Heinrich von Stephan
Heinrich Stephan wurde am 7. Januar 1831 in Stolp (Pommern) als eines der sechs Kinder des Schneidermeisters und Ratsherrn Friedrich Stephan (1792 – 1860) und dessen Ehefrau Marie Luise (1794 – 1869) geboren. Aufgrund seiner außergewöhnlichen Begabung gab Heinrich Mitschülern Nachhilfeunterricht und legte das Abitur bereits mit siebzehn Jahren ab. Mit einem hervorragenden Zeugnis der Post in Stolp, wo er am 20. Februar 1848 vereidigt worden war, kam er 1849 als Postschreiber nach Marienburg, und im Jahr darauf übernahm ihn die Oberpostdirektion Danzig.
Mit der Prüfung zum höheren Postdienst schloss Heinrich Stephan 1855 seine Ausbildung bei der Oberpostdirektion in Köln ab. Danach wurde er zum Generalpostamt Berlin versetzt, wo er bereits im Herbst 1851 nach der Ableistung seines einjährigen Wehrdienstes drei Monate aushilfsweise tätig gewesen war.
Der berufliche Erfolg ermöglichte es Heinrich Stephan, am 16. Juli 1855 in Hannover die achtundzwanzigjährige ungarische Sängerin Anna Tomala zu heiraten, die jedoch bereits mit 35 Jahren starb. Sechzehn Monate nach ihrem Tod, am 24. September 1863, vermählte sich der inzwischen Zweiunddreißigjährige in Potsdam mit der zehn Jahre jüngeren Elisabeth Balde (1841 – 1926).
1862 leitete Heinrich Stephan Vertragsverhandlungen des Generalpostamts Berlin mit Belgien. Drei Jahre später wurde er Fachreferent für auswärtige Angelegenheiten. Die dafür erforderlichen Fremdsprachenkenntnisse hatte er sich autodidaktisch beigebracht.
Zunächst als Generalpostmeister des Norddeutschen Bundes (ab 1870) und des Deutschen Reiches (ab 1876), später als Staatssekretär des Reichspostamtes (ab 1880) bzw. preußischer Staatsminister (ab 1895) war Heinrich Stephan für die Organisation des Postwesens zuständig.
Die seit seit dem Ende des 16. Jahrhunderts vom Haus Thurn und Taxis betriebene Kaiserliche Reichspost war mit dem von Napoleon erzwungenen Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation am 6. August 1806 untergegangen. Nach und nach mussten die Thurn und Taxis ihre kaiserlichen Postprivilegien an die Nachfolgestaaten des Reichs abtreten.
Während des Krieges mit Österreich nahmen die Preußen die freie und neutrale Stadt Frankfurt am Main ein, und Heinrich Stephan beschlagnahmte am 17. Juli 1866 das Palais Thurn und Taxis mit der Hauptverwaltung. »Es ist das postalische Königgrätz, das hier geschlagen wird, und ich bin der Feldherr«, brüstete er sich. Ihre letzte Postorganisation übergaben die Thurn und Taxis am 1. Juli des folgenden Jahres dem preußischen Königreich. Mit der Gründung des Deutschen Reichs löste die Deutsche Reichspost die Norddeutsche Bundespost ab. Nur die Postverwaltungen in den Königreichen Bayern und Württemberg blieben aufgrund von Zugeständnissen, die Bismarck vor der Reichsgründung gemacht hatte, bis 1920 eigenständig. Die überregionale Postbeförderung wurde durch ein Gesetz vom 28. Oktober 1871 zum Monopol der neuen Reichspost erklärt. Ortsbriefe durften allerdings auch weiterhin von insgesamt etwa achtzig privaten Unternehmen befördert und zugestellt werden. Heinrich Stephan versuchte nicht, sie verbieten zu lassen – das veranlasste sein Nachfolger Viktor von Podbielski – und ließ sich auch in keinen Preiskampf mit den deutlich billigeren Privatunternehmen ein, sondern er hielt mit Service-Verbesserungen der Reichspost dagegen. So wurde um 1890 in Berlin bis zu zwölf Mal am Tag Post ausgetragen, und während der Hauptgeschäftszeit dauerte es kaum eine Stunde, bis ein Ortsbrief den Empfänger erreichte.
Um die Entwicklung des Nachrichtenwesens zu veranschaulichen und Postbedienstete zu schulen, richtete Heinrich Stephan am 24. August 1872 entsprechende Sammlungen in Berlin ein, die er 1875 auch der Öffentlichkeit zugänglich machte. Daraus ging das Reichspostmuseum hervor, für das er ab 1893 ein neubarockes Gebäude in der Leipziger Straße errichten ließ. Es war das erste Postmuseum der Welt.
Ebenso wie die Gründung des Reichspostmuseums diente auch die 1873 ins Leben gerufene halbamtliche Zeitung »Archiv für Post und Telegraphie« der Ausbildung von Postbeamten, ihrer Identifizierung mit dem Unternehmen und dem guten Ruf in der Öffentlichkeit. (Heute würde man »Corporate Identity« sagen.) Heinrich Stephan wurde selbst so populär, dass Briefträger auch als »Stephansboten« bezeichnet wurden. Die Universität Halle verlieh Heinrich Stephan 1873 die Ehrendoktorwürde.
Auf Heinrich Stephans Initiative hin tagte am 15. September 1874 in Bern ein Allgemeiner Postkongress, und am 9. Oktober unterzeichneten Vertreter aus zwanzig europäischen Staaten, der USA und Ägyptens den Gründungsvertrag eines multinationalen Allgemeinen Postvereins, der sich für eine Vernetzung der Postverwaltungen, eine Standardisierung und die ungehinderte Postbeförderung über staatliche Grenzen hinweg einsetzte. 1878 verabschiedete der Postverein eine Weltpostordnung und nannte sich von da an »Weltpostverein« (Union postale universelle, UPU). Bis 1891 fungierte Heinrich Stephan als Präsident des Weltpostvereins, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts bis auf China sowie Gebiete in Arabien und Afrika den ganzen Globus umfasste.
Abgesehen von den Ortsbriefen vereinheitlichte Heinrich Stephan die Postgebühren, führte im Deutsch-Französischen Krieg die seit 1869 in Österreich gebräuchliche Postkarte (»Correspondenz-Karte«) ein, die den Absender von verschnörkelten Formulierungen abhielt und modernisierte die Postbeförderung, indem er die Postkutsche zunehmend durch die Eisenbahn ersetzte. Aufgrund eines Gesetzes vom 20. Dezember 1875 konnte die Reichspost bei jeder regelmäßigen Eisenbahnverbindung die unentgeltliche Mitführung eines Postwagens verlangen.
Am 1. Januar 1876 fasste Heinrich Stephan das Post- und Telegrafiewesen in einer einzigen Behörde zusammen. Parallel zur Reichspost betrieben die privaten Eisenbahnen ihre eigenen Telegrafienetze, die primär der internen Kommunikation dienten, aber mitunter auch der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt wurden.
Am 26. Oktober 1861 hatte der Lehrer Philipp Reis (1834 – 1874) auf einer Sitzung des Physikalischen Vereins in Frankfurt am Main einen von ihm erfundenen Apparat vorgestellt, mit dem sich Sprache bzw. Gesang mehr oder weniger verständlich übertragen ließ. Als eigentlicher Erfinder des Telefons gilt der in die USA ausgewanderte schottische Taubstummenlehrer Alexander Graham Bell (1847 – 1922) – der wiederum Elisha Gray (1835 – 1901) nur um Stunden zuvorgekommen war, als er seine Anlage am 14. Februar 1876 in Washington, D. C., zum Patent angemeldet hatte.
Als Heinrich Stephan durch einen Aufsatz in der Zeitschrift »Scientific American« vom 6. Oktober 1877 von Alexander Graham Bells Erfindung erfuhr, ließ er seine guten Beziehungen zu ausländischen Kollegen spielen und erhielt am 24. Oktober 1877 zwei Bell-Telefone aus London geschenkt. Bereits am nächsten Tag probierte er sie aus und bis zum Monatsende vergrößerte er dabei die Entfernungen zwischen den beiden Apparaten bis auf 150 Kilometer. Am 9. November 1877 unterrichtete er Reichskanzler Otto von Bismarck über die geplante Einführung der Erfindung, die er »Fernsprecher« nannte. Vergeblich protestierte die Bell Telephone Company dagegen, dass Werner von Siemens die in Deutschland nicht patentierten Geräte verbesserte und ohne Lizenz nachbaute. Heinrich Stephan sorgte dafür, dass sich der Fernsprecher zuerst im Büro und später auch im privaten Bereich durchsetzte. Am 27. Mai 1889 wurde bereits die zehntausendste Sprechstelle eingerichtet.
Die Telegrafie und vor allem der Fernsprecher ermöglichten es überhaupt erst, eine so große und dazu noch auf viele Standorte verteilte Behörde wie die Reichspost zu führen, denn wie hätte sonst die im Tagesgeschäft erforderliche Kommunikation stattfinden sollen? Heinrich Stephan forderte seine Mitarbeiter aber auch dazu auf, keine langatmigen Schriftstücke auszutauschen, sondern nach Möglichkeit zu telefonieren und sich dabei kurz zu fassen.
Aus der ehemaligen »Deckerschen Geheimen Ober-Hofbuchdruckerei« und der preußischen Staatsdruckerei in Berlin bildete Heinrich Stephan in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre eine auf höchstem internationalen Niveau arbeitende »Reichsdruckerei«.
Für seine enormen Verdienste beim Aufbau der Reichspost und Einführung des Fernsprechers wurde Heinrich Stephan am 19. März 1885 von Kaiser Wilhelm I. in den Adelsstand erhoben. Heinrich von Stephan durfte er sich nun nennen.
Mitte der Neunzigerjahre war die Reichspost das zweitgrößte Unternehmen im Deutschen Reich. Die meisten der 190 000 Beschäftigten arbeiteten in einem der rund 28 600 Postämter, einer der rund 19 400 Telegrafenanstalten oder gehörten zu den etwa 25 000 Landbriefträgern.
1897 musste Heinrich von Stephan aufgrund einer schweren Diabeteserkrankung ein Bein amputiert werden. Am 8. April 1897 starb er im Alter von 66 Jahren. Unter überwältigender Anteilnahme der Bevölkerung wurde er auf dem Berliner Dreifaltigkeitsfriedhof beigesetzt.
© Dieter Wunderlich 2006
Otto von Bismarck (Kurzbiografie)