Friedrich Ani : Bullauge

Bullauge
Bullauge Originalausgabe Suhrkamp Verlag, Berlin 2022 ISBN 978-3-518-43032-3, 267 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der Polizist Kay Oleander erblindet durch einen Flaschenwurf während einer Demonstration auf dem linken Auge. Silvia Glaser, die behauptet, ihre Gehbehinderung sei durch einen rücksichtslosen Polizeieinsatz verursacht worden, könnte die Flasche geworfen haben. Die beiden nehmen sich vor, einen rechtsradikalen Anschlag zu verhindern ...
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Kritik

"Bullauge" ist ein düsterer Roman vor dem Hintergrund der Gruppierungen am rechten Rand, der Querdenker und "Spaziergänger". Friedrich Ani beschäftigt sich mit der psychischen Entwicklung der beschädigten Hauptfiguren. Deren Beziehung wirkt allerdings konstruiert und nicht lebensecht.
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Kay Oleander

Auf einer Demonstration so genannter „Spaziergänger“ in München wurde der 54-jährige Polizeihauptmeister Kay Oleander von einer zersplitternden Bierflasche getroffen und erblindete auf dem linken Auge. Nun ist er bis auf weiteres krankgeschrieben und muss damit rechnen, dass ihn sein Chef Claus Wilke nur noch im Innendienst einsetzen wird.

Der Sohn einer Landtagsabgeordneten und des Bürgermeisters von Bad Hausbach sollte auf Wunsch der Eltern Jura studieren, bewarb sich aber stattdessen nach dem Abitur im Alter von 19 Jahren erfolgreich für den Polizeidienst.

Er sitzt allein zu Hause – seine Ehe wurde geschieden – und hadert mit seinem Schicksal. Hin und wieder lässt er eine Prostituierte kommen, die Lilo heißt und sich Lucy nennt. Einmal schaut auch sein Kollege Arno Gillis nach ihm.

Aus den Akten weiß Kay Oleander von dem 61-jährigen Lehrer Holger Kranich und dessen gleichaltriger Begleiterin Silvia Glaser. Die beiden fielen während der Demonstration auf, etwa 50 Meter von dem Ort entfernt, wo er schwer verletzt am Boden lag. Kollegen hielten die Personalien fest, aber es gibt keinen Beweis dafür, dass die Verdächtigen Flaschen warfen.

Dennoch verdächtigt Kay Oleander die Frau. Er geht zu ihrer Adresse. Während er die Namensschilder am Eingang des Mietshauses studiert, kommt Silvia Glaser nach Hause und fragt, was er suche. Spontan behauptet er, auf derselben Demonstration gewesen zu sein und ihren Namen bei der polizeilichen Überprüfung gehört zu haben.

Silvia Glaser

Die beiden verabreden sich. Kay Oleander gibt sich als Polizist zu erkennen und gesteht, dass er ihren Namen aus den Akten kennt. Sie beteuert zwar, bei der Demonstration keine Flasche geworfen zu haben, aber er bezweifelt das.

Silvia („Via“) Glaser war Apothekerin. Als sie ihr Geschäft nach 24 Jahren schließen musste, jobbte sie als Essens-Ausfahrerin. Vor einiger Zeit, als sie mit dem Rad unterwegs war, überholte sie ein Streifenwagen mit hoher Geschwindigkeit und schaltete erst neben ihr das Martinshorn ein. Erschrocken geriet sie ins Taumeln und stürzte. Fünf Operationen und acht Wochen Reha konnten nicht verhindern, dass sie seither auf einen Gehstock angewiesen ist. Ihr Lebenspartner Ludger Heise, der Betreiber eines Modegeschäfts in der Theatinerstraße in München, trennte sich wegen der Behinderung von ihr. Eine Entschädigung kann sie nicht erwarten, denn die Polizei teilte ihr zwei Monate nach dem Unfall mit, dass eine Beteiligung eines Einsatzfahrzeugs des Münchner Polizeipräsidium ausgeschlossen sei.

Die Frau, die seither die Polizei verabscheut, sagt zu ihrem Gegenüber:

„Ich schaue durch dich hindurch wie durch ein Bullauge und alles was ich seh, ist ein schwarzes Meer.“

Kay Oleander erzählt ihr von seinem Kollegen Henning Seidel, der nach 25 Dienstjahren zu einem Mehrfamilienhaus am Harras gerufen wurde und dort auf eine 24-jährige Frau stieß, die augenscheinlich soeben ihr drei Jahre altes Kind getötet hatte. Er packte sie, zerrte sie auf den Balkon, wuchtete sie über die Brüstung und ließ sie fünf Etagen tief fallen. In der Untersuchungshaft zerschnitt er sich mit einer Spiegelscherbe die Pulsadern und verblutete.

Silvia Glaser vertraut Kay Oleander an, dass Holger Kranich sie als Pressesprecherin der Neuen Volkspartei Deutschland vorgeschlagen habe.

In der Wahrnehmung von Holger Kranich setzte sich die deutsche Gesellschaft aus geknechteten, manipulierten, bevormundeten und in die Irre geführten Arbeitssklaven und einer Handvoll mit einer internationalen Elite verbündeten Machthabern zusammen.

Eigentlich möchte Silvia Glaser nichts mehr mit der gegen „Sozialschmarotzer“ agitierenden rechtsgerichteten Partei zu tun haben, aber sie beabsichtigt, sich zum Schein auf das Angebot einzulassen, um mehr zu erfahren. Bisher kennt sie außer Holger Kranich – Deckname „Die Möwe“ – nur Roland Ebert, den Betreiber eines Sicherheitsdienstes. Ein „Der Blaue“ genannter Mann soll der Anführer einer radikalen Gruppe sein, und Silvia Glaser vermutet, dass es sich dabei um Roland Ebert handeln könnte. Sie glaubt, Hinweise auf ein geplantes Attentat erhalten zu haben und meint, es sei ihre und Kay Oleanders Aufgabe, das zu verhindern. Nachdem so viel schlecht gelaufen ist, wollen die beiden etwas richtig machen.

Warnung

Britta Irgang, eine alte Dame, die in der Polizeiinspektion putzt, den Garten und die Balkonkästen pflegt, erzählt Kay Oleander von ihrem Ehemann Wilhelm, ihrem Schwager Gregor und einer jungen Aushilfsbedienung, die 1984 ‒ vier Jahre nach dem Wiesn-Attentat ‒ bei der Explosion einer Nagelbombe auf einem Volksfest ums Leben kamen. Gregor war Polizist und ermittelte in der rechten Szene. Wegen des Verbrechens verurteilt wurde ein Schreiner, bei dem es sich um einen Einzeltäter gehandelt haben soll.

Kay Oleander wendet sich an Jost Siebert, den stellvertretenden Leiter der Staatsschutz-Abteilung beim LKA, den er persönlich kennt. Ein anonymer Informant habe ihn am Telefon vor einem Anschlag aus der rechten Szene gewarnt, lügt er. Jost Siebert meint, dabei habe es sich möglicherweise um den Scherz eines Anrufers gehandelt und versichert, seine Abteilung habe die Situation unter Kontrolle.

Konspiratives Treffen

Einen Tag vor einem Treffen der rechten Gruppe in der Kneipe „Pfauenauge“, zu dem Silvia Glaser von Holger Kranich eingeladen wurde, schauen Kay Oleander und Arno Gillis sich dort um. Nachdem sie an getrennten Tischen unauffällig Bier getrunken haben, fährt Arno Gillis seinen Kollegen nach Hause.

Kay Oleander hört Stimmen von zwei Männern. Ein Streit. Er schaut nach. In diesem Augenblick gehen die beiden auf ihn los und schlagen ihn zusammen. Vielleicht hätten sie ihn umgebracht, wenn nicht der skurrile Nachbar Gustav Ringseis dazwischen gegangen wäre. Ihm fielen die Fremden auf, die eine halbe Stunde lang herumlungerten und in dem Augenblick scheinbar einen Streit anfingen, in dem der halbblinde Polizist aus dem Auto stieg. Er schleppt Kay Oleander in dessen Wohnung und kümmert sich um ihn.

Trotz allem besteht Kay Oleander darauf, am nächsten Abend mit seinem Kollegen erneut zu der Gaststätte zu fahren. Während Arno Gillis im Auto bleibt, um den Hinterausgang beobachten zu können, setzt sich Kay Oleander wieder in die Gaststube. Weil der Wirt Alexander („Alex“) Nolte mit der geschlossenen Gesellschaft im Nebenzimmer ist, serviert die Kellnerin Geli das Bier.

Zur mit Holger Kranich vereinbarten Zeit betritt Silvia Glaser das Lokal, klopft an die Tür zum Nebenzimmer und geht hinein.

Eineinhalb Stunden später schickt sie Kay Oleander eine SMS. Sie teilt ihm mit, dass von „Nine Eleven“ die Rede gewesen sei und Holger Kranich sie in Kürze nach Hause fahren werde.

„Nine Eleven“ bedeutet in diesem Fall vermutlich nicht 11. September, sondern 9. November. Zur Feier des Jahrestages der Grundsteinlegung für den Bau des Jüdischen Zentrums am St.-Jakobs-Platz werden Honoratioren wie der Bundespräsident erwartet. Soll da ein Attentat stattfinden? Bei der Grundsteinlegung am 9. November 2003 hatte die Polizei einen Sprengstoffanschlag verhindern können.

Als die Teilnehmer der Versammlung die Gaststätte verlassen, versucht Kay Oleander, den Wirt auszuhorchen, erfährt aber nichts Neues. Arno Gillis teilt ihm per SMS mit, dass er Holger Kranich wie abgesprochen gefolgt sei und beobachtet habe, wie Silvia Glaser unbehelligt ins Haus gegangen sei. Schließlich lässt sich Kay Oleander von Geli ein Taxi rufen.

Showdown

Vor dem Mietshaus, in dem sich Silvia Glasers Wohnung befindet, blinken Blaulichter. Kay Oleander zückt seinen Dienstausweis und erfährt von einem der Polizisten, dass eine Frau noch vom Balkon um Hilfe geschrien habe, bevor sie zusammengebrochen sei.

Silvia Glaser stirbt im Klinikum Großhadern. Jemand hat sie in ihrer Wohnung erstochen.

Holger Kranich beteuert, er habe seine Bekannte vor der Haustür abgesetzt und sei erst weggefahren, nachdem sie das Gebäude betreten habe.


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Kay Oleander, der inzwischen davon ausgeht, dass der Streit der beiden Männer, die ihn dann zusammenschlugen, inszeniert war, stellt sich die Frage, wer außer ihm wusste, wann er nach Hause kam, wo Silvia Glaser wohnte und wann sie von dem Besuch in der Gaststätte „Pfauenauge“ zurückkehren würde. Als er die Zusammenhänge durchschaut, bringt er seine Erkenntnisse zu Papier und gibt den an Jost Siebert adressierten Brief am Morgen an der Pforte des LKA mit der Bitte um sofortige Weiterleitung ab.

Dann fährt er zur Landwehrstraße und klingelt bei Arno Gillis. Der überwältigt ihn sofort und legt ihm Handschellen an. In der Wohnung liegt Material für den Bau einer Bombe bereit, und Arno Gillis gibt auch zu, die „Verräterin“ Silvia Glaser erstochen zu haben.

Ein Mobiles Einsatzkommando stürmt die Wohnung und rettet Kay Oleander das Leben. Jost Siebert tobt: Der Polizist hätte beinahe unter strenger Geheimhaltung laufende Ermittlungen gegen Arno Gillis torpediert.

Statt Roland Ebert verbarg sich der Rechtsradikale Arno Gillis hinter dem Decknamen „Der Blaue“. Der bezog sich nicht auf den Fußballverein „1860 München“, sondern auf die Polizeiuniform.

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„Bullauge“ ist weder Politthriller noch Kriminalroman. Friedrich Ani beschäftigt sich mehr mit der psychischen Entwicklung der beschädigten Hauptfiguren, besonders des Münchner Polizisten, der den Namen einer giftigen Pflanze trägt: Oleander. Dessen Traumatisierung bzw. Lebenskrise steht im Mittelpunkt. Friedrich Ani versetzt sich in die Gefühls- und Gedankenwelt dieses schwer angeschlagenen 54-Jährigen, den er als Ich-Erzähler und mit inneren Monologen auftreten lässt.

Dabei beleuchtet er auch die Polizei als solche aus verschiedenen Blickwinkeln und thematisiert nicht zuletzt eine Affinität einiger Uniformierter mit dem Rechtspopulismus. „Bullauge“ ist ein düsterer Roman vor dem Hintergrund der Gruppierungen am rechten Rand, der Querdenker und „Spaziergänger“.

Die Handlung dreht sich um die Beziehung der beiden Hauptfiguren, des durch einen Flaschenwurf während einer Demonstration auf dem linken Auge erblindeten Polizisten Kay Oleander und einer Frau ‒ Silvia Glaser ‒, die behauptet, aufgrund des rücksichtslosen Verhaltens einer Streifenwagenbesatzung gestürzt und seither gehbehindert zu sein. Dass sie die Flaschenwerferin war, ist nicht ausgeschlossen. Wie der Polizist und die Frau, die die Polizei verabscheut, miteinander umgehen, wirkt allerdings konstruiert und nicht wirklich lebensecht.

Auch Nebenfiguren wie Britta Irgang und Gustav Ringseis sind eher skurril. (Und Kay Oleanders Nachbarin heißt auf Seite 19 Lea Gerling, auf der nächsten Seite Inge Gerling.)

Friedrich Ani schreibt lakonisch. Im Text blitzen originelle Vergleiche und andere gelungene Formulierungen auf.

„Bullauge“: Bei dem Titel denkt man an das erblindete linke Auge des Polizisten und die in der Regel zwar nicht mehr beleidigend, aber noch immer nicht besonders respektvoll gemeinte Bezeichnung Bulle.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2022
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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Bei "Anils Geist" handelt es sich um eine stilsicher arrangierte, ungeachtet der Grausamkeit eher lyrische Collage aus mehr oder weniger zusammenhängenden Episoden, einprägsamen Bildern des Schreckens, der Entwurzelung, aber auch der Fürsorge und Barmherzigkeit.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.