Margaret Atwood : Der Report der Magd

Der Report der Magd
Originalausgabe: The Handmaid's Tale McClelland & Stewart, Houghton Mifflin, 1985 Der Report der Magd Übersetzung: Helga Pfetsch Claassen Verlag, Düsseldorf 1987 Taschenbuch: Piper Verlag, München 2017 ISBN: 978-3-492-31116-8, 411 Seiten ISBN: 978-3-492-97059-4 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Christliche Fanatiker haben auf dem Boden der USA den totalitären Gottesstaat Gilead gegründet, in dem gebärfähige Frauen versklavt werden. Bei der Ich-Erzählerin handelt es sich um eine dieser "Mägde", deren einzige Aufgabe es ist, kinderlosen Ehepaaren der Elite zu Nachwuchs zu verhelfen. Desfred, so lautet der ihr zugewiesene Name, hat sich trotz Umerziehung einen Rest innerer Freiheit bewahrt, und das zeigt sich in ihrem kritischen Blick auf das Leben ...
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Kritik

"Der Report der Magd" ist ein ernster, bewegender und anspruchsvoller Roman. Margaret Atwood warnt mit der Dystopie vor denkbaren Ent­wick­lungen. Das Wort überlässt sie einer "Magd", die aus ihrer subjektiven Perspektive berichtet.
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Der Gottesstaat Gilead

Die Magd weiß, warum der Rahmen des Bildes an der Wand glaslos ist und sich das Fenster aus bruchsicherem Glas nur einen Spaltbreit öffnen lässt:

Dass wir weglaufen, davor haben sie keine Angst. Wir würden nicht weit kommen. Es sind die anderen Fluchtwege, die, die wir in uns selbst öffnen können, sofern ein scharfer Gegenstand zur Hand ist.

Radikale Christen – die „Söhne Jakobs“ – haben nach den von Erdbeben an der San-Andreas-Verwerfung ausgelösten Explosionen von Atomkraftwerken und der Erschießung des US-Präsidenten ein totalitäres Regime in Nordamerika etabliert, den Gottesstaat Gilead. Universitäten und Bibliotheken wurden geschlossen, Animierbetriebe jeglicher Art verboten. Weil die Fundamentalisten überzeugt sind, dass die weitgehende Unfruchtbarkeit der Bevölkerung die Strafe Gottes für Promiskuität, Empfängnisverhütung und Abtreibung ist, haben sie das alles untersagt.

Unfruchtbare Frauen werden in die von Giftmüll verseuchten Kolonien abgeschoben. Frauen, die man für gebärfähig hält, werden unter der Aufsicht von „Tanten“ im „Roten Zentrum“ indoktriniert und auf ihre Rolle als „Magd“ vorbereitet.

In Gilead bilden „Kommandanten“ die oberste Gesellschaftsschicht. Falls die Ehefrau eines Kommandanten nicht schwanger wird und sich als „Martha“ erweist, steht ihm eine Magd zu, deren einzige Aufgabe es ist, ein Kind von ihm zu empfangen.

Ich heiße jetzt Desfred, und hier, hier und jetzt, lebe ich. […] Ich bin dreiunddreißig Jahre alt. […] Ich habe funktionstüchtige Eierstöcke. Ich habe noch eine Chance.

Desfred soll einem Kommandanten und seiner Frau ein Kind gebären

Die Ich-Erzählerin wird nach der Umerziehung im Roten Zentrum ins Haus eines Kommandanten gebracht, dessen Ehefrau Serena Joy ihr den neuen Namen Desfred gibt. Die Magd erinnert sich, die Frau des Kommandanten als Kind im Fernsehen gesehen zu haben: Serena Joy war damals Moderatorin. Im Gegensatz zur stets blau gekleideten Ehefrau hat Desfred einen Habit zu tragen, wie er früher in strengen katholischen Klöstern üblich war, allerdings nicht aus schwarzem, sondern aus rotem Tuch.

Die regelmäßigen Kopulationen finden in einer penibel vorgeschriebenen Zeremonie auf dem Bett des Ehepaares statt. Serena Joy legt sich voll angezogen hin und spreizt die Beine. Dann legt Desfred sich auf sie und rafft den Rock ihres Habits, damit sie der am Bett stehende Kommandant penetrieren kann. Mit den Händen darf er sie nicht berühren, und der Akt hat in einer völlig unerotischen und unpersönlichen Atmosphäre zu erfolgen; er dient lediglich zur Besamung.

Nichts an uns soll unterhaltsam sein, kein Raum darf dem Erblühen heimlicher Lüste gewährt werden.

Desfred arbeitete vor dem Umsturz als Diskettiererin in einer Bibliothek. Als Büchereien geschlossen, alle berufstätigen Frauen entlassen und ihre Konten eingefroren wurden, versuchte sie mit ihrem Ehemann Luke und der kleinen Tochter ins Ausland zu fliehen. Aber sie wurden offenbar verraten. An der Grenze fielen Schüsse. Luke brach zusammen. Mutter und Kind wurden getrennt. Desfred nimmt an, dass Luke tot ist. Was aus ihrer Tochter geworden ist, weiß sie nicht.

Sie erfährt, dass sich ihre Vorgängerin im Haus des Kommandaten nach vier Monaten erhängte.

Wenn Desfred zum Einkaufen geht, wird sie stets von der Magd eines anderen Kommandanten begleitet. Sie sollen sich gegenseitig kontrollieren. Desglen, so heißt die Schicksalsgefährtin, vertraut ihr schließlich an, dass sie einer Untergrundbewegung angehört und nennt ihr das Losungswort „Mayday“.

Bei einer der monatlichen gynäkologischen Untersuchungen weist der Arzt Desfred darauf hin, dass der Kommandant steril sein könnte. Weil die Schuld für die Unfruchtbarkeit jedoch immer bei den Frauen gesucht werde, müsse Desfred damit rechnen, nach Ablauf einer bestimmten Frist in die Kolonien deportiert zu werden. Als Ausweg bietet er ihr an, mit ihr zu kopulieren. Desfred lässt sich nicht darauf ein. Sie darf den Gynäkologen allerdings auch nicht gegen sich aufbringen, denn er könnte ihr eine Krankheit attestieren und dann würde man sie in die Kolonien abschieben.

Desfred wird die Mätresse des Kommandanten

Der Kommandant beginnt, Desfred spätabends zu sich zu bestellen und sorgt dafür, dass seine Frau nichts davon erfährt. In seinem Arbeitszimmer entdeckt Desfred Regale mit verbotenen Büchern, und er lässt sie auch in alten Zeitschriften blättern, die eigentlich längst verbrannt sein sollten. Er spielt Scrabble mit ihr, obwohl auch das streng verboten ist, und zum Abschied bittet er sie jeweils um einen Kuss.

Schließlich nimmt er sie mit zu einem geheimen Nachtklub.

„Der Club ist nur für Offiziere“, sagt er. „Von allen Truppengattungen. Und für mittlere Beamte. Und für Handelsdelegationen natürlich.“

Desfred kennt eine der Animierdamen. Moira und sie waren zusammen auf dem College. Nach dem Studium engagierte sich Moira in einem Frauenkollektiv. Als die Radikalen die Macht an sich rissen, tauchte sie unter. Aber sie wurde festgenommen und ins Rote Zentrum gebracht. Dort sahen sich die beiden Freundinnen wieder. Vergeblich versuchte Desfred Moira von einem Fluchtversuch abzuhalten. Wie befürchtet, scheiterte er, und Moira wurde so geschlagen, dass sie wochenlang nicht gehen konnte. Als sie sich einigermaßen erholt hatte, lockte sie Tante Elizabeth unter einem Vorwand in die Toilette, überwältigte sie dort und zwang sie, die Kleidung mit ihr zu wechseln. Nachdem Moira die unvorsichtige Tante gefesselt hatte, verließ sie das Zentrum und wurde von den Wachen nicht aufgehalten, weil sie die Kleidung einer Tante trug und auch deren Körperhaltung nachahmte. Oppositionelle Quäker versteckten sie und halfen ihr, zur Grenze zu kommen. Aber bevor sie mit einem Boot in Sicherheit gebracht werden konnte, griff man sie auf und stellte sie vor die Wahl: Kolonien oder „Jesebels Reich“.

„Ich hatte mich ja schon vor Jahren sterilisieren lassen, deshalb brauchte ich nicht einmal die Operation. Hier gibt’s ja auch keine einzige Frau mit funktionierenden Eierstöcken.“

Die mutige Rebellin Moira verwandelte sich in eine hoffnungslose Prostituierte.

Der Kommandant macht Desfred in dieser Nacht verbotenerweise zu seiner Mätresse.

Kann der Chauffeur Desfred schwängern?

Aber sie wird nicht schwanger. Deshalb schlägt Serena Joy ihr vor, es mit Nick zu versuchen, dem über der Garage wohnenden Chauffeur. Während die Ehefrau des Kommandanten nachts in der Küche aufpasst, dass niemand etwas merkt, huscht Desfred durch den Hinterausgang hinaus und treibt es mit Nick, der unverblümt zugibt, dass er dafür bezahlt wird. Zum Dank für Desfreds Kooperation besorgt Serena Joy ein Sofortbild von der Tochter und zeigt es ihr kurz. Sie müsse das Polaroid gleich wieder zurückbringen, sagt die Frau des Kommandanten, und sie verrät auch nicht, wo das Mädchen lebt.

Vom Kommandanten und seiner Frau unbemerkt, wiederholt Desfred ihre Besuche bei Nick und schläft mit ihm.

Als bei Janine, die inzwischen als Magd Deswarren heißt, die Wehen einsetzen, werden Desfred und andere Frauen zu ihr gebracht, denn eine Geburt ist ein Festakt. Gerüchten zufolge wurde das Kind nicht vom Kommandanten, sondern von einem Arzt gezeugt, und weil man mit dem Kind nicht zufrieden ist, wird es beseitigt.

Es war ein Baby für den Reißwolf.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


 

Spoiler

Eine weit größere Versammlung von Frauen findet anlässlich einer „Bezirks-Errettung“ statt. Zwei Mägde und eine Martha, die gegen Vorschriften verstoßen haben, werden unter der Aufsicht einer Tante auf der Bühne durch Strangulation hingerichtet. Danach findet die „Partizikution“ eines angeblichen Vergewaltigers statt. Darunter versteht man eine organisierte Form des Lynchens: Sobald ein Pfiff der Tante ertönt, fallen die Zuschauerinnen über den Verurteilten her und machen mit ihm, was sie wollen. Desglen flüstert Desfred zu, der Mann sei kein Vergewaltiger, sondern es handele sich um ein enttarntes Mitglied der Unter­grund­bewegung. Um ihm weitere Qualen zu ersparen, tötet Desglen ihn.

Dadurch gerät sie selbst unter Verdacht. Als sie nachts den Wagen hört, der sie abholen soll, erhängt sie sich.

Desfred glaubt, schwanger zu sein, aber Serena Joy findet heraus, dass sie nicht nur einmal mit Nick kopulierte, sondern eine Affäre mit ihm angefangen hat, und deshalb muss sie um ihr Leben fürchten.

Nick arbeitet offiziell als Chauffeur des Kommandanten, gehört zu den „Augen“, also zum Geheimdienst des Gottesstaats – und zugleich zur Unter­grund­bewegung. Um Desfred zu schützen, lässt Nick sie eines Nachts zum Schein wegen Geheimnisverrats vor den Augen des Kommandanten und seiner Frau verhaften. Er flüstert Desfred zu, sie solle ihm vertrauen. Die Männer gehörten zur Untergrundbewegung und würden sie ins Ausland bringen. Während sie abgeführt wird, denkt sie:

„Ob dies mein Ende ist oder ein neuer Anfang – ich vermag es nicht zu sagen.“

Am 25. Juni 2195 – als Gilead längst untergegangen ist – findet an der Universität Denay in Nunavit unter dem Vorsitz des Professors Maryann Crescent Moon das Zwölfte Symposium von Historikern über Gileadstudien statt. In diesem Rahmen hält Professor James Darcy Pieixoto von der Universität Cambridge in England einen Vortrag mit dem Titel „Probleme der Authentisierung in Bezug auf den Report der Magd“. Der Report der Magd, das waren zunächst 30 Tonband­kassetten, die auf dem Gelände der früheren Stadt Bangor ausgegraben wurden, einem Areal, das vor der Gründung Gileads zum US-Bundesstaat Maine gehört hatte. Inzwischen existiert eine Transkription der Tonband-Protokolle.

Was aus der Magd Desfred geworden ist, haben die Forscher noch nicht herausgefunden. Über die Identität des Kommandanten, dem sie zugeteilt war, gibt es Spekulationen. Es könnte sich um Frederick R. Waterford oder B. Frederick Judd gehandelt haben. Bei dem im Report der Magd für seine Ehefrau gewählten Namen handelt es sich wohl um einen erfundenen.

„Allerdings sind weder Judd noch Waterford je mit einer Frau verheiratet gewesen, die als ‚Pam‘ oder als ‚Serena Joy‘ bekannt war oder bekannt gewesen war. Der letztere Name scheint eine etwas boshafte Erfindung unserer Autorin zu sein. Judds Frau hieß mit Vornamen Bambi Mae, und Waterfords Frau hieß Thelma. Letztere war allerdings einst als Fernsehmoderatorin der beschriebenen Art tätig gewesen. Wir wissen dies von Limpkin, der verschiedene höhnische Bemerkungen darüber macht. Das Regime selbst bemühte sich, solche früheren Abweichungen von der Orthodoxie seitens der Gattinnen seiner Elite zu vertuschen.“

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In der Dystopie „Der Report der Magd“ warnt Margaret Atwood vor denkbaren Entwicklungen.

Christliche Fanatiker haben auf dem Boden der USA den totalitären Gottesstaat Gilead gegründet, in dem gebärfähige Frauen versklavt werden. Bei der Ich-Erzählerin handelt es sich um eine dieser „Mägde“, deren einzige Aufgabe es ist, kinderlosen Ehepaaren der Elite zu Nachwuchs zu verhelfen. Desfred, so lautet der ihr in Gilead zugewiesene Name, verhält sich nicht besonders heldenhaft, sondern wie die meisten ihrer Leidensgenossinnen, hat sich jedoch trotz Umerziehung einen Rest innerer Freiheit bewahrt, und das zeigt sich in ihrem kritischen Blick auf das Leben. Sie schildert das Geschehen aus ihrer subjektiven Perspektive und erläutert es nicht weiter, sondern setzt die ihr geläufigen Verhältnisse in Gilead weitgehend voraus. Der Leser muss sich selbst ein Bild machen. Margaret Atwood konfrontiert ihn auf kluge Weise mit dieser Herausforderung.

In den Bericht der Magd ist eine Passage eingefügt, in dem sie Moira zitiert. Die beiden Frauen unterscheiden sich deutlich in der Sprache. Und im Epilog („Historische Anmerkungen zum Report der Magd“) hören wir Professoren reden. Auch für sie wählt Margaret Atwood eine charakteristische Ausdrucksweise.

„Der Report der Magd“ ist ein ernster, bewegender und anspruchsvoller Roman.

Poul Ruders (Musik) und Paul Bentley (Libretto) ließen sich von Margaret Atwoods Roman zu einer Oper inspirieren: „The Handmaid’s Tale“ („Die Geschichte der Dienerin“). Sie wurde am 6. März 2000 im Opernhaus von Kopenhagen uraufgeführt.

Volker Schlöndorff verfilmte das Buch 1990 unter dem Titel „Die Geschichte der Dienerin“ nach einem Drehbuch des englischen Dramatikers Harold Pinter. 2017 wurde aus der literarischen Vorlage eine Fernsehserie mit dem Originaltitel „The Handmaid’s Tale“ (Regie: Reed Morano, Mike Barker, Kate Dennis, Floria Sigismondi, Kari Skogland). Elisabeth Moss spielt die Hauptrolle (im Englischen: Offred). Außer ihr sind zu sehen: Yvonne Strahovski als Serena Joy, Joseph Fiennes als Kommandeur, Max Minghella als Nick, Madeline Brewer als Janine, Samira Wiley als Moira, Ann Dowd als Tante Lydia u.a.

Unter dem Titel „The Testaments“ / „Die Zeuginnen“ veröffentlichte Margaret Atwood 2019 eine Fortsetzung von „Der Report der Magd“.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017
Textauszüge: © Claassen Verlag

Volker Schlöndorff: Die Geschichte der Dienerin

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Sebastian Barry - Tausend Monde
Sebastian Barry präsentiert in "Tausend Monde" ein düsteres Bild der USA nach dem Bürgerkrieg: Weiße gegen indigene Völker, Rassisten gegen Afroamerikaner, Unionisten gegen Konföderierte. Er entwickelt nicht nur eine ungewöhnliche Geschichte mit Versatzstücken eines Westerns, sondern schreibt auch in einer eigenen Prosa abseits der Alltagssprache.
Tausend Monde

 

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.