Klaus Modick : Bestseller
Inhaltsangabe
Kritik
Erbschaft
Lukas Domcik, ein 54 Jahre alter, mäßig erfolgreicher Schriftsteller, erhält Post vom Amtsgericht Berchtesgaden. In der katholischen Seniorenresidenz Maria Hilf in Berchtesgaden starb am 12. April 2005 Emma Theodora Elfriede Westerbrink-Klingenbeil im Alter von 95 Jahren, und man hat ihn als Alleinerben ausfindig gemacht. Dabei kennt Lukas Domcik die Frau gar nicht.
Er ruft erst einmal im Seniorenheim an. Da weist ihn Schwester Hertha als Erstes darauf hin, dass er die vorgestreckten Beisetzungskosten zu übernehmen habe. Immerhin schlägt sie ihm vor, nach Berchtesgaden zu kommen und sich die Hinterlassenschaft der Verstorbenen anzusehen. Dann könne er sich entscheiden, ob er das Erbe annehmen oder ausschlagen wolle.
Lukas Domcik folgt dem Rat. Als er hört, dass Emma Theodora Elfriede Westerbrink-Klingenbeil im Seniorenheim nur Thea genannt wurde, erinnert er sich an eine Großtante Thea, die er wohl als Zwölfjähriger bei einem runden Geburtstag der Großmutter einmal gesehen hatte. Weil sie 1931 in die NSDAP eingetreten und später zum Katholizismus konvertiert war, galt sie in der durch und durch protestantischen Familie als schwarzes Schaf.
Schwester Hertha zeigt ihm in einem Lager die hinterlassenen Möbelstücke und ein Gemälde mit dem Titel „Haus Wachenfeld“. Sie meint, das Seniorenheim könne die Sachen für schätzungsweise 4000 Euro verkaufen, und das decke dann gerade so die Kosten für die Beerdigung und die Räumung des Zimmers. Er brauche das Erbe also nicht anzunehmen. Lukas Domcik ist einverstanden. Zuletzt wird ihm noch ein alter Lederkoffer aufgedrückt. Der enthält nicht die von ihm erhofften Aktienpakete, sondern ein Konvolut mit Tante Theas autobiografischen Notizen.
Daraus geht hervor, dass sie zunächst mit einem Offizier der Waffen-SS verheiratet war und zu den fanatischen Anhängern des Nationalsozialismus gehörte. Der Mann wurde hingerichtet. 1947 heiratete sie Georg Klingenbeil, einen Großgrundbesitzer und Hühnerbaron in Oldenburg und wurde durch ihn zur glühenden Katholikin.
Autorenpflege
Die Rückfahrt unterbricht Lukas Domcik in Frankfurt am Main , um sich mit Ralf Scholz zu treffen, seinem früheren Lektor beim Strohbold Verlag, der ihn mit zum Lindbrunn Verlag nahm, den er inzwischen leitet.
Ralf Scholz erklärt sich bereit, Lukas Domciks neuen Roman „Der König von Elba“ zu veröffentlichen, spricht dabei allerdings von Autorenpflege und rät seinem Besucher dringend, endlich etwas zu schreiben, wofür es einen größeren Markt gibt, zum Beispiel Dokufiktion.
Lukas Domcik denkt gar nicht daran, sich darauf einzulassen.
Wilde Nächte
Während seine Frau Anne ein verlängertes Wochenende in Berlin verbringt, isst Lukas Domcik in seiner Stammkneipe, dem Bühnen-Bistro – und kann seine Augen kaum von der jungen Aushilfskellnerin lassen. Vom Wirt lässt er sich sagen, dass sie Rachel Bringman heißt, aus London kommt und am hiesigen Theater ein Praktikum als Maskenbildnerin macht.
Rachel erfährt von der Ehefrau des Wirts, dass Lukas Domcik Schriftsteller ist. Sie gibt ihm ein Manuskript mit dem Titel „Wilde Nächte“ und bittet ihn, ihr nach der Lektüre zu sagen, ob sie Talent habe.
Daraufhin malt sich Lukas Domcik eine leidenschaftliche Affäre mit der bildschönen Engländerin aus. Aber als er zu lesen beginnt, ist er entsetzt. Offenbar lief der Text durch ein Übersetzungsprogramm:
Sean klickte seine Zähne und frug Chloe, ob sie wirklich war seriös über das.
Dokufiktion
Da kommt Lukas Domcik auf eine Idee, wie er trotz des unbrauchbaren Manuskripts gemeinsam mit Rachel etwas durchziehen könnte. Dabei denkt er an Karl Emerich Krämer, der Mitte der Fünfzigerjahre den deutsch-französischen Dichter George Forestier erfand und sich dafür eine Biografie ausdachte, die den Erfolg der Bücher beflügelte. Oder den Philosophiestudenten Morten Dressier, der Prinzessin Sisowatha Suramarit, eine nach Deutschland geflohene Cousine des kambodschanischen Königs Sihanouk, dafür gewann, ihren Namen für seinen Großessay „Annäherungen ans Verschwinden oder Gefährdetes Brauchtum“ herzugeben. Nur so konnte daraus ein Erfolg werden.
Sagte Ralf Scholz nicht, dass Dokufiktion im Trend sei? Dokufiktion in Verbindung mit dem Autorenfoto einer bildschönen jungen Frau, das müsste ein Bestseller werden! Das Material hat ihm seine Großtante Thea hinterlassen. Er wird aus Emma Theodora Elfriede Westerbrink-Klingenbeil allerdings die ostpreußische Jüdin Rahel Levinson machen. „Vom Memelstrand zum Themseufer. Die Odyssee einer tapferen Frau durch tausendjährige Zeit“, soll der Titel lauten.
Um wahr zu wirken, muss die Wirklichkeit gefälscht werden.
Lukas Domcik schreibt erst einmal ein Exposé und überredet Rachel, bei dem Projekt mitzumachen. Die Einnahmen wollen sie sich 50 zu 50 teilen.
Rachel kehrt zwar nach dem dreiwöchigen Praktikum nach London zurück, aber Lukas Domcik mailt ihr nicht nur das Exposé und ein Probekapitel, sondern auch den Text für eine Mail an den Verlagsleiter Ralf Scholz. Und der beißt, wie erwartet, sofort an.
Ein halbes Jahr lang arbeitet Lukas Domcik an der „Dokufiktion“. Am 5. Dezember schickt er Rachel das komplette Manuskript.
Sie antwortet nicht, und als er bei Mail nachfragt, stellt er fest, dass die Adresse gelöscht wurde.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.
Bestseller
Rachel hat ihn ausgetrickst und wird wohl auch die 20 000 Euro, die sie wegen Geldknappheit von ihm im Frühsommer erbat, nicht zurückzahlen. Obendrein erfährt Lukas Domcik, dass der Vorschuss nicht 40 000, sondern 70 000 Euro betrug.
Der Rechtsanwalt und Notar Dr. Siegfried Becker erklärt ihm, dass er weder gegen die betrügerische Britin noch gegen den Verlag Ansprüche geltend machen könne, aber bei einem juristischen Vorgehen Schadenersatzansprüche des Verlags riskiere.
„Vom Memelstrand zum Themseufer. Die Odyssee einer tapferen Frau durch tausendjährige Zeit“ wird auf der Leipziger Buchmesse im Frühjahr 2006 präsentiert. Lukas Domcik fährt hin und passt Rachel auf dem Weg zu ihrer Lesung in der Oper ab. Sie behauptet, ihn nicht zu kennen und schreit „Stalker“, worauf er von zwei Sicherheitskräften hinaus gebracht wird.
Das Buch wird ein auch in den Feuilletons gefeierter Bestseller. Rachel Bringman-Levinson erhält dafür Preise und wird in alle wichtigen Talk Shows eingeladen.
Durch Zufall entdeckt Lukas Domcik in der Zeitung eine Abbildung des Gemäldes „Haus Wachenfeld“ aus dem Nachlass seiner Tante Thea. Es erbrachte bei einer Auktion in München 75 000 Euro – nicht nur 2000, wie von Schwester Hertha „geschätzt“.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)In seinem Roman „Bestseller“ nimmt Klaus Modick die nicht zuletzt vom Fernsehen beeinflusste Literaturindustrie aufs Korn, die das Dokudrama als Dokufiktion aufgreift und aus dem „Dritten Reich“ ein Genre macht. Nebenbei kritisiert er auch den Theaterbetrieb:
„Der Regisseur hat auch gesagt, dass er sich nur dann richtig verstanden fühlt, wenn die Zuschauer massenweise aus den Vorstellungen flüchten. Das würde dann nämlich beweisen, wie sehr diese Inszenierung den Punkt trifft.“
Der Ich-Erzähler in „Bestseller“ heißt Lukas Domcik. Das ist ein Anagramm von Klaus Modick, und er ist Jahrgang 1951 wie der reale Autor.
Lukas Domcik ist ein mäßig erfolgreicher Schriftsteller, aber sehr von sich eingenommen und überzeugt davon, dass er einen Bestseller schreiben könne. In seiner Selbstüberschätzung wirkt er einfältig, und er lässt sich prompt von anderen über den Tisch ziehen. Darüber hinaus ist er geschwätzig, obwohl er schreibt:
Außerdem bin ich ein erklärter Feind ausufernder Exkurse und hege Misstrauen gegen jedermann, nicht nur gegen einschlägige Schriftstellerkollegen, der mit seinem Anliegen oder Thema nicht pfeilschnell zur Sache kommt, sondern ebenso bedeutungsfrei wie selbstverliebt vor sich hin schwadroniert und einem, wie’s im Teenagerslang nicht unzutreffend heißt, das Ohr abtextet.
Immer wieder verspricht er, zum Punkt zu kommen – und schwadroniert dann seitenlang weiter.
Entschuldigen Sie bitte die Ausschweifung in derlei Literaturbetriebsinterna. Wie kam ich überhaupt darauf?
Dieser Lukas Domcik erzählt chronologisch und linear, er kalauert in „Bestseller“ und versucht sich mit Aphorismen wie dem folgenden:
Die Selbstbegeisterung dünnt im Lauf der Jahre aus wie das Haupthaar, während zugleich die Selbstkritik wie das Körpergewicht zunimmt.
Auch wenn dieser Ich-Erzähler zu leicht zu durchschauen und der Plot deshalb vorhersehbar ist, handelt es sich bei „Bestseller“ um eine unterhaltsame Satire.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2019
Textauszüge: © Verlag Kiepenheuer & Witsch
Klaus Modick: Konzert ohne Dichter