Nicola Lagioia : Die Stadt der Lebenden

Die Stadt der Lebenden
La città dei vivi Giulio Einaudi Editore, Turin 2020 Die Stadt der Lebenden Übersetzung: Verena von Koskull btb Verlag, München 2023 ISBN 978-3-442-75960-6, 510 Seiten ISBN 978-3-641-28494-7 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Am 4. März 2016 ermorden zwei 29-Jährige, die sich erst zum zweiten Mal treffen, einen sechs Jahre Jüngeren, den sie kaum bzw. gar nicht kennen. Minutenlang stechen sie im Drogenrausch mit Messern auf ihn ein, zertrümmern ihm mit einem Hammer den Schädel und würgen ihn mit einem Kabel, bis er endlich tot ist. Einen Grund dafür können sie nicht nennen.
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Kritik

Bei "Die Stadt der Lebenden" handelt es sich um einen düsteren Roman des True-Crime-Genres. Der bestialische Mord geschah tatsächlich 2016 in Rom. Nicola Lagioia inszeniert die Handlung nicht, sondern berichtet nach eingehenden Recherchen über die beteiligten Personen, ihr Verhalten, das Verbrechen, die gerichtlichen Folgen, die Reaktion der Medien und der Öffentlichkeit.
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Manuel Foffo und Marco Prato

Als Roberto Foffo heiratete, überließ er seine Wohnung dem vier Jahre jüngeren Bruder Manuel. Sie befindet sich im zehnten Stock eines Mietshauses in Rom, und in der Etage darunter wohnt die Mutter Daniela Pallotto. Die Eltern haben sich getrennt. Valter Foffo besitzt mehrere Restaurants in Rom. Während Roberto einen Universitätsabschluss hat und Vater von zwei Kindern geworden ist, kommt Manuel mit seinem Jurastudium nicht voran.

Am 1. März 2016 lädt der 29-jährige Manuel Foffo den gleichaltrigen Eventmanager Marco Prato ein, den er an Silvester kennengelernt und seither nicht gesehen hat. Marco ist der Sohn des 68 Jahre alten Kulturmanagers Ledo Prato und dessen Ehefrau Maria („Mariella“) Pacifico. Er hat eine ältere, bereits verheiratete Schwester. Schon als Jugendlicher bekannte sich Marco zu seiner Homosexualität, und inzwischen denkt er über eine Geschlechtsumwandlung nach.

Marco und Manuel lassen sich von dem Dealer Trovajoli mehrmals mit Kokain beliefern und trinken dazu große Mengen Alkohol. Als ihnen das Geld ausgeht, begleitet Manuel Marco zum Anschaffen, aber nachdem dieser 40 Minuten lang erfolglos herumgestanden ist und friert, kehren sie frustriert in Manuels Wohnung zurück.

Da passt es, dass Marco eine SMS von einem Bekannten erhält, der sich gerade langweilt. Marco fordert Damiano Parodi auf, in Manuels Wohnung zu kommen und gibt ihm die Adresse. Von Damianos Geld kaufen sie neues Kokain. Nachdem Damiano gegangen ist, meldet er sich über die Gegensprechanlage, weil ihm aufgefallen ist, dass er seine Geldkarte und den Zettel mit der PIN liegen ließ. Marco verspricht ihm, beides zu bringen, aber als Damiano die Karte kurz darauf, am 3. März um 2 Uhr, sperren lässt, sind bereits mehr als 1000 Euro abgebucht.

Als Frau verkleidet und geschminkt, hat Marco Sex mit Manuel.

Auf Drängen Marcos ruft Manuel um 4.13 Uhr einen Bekannten an, von dem er nur den Vornamen kennt. Alex Quaranta nimmt ein Taxi und fährt zu der angegebenen Adresse. Sein Geld reicht zwar nicht mehr, um den Taxifahrer zu bezahlen, aber der lässt sich mit einem Teilbetrag abspeisen. Alex Quaranta freut sich auf eine Party. Wichtiger noch ist ihm, dass er anschließend auf einem Sofa schlafen kann, denn er hat für diese Nacht keine andere Bleibe. Aber statt einer Party erwarten ihn zwei junge Männer, einer davon in Frauenkleidern. Frustriert geht Alex Quaranta gleich wieder.

Marco verschickt mit Manuels Smartphone Nachrichten an dessen Kontakte. Aber niemand antwortet. Daraufhin laden die beiden Tiziano De Rossi ein, der als Kellner in einem der Valter Foffo gehörenden Restaurants arbeitet. Dem kommt die Situation in der Wohnung eines Sohnes seines Arbeitgebers nicht geheuer vor, und er verabschiedet sich nach wenigen Minuten.

Der Mord

Am 4. März haben Marco und Manuel so viel getrunken und Kokain geschnupft, dass ihre Wahrnehmung deutlich gestört ist.

Marco unterstellt Manuel, dass dieser seinen Vater töten wolle und entwickelt Gewaltfantasien mit ihm.

Sie nehmen sich vor, einen Stricher in die Wohnung zu locken und ihn zu vergewaltigen. Aber ihre Suche bleibt vergeblich. Auf der Rückfahrt ruft Marco Kontakte auf Manuels Smartphone an und stößt auf Luca Varani.

Der 23-Jährige wurde 1993 als Baby in einem Waisenhaus in Bitola von Silvana und Giuseppe Varani adoptiert. Der inzwischen 61 Jahre alte Adoptivvater arbeitet als fahrender Händler von Dörrobst und Süßwaren.

Zuerst schnupfen Marco, Manuel und Luca zusammen Kokain. Marco bietet Luca Geld dafür, sich nackt auf den Boden zu legen. Er tritt auf Luca und verletzt ihn leicht mit seinen Stilettos. Dann mischt er ihm Alcover ins Glas, und als Luca halb bewusstlos in der Badewanne liegt, stechen Marco und Manuel nicht nur mit Messern auf ihn ein, sondern zertrümmern ihm auch mit Hammerschlägen den Schädel. Doch der Schwerverletzte stirbt nicht so schnell. Sie versuchen, ihn mit einem Kabel zu erdrosseln. Endlich atmet Luca nicht mehr.

Manuel holt Geld aus der Kasse des Restaurants seines Vater, in dem Tiziano De Rossi kellnert. Seit dieser in seiner Wohnung war, sind noch keine 24 Stunden vergangen. Es ist die Nacht auf den 5. März. Mit dem Geld kaufen Marco und Manuel in mehreren Apotheken Schlafmittel, denn Marco will sich noch in dieser Nacht in einem Hotelzimmer das Leben nehmen.

Manuel kehrt allein nach Hause zurück.

Das Geständnis

Nachdem Manuel Foffo ein paar Stunden geschlafen hat, holt ihn sein Bruder Roberto zur Trauerfeier für Onkel Rodolfo ab. Sie findet im Gemelli-Krankenhaus statt. Von dort fährt die Familie in zwei Autos zum Friedhof in Rodolfos Geburtsort Bagnoli del Trigno in der 200 Kilometer entfernten Region Molise.

Unterwegs behauptet Manuel, er habe jemanden umgebracht. Der Tote liege in seiner Wohnung. Den Namen kenne er nicht, und er wisse auch nicht, warum er den Mord begangen habe.

Überstürzt kehren Valter und Roberto Foffo mit Manuel nach Rom zurück. Sie hoffen auf ein Hirngespinst. Valter Foffo ruft den 50-jährigen Rechtsanwalt Michele Andreano an, der Kanzleien in Rom, Mailand und Ancona betreibt. Der kommt ebenfalls nach Rom und ruft dann die Polizei an: Ein Mandant beschuldige sich eines Mordes, berichtet er.

In Manuel Foffos Wohnung stoßen die Carabinieri tatsächlich auf die nackte Leiche eines jungen Mannes, auf den mit Messern eingestochen und mit einem Hammer eingeschlagen wurde.

Das Erschrecken

Marco Prato wird noch am 5. März in seinem Hotelzimmer bewusstlos aufgefunden und in die Notaufnahme des Pertini-Krankenhauses gebracht, wo der Arzt allerdings die von Marco angegebene Menge des Schlafmittels anzweifelt und keine Magenspülung für erforderlich hält.

Es stellt sich heraus, dass Marco Prato bereits am 28. Mai 2011 in Paris einen Suizid versucht hatte.

Am nächsten Tag staunt der 54-jährige Mario Angelucci, als er im Fernsehen die Fassade des Hauses sieht, in dem er wohnt. Würde er das Fenster öffnen, wäre er im Bild. Es geht um einen Mord im zehnten Stockwerk.

Alex Quaranta erfährt ebenfalls aus dem Fernsehen von dem Verbrechen und erschrickt bei dem Gedanken, dass er beinahe ermordet worden wäre.

Der 58 Jahr alte Staatsanwalt Dr. Francesco Scavo leitet die Ermittlungen.

Bei den Vernehmungen in der Haftanstalt von Regina Coeli beschuldigen sich Marco Prato und Manuel Foffo gegenseitig. Marco behauptet, Manuel allein habe Luca ermordet, und der wirft Marco vor, ihn manipuliert und aufgehetzt zu haben.

Die Gerichtsmediziner stellen fest, dass Luca Varani nicht an einer bestimmten Verletzung starb, sondern an der Gesamtheit der ebenso brutalen wie lang anhaltenden Gewalteinwirkung.

Die Gerichtsprozesse

Als Nebenkläger treten Luca Varanis Adoptiveltern und Marta Gaia Sebastiani auf, eine 22-Jährige, die seit acht Jahren Lucas feste Freundin war.

Manuel Foffos Verteidiger Michele Andreano beantragt ein verkürztes Verfahren. Dem wird stattgegeben, und am 21. Februar 2017 verurteilt der Richter Nicola Di Grazia den Angeklagten zu 30 Jahren Haft.

Die Medien berichten, dass Marco Prato seit einiger Zeit HIV-positiv sei. Der Prozess gegen ihn soll am 10. April beginnen, wird jedoch mehrmals verschoben. Am 20. Juni 2017, einen Tag vor dem endgültigen Termin, wird der Häftling tot in seiner Zelle gefunden. Er inhalierte eine zum Kochen verwendete Gaskartusche mit über dem Kopf gestülpter Plastiktüte.

Im Herbst 2017 tauscht Manuel Foffo seinen Anwalt Michele Andreano gegen Fabio Menichetti aus. Aber auch der kann nicht verhindern, dass das Berufungsgericht das Urteil gegen seinen Mandanten bestätigt.

Der Autor Nicola Lagioia

Am 8. März 2016 erhält der 42-jährige Schriftsteller Nicola Lagioia einen Anruf der Journalistin Cristina Guarinelli. Sie schlägt ihm eine Reportage über den spektakulären Mordfall vor. Zuerst lehnt er ab, aber kurz darauf beginnt er mit seinen Recherchen, und die verfolgt er immer obsessiver.

Warum ihn das Verbrechen so intensiv beschäftigt? Es erinnert ihn an seine eigene Jugend. Dass seine Eltern sich hatten scheiden lassen, als er fünf Jahre alt war, setzte ihm schwer zu. Nicola verheimlichte das in seinem Freundes- und Bekanntenkreis, denn eine Ehescheidung galt damals als ehrenrührig. Das machte ihn zu einem zornigen Jugendlichen. Im Alter von 17 Jahren warf er nach einem Alkoholexzess leere Flaschen aus einem Fenster in Bari. Sie zerplatzten auf der Straße – und hätten beinahe eine junge Passantin getroffen. Ebenfalls im Suff prallte er mit einem Auto in ein geparktes Fahrzeug. Nach diesem Schock hörte er zu trinken auf, verheimlichte auch nicht länger die Scheidung seiner Eltern, schloss sein Studium ab und zog von Bari zunächst nach Mailand, dann nach Rom. Weil er kein Geld hatte, spielte er mit dem Gedanken, sich zu prostituieren, tat es aber dann doch nicht.

Mit dem aktuellen Mordfall konfrontiert, denkt Nicola Lagioia, dass er Glück gehabt habe.

Ich hatte Glück.
Aber was wäre passiert, wenn die Flasche das Mädchen getroffen hätte?
Und wenn ich statt ein geparktes Auto einen Fußgänger erwischt hätte?
Wenn ich für hunderttausend Lire Sex mit einem unbekannten alten Mann gehabt hätte, was hätte das mit meinem Selbstwertgefühl gemacht? […] Wäre ich daran zerbrochen?

Aufgrund eines unwiderstehlichen Jobangebots zieht Nicola Lagioia mit seiner Frau Chiara nach Turin, aber dort werden sie von Heimweh nach Rom geplagt.

Was mir so sehr gefehlt hatte, war das Gefühl vollkommener Freiheit, die in Rom ein Synonym für Verfall, Anarchie und Verwahrlosung war; was mir gefehlt hatte, war die in manchen Momenten schwindelerregende Gewissheit, ein Leben als einfacher Ausdruck des Menschlichen führen zu können, ungezähmt, losgelöst von den Fesseln eines Staates und sogar von dem Zwang einer Gemeinschaft, sich ein Volk zu nennen.

Für seine Nachforschungen im Mordfall Luca Varani fährt Nicola Lagioia immer wieder nach Rom – und am Ende kehren er und Chiara dauerhaft zurück.

Nicola Lagioia begreift schließlich, dass ihm eine weitere Beschäftigung mit dem Fall schaden würde.

Das war der Punkt, an dem mir aufging, dass ich mich von dem Fall lösen musste. Ich musste die Beute loslassen, es war so weit; mein Bedürfnis zu verstehen war zur Abhängigkeit geworden, der ich jetzt zu erliegen drohte.

Der Tourist

Am 1. März 2016 erfährt ein älterer Tourist aus den Niederlanden bei der Einlasskontrolle am Kollosseum, dass ihm gefälschte Karten angedreht wurden. Kurz darauf wird ihm die Brieftasche in Rom gestohlen.

Der Rentner, der früher Flugzeugingenieur war, sucht anhand von Fotos einen Jungen aus, verabredet sich dann mit „Signor Franco“ und erhält gegen ein Kuvert mit Geldscheinen einen Zettel mit einer Adresse.

Zweimal treibt er es mit einem 13-jährigen nordafrikanischen Jungen. Beim dritten Mal wird der Tourist festgenommen.

Aufgrund einer Gesetzeslücke muss man ihn wieder freilassen.

[…] zwischen zehn und vierzehn Jahren hätte die Klage von einem Elternteil oder einem Erziehungsberechtigten des Minderjährigen erhoben werden müssen – der Minderjährige selbst konnte das nicht. […] Zusammen mit anderen Verzweifelten war er auf einem Boot angekommen. Eltern gab es nicht. Erziehungsberechtigte auch nicht.

Der Tourist fliegt nach Thailand.

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2016 gibt es zwar zwei Päpste, aber in der von Ratten und Möwen heimgesuchten Stadt Rom nur einen kommissarischen Bürgermeister, bis schließlich die erste Frau in das Amt gewählt wird, Elena Raggi, die es jedoch auch nicht schafft, das gigantische Müllproblem zu lösen.

Ein niederländischer Päderast in Rom, der in flagranti festgenommen, jedoch aufgrund einer Gesetzeslücke nicht angeklagt werden kann, denkt auf dem Weiterflug nach Thailand:

Sie beklauten einen in der U-Bahn. Sie beleidigten einen an der Ampel. Sie neppten einen in den Restaurants, husteten einem ins Gesicht. Doch unterm Strich war die Bilanz positiv. Die Stadft schenkte einem sehr viel mehr, als sie dafür verlangte.

Am 4. März 2016 ermorden zwei 29-Jährige, die sich erst zum zweiten Mal treffen, einen sechs Jahre Jüngeren, den sie kaum bzw. gar nicht kennen. Minutenlang stechen sie im Drogenrausch mit Messern auf ihn ein, zertrümmern ihm mit einem Hammer den Schädel und würgen ihn mit einem Kabel, bis er endlich tot ist. Einen Grund dafür können sie nicht nennen. Und es hätte auch einen anderen jungen Mann treffen können.

Der Mord geschah tatsächlich. Bei „Die Stadt der Lebenden“ von Nicola Lagioia handelt es sich um einen düsteren Roman des True-Crime-Genres. Zum Schutz einiger Beteiligter hat Nicola Lagioia den einen oder anderen Namen geändert.

Er inszeniert die Handlung nicht, sondern berichtet nach eingehenden Recherchen über die beteiligten Personen, ihr Verhalten, das Verbrechen, die gerichtlichen Folgen, die Reaktion der Medien und der Öffentlichkeit. Es geht ihm – ebenso wie Truman Capote in seinem Tatsachenroman „Kaltblütig“ – um die minutiöse Rekonstruktion eines Kriminalfalls. Wie kommt es ohne erkennbaren Grund zu einem brutalen Mord und wie geht die Gesellschaft damit um? Mit dieser Frage beschäftigt sich Nicola Lagioia in „Die Stadt der Lebenden“ und schildert dabei auch, warum ihn der Fall so aufwühlt. Obwohl der Autor immer wieder betont, dass er nur berichtet, was beispielsweise Zeugen ausgesagt haben, handelt es sich um eine packende Lektüre.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2023
Textauszüge: © btb Verlag

Cynthia D'Aprix Sweeney - Das Nest
Obwohl Cynthia D'Aprix Sweeney die Familiengeschichte mit zusätzlichen Figuren, Handlungssträngen und Mi­nia­turen spickt, behält sie alles unter Kontrolle. Geschickt wechselt sie die Perspektive. Man kann "Das Nest" als Satire lesen. Auf jeden Fall ist es eine unterhaltsame Lektüre.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.