Miku Sophie Kühmel : Kintsugi
Inhaltsangabe
Kritik
Max und Reik
Der an der Cornell University promovierte Archäologe Max und der international erfolgreiche Künstler Reik sind seit 1998 ein Paar. Die beiden Mitvierziger leben in Berlin. Obwohl es inzwischen längst möglich wäre, haben sie nicht geheiratet, aber sie gelten als Traumpaar.
Alle sehen in uns so viel. Wir sind ihnen der Beweis, dass es das geben kann, worauf sie alle hoffen, wir werden gern als Beispiel herangezogen in den Beziehungsstreitigkeiten anderer Paare, unangenehmerweise sogar manchmal, während wir dabei mit am Tisch sitzen. Für sie alle bergen wir das eine Geheimnis, den Schlüssel zum Glück und das mag deswegen keiner hinterfragen.
Ein Wochenende im Ferienhaus
Statt das 20-jährige Jubiläum ihrer Beziehung groß in Berlin zu feiern, verbringen Max und Reik ein Wochenende in ihrem Ferienhaus in der Uckermark und laden dazu ihren Freund Tonio und dessen Tochter Pega ein, eine 1998 geborene Psychologie-Studentin. Die drei Männer verbringen auch sonst viel Zeit miteinander, und Pega ist mit ihnen wie in einer Patchwork-Familie aufgewachsen.
Tonio
Reik war ab seinem 16. Lebensjahr mit dem zwei Jahre jüngeren Tonio zusammen gewesen. Damals war Homosexualität noch strafbar, und als Reik volljährig wurde, kam ein weiterer Gesetzesverstoß dazu. Tonio studierte dann Musik am Konservatorium und heiratete. Als Bettina schwanger wurde, obwohl sie kein Kind wollte, überredete er sie, es auszutragen und sicherte ihr zu, es allein aufzuziehen. Tonio brach sein Studium ab und tat alles, um Pega ein guter Vater zu sein und sie das Fehlen der Mutter möglichst wenig spüren zu lassen.
Reik beneidet Tonio um diese Aufgabe.
Natürlich weiß ich mittlerweile, dass Tonio etwas geschafft hat, was ich seit Jahrzehnten mit Leinwänden und Modelliermasse und Speckstein und Schweißerarbeit imitiere. Im Vergleich zu der sagenhaften jungen Frau, die hier gerade neben mir her geht, sind all meine Figuren und Bilder nur Pappkameraden, Bemühungen, bedeutungslos am Ende. Mir zieht sich die Brust dabei zusammen, aber genau so ist es. Ich glaube, dass alles, was ich geschaffen habe, arm und dürr ist im Vergleich zu dem, was Tonio vollbracht hat. […] Ich beneide ihn um das Endergebnis und um die Gewissheit, einen großen Teil seines Lebens etwas so Wunderbarem gewidmet zu haben.
Pega
Max und Reik waren und sind wie Onkel zu Pega. Sie wurde von den drei Männern geprägt und vermisste die Mutter nicht. Allerdings erinnert sie sich daran, dass sie sich unvollständig fühlte, weil sie nicht, wie ihre drei Bezugspersonen, einen Penis hatte.
All die guten Noten, den harten Kampf um das Stipendium. Es lässt mich das Gefühl nicht los, dass ich nichts davon je versucht hätte zu erreichen, wäre da nicht Max gewesen, dessen Anwesenheit mich motivierte, dessen rares Lächeln, breit und mit hochgezogenen Augenbrauen mir die größte Bestätigung war und auch die meiste Sicherheit gab. Von Max anerkannt zu werden − nichts ist mir je wichtiger gewesen.
Neuigkeiten
Dass Tonio wieder eine Freundin hat und mit ihr einen Neuanfang versucht, erfahren seine Tochter und die Freunde erst an diesem Wochenende in der Uckermark. Bei Nicole handelt es sich um eine seiner Studentinnen, die als Barfrau jobbt und ebenso alt wie Pega ist.
Max und Reik schicken die Gäste für zwei Stunden aus dem Haus, um etwas besprechen zu können. Als Tonio und Pega zurückkommen, kündigt das schwule Paar eine einvernehmliche Trennung an. Jeder der beiden beteuert, dass der andere die Liebe seines Lebens sei. Aber sie hätten angefangen, sich gegenseitig einzuschränken, und das müsse aufhören.
In der Nacht versucht Pega, Max zu verführen, aber er lässt sich nicht darauf ein. Er hat bereits gepackt und verlässt noch im Dunkeln das Wochenendhaus. Max will ein Forschungssemester beantragen und eine Weltreise durchführen. Für Reik hinterlässt er einen Abschiedsbrief.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)In Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“ nimmt das wohlhabende Ehepaar Eduard und Charlotte einen von Eduards Freunden und Charlottes mittellose Nichte auf. Dadurch gerät alles durcheinander, denn Charlotte und Otto fühlen sich zueinander hingezogen, während Eduard sich in Ottilie verliebt und diese seine Gefühle erwidert. Daran erinnert die Figurenkonstellation in Miku Sophie Kühmels Debütroman „Kintsugi“: ein schwules, seit 20 Jahren zusammenlebendes Paar Mitte 40, der bisexuelle Freund und die 20-jährige Tochter des allein erziehenden Vaters bilden seit deren Geburt eine Art Patchwork-Familie. Als sie zu viert ein Wochenende im Ferienhaus verbringen, werden ihnen ihre gefühlsmäßigen Verstrickungen (Irrungen, Wirrungen) bewusst.
Miku Sophie Kühmel lässt in „Kintsugi“ nacheinander die vier Romanfiguren als Ich-Erzähler zu Wort kommen: Max, Reik, Tonio und Pega halten innere Monologe. Die Perspektiven ergänzen sich, aber es wird nur kühl über die Charaktere und das Beziehungsgeflecht räsoniert. Zwischen diese vier Kapitel fügt Miku Sophie Kühmel kurze (mit „8 Uhr am Morgen“ bzw. „8 Uhr am Abend“ überschriebene) Passagen ein, die wie Seiten aus einem Theaterstück aussehen: wörtliche Dialoge mit am Zeilenanfang genannten Sprechern, und zu Beginn jeweils eine kurze Szenenbeschreibung. Farbig und lebendig ist das alles nicht.
Die Kapitel tragen japanische Titel. Einer davon lautet „Kintsugi“ wie der Buchtitel. Unter Kintsugi versteht man das kunstvolle Zusammenfügen der Scherben eines zerbrochenen Porzellangefäßes mit Gold. Im Roman zerbricht denn auch eine Teeschale und wird dann wiederhergestellt. Dass dieses Zerbrechen und Wiederzusammenfügen mit dem Inhalt von „Kintsugi“ korresponiert, ist überdeutlich.
Die 1992 in Gotha geborene Schriftstellerin Miku Sophie Kühmel schaffte es mit ihrem Debütroman „Kintsugi“ auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2019.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2019
Textauszüge: © S. Fischer Verlag