorort von Berlin.

Jenes Pflichtbewusstsein, das uns auch in schlechten Lagen zum Aushalten zwang, haben wir wohl in erster Linie unserer preußischen Mutter zu verdanken, die ihre Grundsätze zwar nie klar formulierte, uns aber ein Beispiel gab. Was sein muss, muss sein! Jammern nützt nichts! oder Hilft ja nichts! Mehr als diese Redensarten bekamen wir von ihr darüber kaum zu hören, aber täglich lebte sie uns Klag- und Selbstlosigkeit vor. Pflichterfüllung, gleichgültig wo, wofür und warum, hatte ihren Wert in sich selbst; jedes Aufgeben war Niederlage, das die Selbstachtung kostete. Und deren Verlust war schlimmer als die Verachtung, die von anderen kam.

Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler Reichskanzler. Im gleichen Jahr kam Günter de Bruyn in die Schule.

Der Ursprung alles Schlimmen in der Schule war der Zwang; aus dem entstand die Langeweile, und aus dieser entstanden Unvorsichtigkeiten, die zu Strafen führten, also zu Entwürdigung und Schmerz.

… war nie unerlaubtes Sprechen Grund für meine Strafen, sondern, unter der Bezeichnung Unaufmerksamkeit, geistige Beweglichkeit, die sich auf Fibeltexte nicht fixieren ließ.

Günter de Bruyn erinnert sich an den Hausarzt der Familie:

Dr. Jakoby, der immer den Grundsatz befolgte, dass ein Kranker nicht in die Arztpraxis, sondern ins Bett gehöre, war unser Hausarzt im besten, altertümlichen Sinn. … Die beste Medizin, die er hatte, war die Geduld, mit der er zuhören konnte; und die Zuversicht, die er immer zeigte, begründete er mit dem Satz: Die Natur hilft sich selbst. Von Chemie hielt er wenig, viel aber von alten Hausmitteln, sodass wir Zuckerwasser als Schlafmittel tranken und alle Gebrechen mit Umschlägen heilten, mal trocken, mal feucht, mal heiß, mal eiskalt.

Als der Schuljunge einmal Kastanien mit einem Messer zerteilte, schnitt er sich in die Fingerkuppe und wurde mit einem Notverband zu Dr. Jakoby geschickt. Da stellten sich dem scheuen Jungen zwei SA-Männer breitbeinig in den Weg und zeigten ihm, wo Dr. Lange zu finden sei, ein „deutscher Arzt“, kein jüdischer wie Dr. Jakoby. Günter lief davon und kehrte mit seiner vorübergehend bei seiner Familie wohnenden Tante Friedel zurück. Schon von weitem bedrohte sie die beiden SA-Männer.

Wenn das Kind hier verblute, bringe sie sie auf die Anklagebank! Als einzige in der Familie konnte Friedel sichtbaren Zorn entwickeln; sie konnte auch Schimpfwörter gebrauchen, die zwar nur zur Hälfte verstanden wurden, da sie teils antiquiert, teils mundartlich waren, aber doch Wirkung hatten, weil die sie begleitende Mimik und Gestik eindeutig war. Die Uniformierten machten keinen Versuch, uns aufzuhalten, sagten zwar wieder etwas von Deutschen und Juden, sahen dabei aber kleinlaut aus. Friedel sagte: Nur ein depperter Deutscher gehe zu schlechten Ärzten.

Als am 1. September 1939 der Krieg begann, war der 12-jährige Schüler enttäuscht, weil der Unterricht nicht ausfiel.

Der Krieg, der im Radio stattfand, schien unser Alltagsleben nicht zu berühren.

Im Rahmen der Kinderlandverschickung kam Günter de Bruyn Ende 1940 nach Kattowitz. Im Februar 1941 durfte er für eine Woche nach Hause, weil sein Vater gestorben war.

Als die Witwe am 24. Dezember 1941 vormittags mit Karlheinz, Gisela und Günter vom Besuch des Grabes nach Hause kam, lag Post für sie im Briefkasten. Zuerst dachte sie, der Brief stamme von Wolfgang, der an der Front in Russland kämpfte, doch als Absender stand ein Oberleutnant auf dem Kuvert.

Gisela und ich saßen auf dem Sofa, Karlheinz wärmte sich die Hände am Kachelofen, unsere Mutter stand in der Tür, den Brief in der Hand, und erzählte uns lachend, von wem er, ihrer Vermutung nach, kam. Jetzt muss ich es euch ja beichten: eure Mama hat nämlich kürzlich eine Bekanntschaft gemacht.

Sie traf sich einmal im Monat mit ihren Schwestern Else, Frieda und Greta in einem Lokal. Im Sommer hatten sich einige Soldaten in ihre Runde gedrängt; einer von ihnen sei besonders an ihr interessiert gewesen. Sie habe ihm zwar weder Namen noch Adresse gegeben, aber die hatte er vielleicht von Else erfahren. Erwartungsvoll öffnete sie den Brief. Es handelte sich um die Benachrichtigung, dass Wolfgang gefallen war.

Der 15-jährige Günter verliebte sich in das Foto einer Gleichaltrigen, deren Vorname ebenfalls mit „G“ anfing. Als er G. im Sommer 1942 persönlich kennen lernte, stellte er entsetzt fest, dass sie unaufhörlich Plattheiten von sich gab und Schlager trällerte, aber er hielt an seiner Liebe jahrelang fest.

Kurz darauf, Anfang Juli 1942, schickte man ihn nach Pommern zur Erntehilfe.

Im Februar 1943 wurde seine Schulklasse zum Dienst bei der Flugabwehr abkommandiert. Frühmorgens am 28. Dezember musste er beim Spieß antreten, der ihm einen Urlaubsschein für zwölf Stunden aushändigte. Gisela hatte einen seiner Vorgesetzten angerufen und etwas von Luftminen und Verschüttung gesagt.

Auf dem Heimweg begegnete er einem US-Piloten, dessen Maschine offenbar abgeschossen worden war und der sich in Gefangenschaft begeben wollte. Goebbels drohte, dass die wütende Bevölkerung jeden alliierten Piloten auf der Stelle erschlagen würde, aber „der verordnete Hass, wenn er überhaupt existierte, versagte bei der Begegnung mit dem einzelnen Menschen“. Neugierige umringten Günter und den Piloten und rieten dem Amerikaner, sich beim Stationsvorsteher der S-Bahnstation zu melden.

Von dem Mietshaus, in dem Jenny de Bruyn wohnte, stand wenig mehr als die Fassade. Günters Mutter und seine Schwester hatten im Luftschutzkeller überlebt und bis zum Morgen Tote und Verwundete weggetragen. Gisela witzelte: „Hoffentlich hast du auch deinen Hausschlüssel da.“ Während Günter in die Kaserne und Gisela in ein Internat für angehende Kindergärtnerinnen zurückkehrten, zog ihre obdachlose Mutter in ihre Gartenlaube in Zernsdorf.

Anfang 1944 kam der 17-Jährige zum Arbeitsdienst nach Ostpreußen. Dort brach er beim Latrinenreinigen mit einer Lungen- und Rippenfellentzündung zusammen.

Während des dreiwöchigen Genesungsurlaubes im Sommer 1944 lernte er Ilse kennen, eine kesse Berlinerin („Du kennst Hölderlin? Klasse!!! Aber kennst du auch Brecht?“), die trotz des Risikos einer Denunziation keinen Hehl aus ihrer ablehnenden Haltung gegenüber Hitler und dem Nationalsozialismus machte. Günters Interesse an ihrer Person missdeutend nahm sie an, er engagiere sich wie sie für den Sozialismus.

Einmal begleitete er sie und ihre Gesinnungsgenossen zum Baden.

Mein Erschrecken war mir anzumerken gewesen, als die Wochenendwandergruppe mir in der halbvertrockneten Kiefernschonung, hinter der man eher eine Sandwüste als einen See hatte vermuten können, gestanden hatte, dass man am Ton-See nicht nur gegen den Krieg und die Nazis, sondern auch gegen Badebekleidung war …
So lang wie dieser Sommertag ist mir selten einer geworden. Am nächsten Tag war ich krank, weil ich zu oft und zu lange das eiskalte Wasser der ehemaligen Tongrube als Sichtschutz benutzt und an Land meist in sitzender Stellung verharrt hatte …
Wäre ich zur Ehrlichkeit fähig gewesen, hätte ich ihr ein Loblied auf menschliche Kleidung singen oder ihr meine Enttäuschung über den Anblick weiblicher Körper gestehen müssen. Denn meine Vorstellung von diesen hatte sich an klassischen Kunstwerken gebildet, und denen kam die Natur leider nicht nach.

Nach dem Urlaub musste er zurück ins Arbeitsdienstlager. Für die Front war er wegen seiner schwachen Konstitution und der gerade erst überstandenen Lungenentzündung untauglich. Obwohl die Ausbilder von ihm behaupteten, er „könne eine MPi nicht von einer Klobürste unterscheiden“, wurde er ein halbes Jahr vor Kriegsende auf einen Kurs für Offiziersbewerber geschickt.

Einsam zu sein, doch nie allein sein zu können, machte das Kasernenleben so unerträglich.

Die Versuche, mir das Fahren eines Panzerwagens beizubringen, machte man in Wriezen, einem am Rande des Oderbruchs gelegenen Landstädtchen, das durch meine Fahrkünste lediglich einen Laternenpfahl und mehrere Bordsteinkanten einbüßte, ein halbes Jahr später aber, da es zur Festung erklärt und verteidigt wurde, völlig in Trümmer fiel.

Anfang April 1945 – kurz bevor die Rote Armee mit der Eroberung Berlins begann – geriet er in einen russischen Angriff. Die Gegner feuerten kleinkalibrige Granaten aus tragbaren Werfern. Die Sprengkörper rissen keine Krater; ihre Splitter zischten dicht über den Boden. Deshalb wurden die meisten Verletzten in die Beine getroffen.

Einige versuchten, kriechend weiterzukommen. Einer flehte mich an, ihn doch mitzunehmen. Aber da ihm beide Unterschenkel zerfetzt waren, konnte ich ihn nur schleifen, und das ertrug er nicht.

Günter de Bruyn warf sich zu Boden und drückte sein Gesicht in den Sand. Da explodierte eine Granate dicht neben ihm. Ein Splitter durchschlug seinen Stahlhelm und blieb im Schädelknochen stecken. Als er dem Sanitäter Namen und Einheit angeben wollte, brachte er nur ein Lallen hervor. Er beruhigte sich, die Sprachstörung sei wohl auf den Schock zurückzuführen und nur vorübergehend. Mit einem Hirnschaden würde er nicht merken, dass er lallte. Sicherheitshalber prüfte er sein Gedächtnis, fragte sich Geburtsjahre von Klassikern ab, Geschichtsdaten und Hadschi Halef Omars vollständigen Namen. Doch als er Papier und Bleistift erhielt, merkte er, dass er die rechte Hand kaum bewegen konnte und es ihm – obwohl er zu lesen imstande war – nicht gelang, aus der Vielzahl der Buchstaben die herauszufinden, die er für das Schreiben eines Wortes benötigt hätte.

Durch einen betrunkenen SS-Mann, der an Hitlers Geburtstag, am 20. April 1945, von Bordellbesuchen in Frankreich und über die Erschießung von splitternackten Jüdinnen hinter der Ostfront schwadronierte, erfuhr Günter de Bruyn vom Holocaust.

Sein Kopf war noch dick verbunden, als er am 8. Mai 1945 wegen eines Abzesss an den Mandeln nochmals operiert werden musste.

Am nächsten Tag hieß es, Gehfähige müssten die Stadt verlassen. Ich hatte fünf Wochen im Bett zugebracht und seit fünf Tagen nichts mehr gegessen, und doch trugen die Beine mich noch.

Ich hatte den Staat überlebt, der bisher mein Schicksal bestimmt hatte, und stand nun außerhalb jeglicher Ordnung, nur noch mir selbst und meiner Sehnsucht verpflichtet, die mich nach Hause zog.

Drei Monate war er unterwegs, bis er im Juli 1945 zu seiner Mutter in die Gartenlaube kam.

Im Oktober 1945 setzte er den Besuch der Oberschule fort, war aber zwei Jahre älter als seine Klassenkameraden.

Bei der ersten Gelegenheit fuhr er zu G. Weil ihr Vater die Herrschaft der Nationalsozialisten stets gutgeheißen hatte, erwartete Günter de Bruyn,

… dort eine Familie zu finden, die über die deutsche Niederlage und den Tod des geliebten Führers verzweifelt war. Ich hatte gehofft, dort als ein Tröster, der es schon immer besser gewusst hatte, auftreten zu können, doch bestand dafür, da niemand von Trauer oder Schuldbewusstsein bewegt war, durchaus kein Bedarf. Die völkische Bibliothek im Herrenzimmer war stark gelichtet; der Irrglaube der letzten zwölf Jahre völlig vergessen; es gab nur die vorwurfsvoll vorgebrachte Erkenntnis, betrogen worden zu sein.

Weil G. gerade von ihrem Geliebten verlassen worden war, kam ihr Günters Anhänglichkeit gelegen und sie besiegte seine Schüchternheit, indem sie ihn freudig umarmte und küsste. Obwohl er immer davon geträumt hatte, stellte er verwundert fest, dass er keine Glücksgefühle verspürte. Es war das Ende seiner langjährigen Liebe.

Kurz darauf verführte ihn eine vier oder fünf Jahre ältere Lehrerin, die Mutter einer dreijährigen Tochter, die von ihrem Mann seit einem Jahr nichts mehr gehört hatte.

Um Lehrer werden zu können, musste sich Günter de Bruyn 1946 zu einem dreijährigen Schuldienst verpflichten. Weil in seiner Personalakte stand, dass er sich nicht ins Kollektiv eingeordnet, das Fahnentragen verweigert und die falsche Zeitung gelesen hatte, durfte er keine eigenen Wünsche äußern, sondern wurde in das Dorf Garlitz in Brandenburg geschickt, das noch nicht einmal einen Bahnanschluss hatte. Der Lehrer, der hier seit den Zwanzigerjahren unterrichtet hatte, war in der NSDAP gewesen und musste deshalb abgelöst werden – eine Entscheidung, die niemand im Dorf akzeptierte.

Das idyllische Dorf, in dem von Sonnenaufgang bis in die Nacht hinein hart gearbeitet wurde und der sonntägliche Kirchenbesuch für die meisten noch zu den selbstverständlichen Pflichten gehörte, hätte einem Skandalchronisten Stoff in Hülle und Fülle geliefert … Da gab es den Bauern, der seine Frau des Nachts in die Dachkammer verbannte, weil er das Schlafzimmer mit zwei sich ständig zankenen Schwestern aus Ostpreußen teilte … Es gab Inzest, und es gab Ehebrüche …, und es gab den Fall eines zwölfjährigen Waisenmädchens, das seinem alten Onkel den Haushalt führte und mit dreizehn Jahren schon schwanger war.

Günter de Bruyn wurde herumgestoßen, wenn es darum ging, wer ihn verpflegen sollte, bis „Muttel Kühn“ sich seiner annahm. Sie tat es nicht eigennützig, sondern brachte ihre 19-jährige Tochter Jutta mit dem fast gleichaltrigen neuen Lehrer zusammen – und in seiner Naivität willigte dieser in die Heirat ein. Der überstürzt anberaumte Hochzeitstag war „ein Leidenstag voller Fremdbestimmung … Von morgens bis abends musste ich mich den Konventionen fügen …“

Am 1. Oktober 1949 begann Günter de Bruyn eine Bibliothekarsausbildung in Berlin.

Hitler regierte ziemlich exakt meine zwölfjährige Schulzeit hindurch. Jetzt begann mein Berufs- und Mannesalter mit dem Beginn des östlichen deutschen Staates, der zu der Zeit, in der ich in den Vorruhestand hätte gehen können, sein Ende fand.

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Max Frisch schrieb mit 64 Jahren die autobiografische Erzählung „Montauk“. Etwa im gleichen Alter, mit 60, wechselte auch Günter de Bruyn von der fiktiven zur autobiografischen Prosa: „Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin“.

Dabei ist seine Lebensgeschichte einigermaßen trivial und er versucht auch gar nicht, sich zum Helden zu stilisieren oder auch nur seine Schwächen zu kaschieren. Das Besondere dieser Erinnerungen ist der zeitgeschichtliche Kontext, denn Günter de Bruyn kommt immer wieder auf die politische Entwicklung zu sprechen. Dabei gibt er zu, das Politische habe für ihn nicht im Vordergrund gestanden – das Ausbleiben eines ersehnten Liebesbriefes sei für ihn entscheidender gewesen als die Meldungen von der Front –, und er setzt auch keineswegs zu einer zeitkritischen Auseinandersetzung an. Aber es gelingt ihm, das Geschehen durch einige Bilder zu veranschaulichen. Prägnante kleine Szenen (Beispiel) verdeutlichen den Schrecken des Krieges eindrucksvoller und einprägsamer als ausführliche Beschreibungen und Dramatisierungen.

„Bewundenswert auch de Bruyns Fähigkeit, alles was er vor uns ausbreitet, in geschlossenen Szenen und kleinen Episoden aufzulösen: Letztlich ist diese Autobiografie eine glänzend komponierte Folge von Miniaturen.“ (Marcel Reich-Ranicki)

Günter de Bruyn erzählt in „Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin“ konservativ, schlicht und besonnen, leise, unaufdringlich und ohne aufzubauschen. Fein wie seine Sprache ist auch sein Humor.

Über den Nationalsozialismus schreibt er:

Natürlich waren wir alle, die wir 1933 Lesen und Schreiben gelernt hatten, von der herrschenden Ideologie infiziert worden, und zwar weniger vom Germanenkult und vom Antisemitismus als von der schon seit wilhelminischen Zeiten tradierten „Deutschen Sendung“ und dem „Soldatischen Geist“. Von der Welt isoliert, dumm gehalten und mit Vorurteilen beladen, waren wir als williges Kanonenfutter aufgewachsen; aber fanatische Nazis waren wir wider Erwarten nicht geworden. Was die älteren Jahrgänge betört und begeistert hatte: das Ordnungschaffen im Inneren und das Kraftzeigen nach außen, die Sanierung der Wirtschaft und die Pracht der Fahnen und Aufmärsche, war uns selbstverständlich gewesen, das einst als erhebend empfundene Ritual lästige Pflicht. Die Kampflieder hatten das Kämpferische für uns verloren, und die Führerreden, die dauernd gehört werden mussten, ödeten uns an. Den Älteren war Hitler die Alternative zur Weltwirtschaftskrise und zu den Folgen des Versailler Vertrags gewesen; uns war er kein Retter mehr, sondern nur noch alltägliche Autorität. Die Aura, die ihn für die Masse der Deutschen umgeben hatte, begann zu verlöschen, als wir zu denken begannen.

Der Nationalsozialismus machte ihn misstrauisch gegen Ideologien und resistent auch gegenüber der Doktrin des neuen ostdeutschen Staates:

Denn formal und methodisch waren die beiden Ideologie-Antipoden sich ähnlich. Fahnen und Marschkolonnen, jubelnde Massen und stereotype Parolen, die Perfidie, Zwang als Freiwilligkeit auszugeben, und er erneute Vergottung eines weisen, allmächtigen Führers …

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002
Textauszüge: © S. Fischer Verlag

Nationalsozialismus

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.