Hatun Sürücü
Hatun Sürücü wurde am 17. Januar 1982 in Berlin geboren. Bei ihren Eltern, dem Gärtnergehilfen Kerem Sürücü (1940 – 2007) und seiner Frau Hanin, handelte es sich um sunnitische Kurden aus Erzurum, die 1973 nach Deutschland eingewandert waren, aber die deutsche Sprache nicht erlernten. »Man lebte in Kreuzberg, aber wohl nicht in Deutschland«, wird der Richter Michael Degreif später im Prozess gegen drei ihrer Söhne sagen. Bis auf einen Sohn wurden alle neun Kinder des Ehepaars in Berlin geboren. Hier wuchs Hatun Sürücü mit ihren drei jüngeren Schwestern, ihrem jüngeren Bruder Ayhan und vier älteren Brüdern in einer Vier-Zimmer-Wohnung auf.
Den Besuch des Robert-Koch-Gymnasiums in Kreuzberg brach Hatun Sürücü nach der achten Klasse ab: Die Sechzehnjährige musste in Istanbul einen vom Vater ausgesuchten Cousin heiraten. Als sich Hatun während ihrer Schwangerschaft mit ihrem Mann und dessen Familie überwarf, kehrte sie allein nach Deutschland zurück und wurde im Mai 1999 in Berlin von ihrem Sohn Can entbunden.
Hatun Sürücü weigerte sich, ein Kopftuch zu tragen und geriet wegen ihrer der Tradition widersprechenden Lebensweise immer häufiger mit ihren Eltern und Geschwistern in Streit.
Fünf Monate nach der Niederkunft verließ die Siebzehnjährige die Wohnung der Familie in Kreuzberg und suchte in einem Wohnheim für minderjährige Mütter Zuflucht. Nachdem sie den Hauptschulabschluss nachgeholt hatte,
mietete Hatun Sürücü eine Zwei-Zimmer-Wohnung in Tempelhof und begann am 1. März 2001 beim Ausbildungswerk Kreuzberg eine Ausbildung zur Elektroinstallateurin. Die allein erziehende junge Mutter trug Jeans und T-Shirts, angeblich auch Piercings, rauchte, ging gern aus, hatte Freundinnen und Männerbekanntschaften, machte ihren Führerschein und bewarb sich erfolgreich um einen deutschen Pass. Hatun Sürücü galt als freundlich, zielstrebig, willensstark und selbstbewusst. Zur Hochzeit ihres Bruders Mutlu wurde sie zwar nicht eingeladen, aber sie bemühte sich darum, dass der Kontakt zu ihrer Familie nicht ganz abriss, ließ ihren jüngeren Bruder Ayhan mit Can spielen und brachte das Kind auch zu ihren Eltern. Den konservativen Angehörigen missfiel jedoch ihre Lebensweise. Sie warfen ihr vor, einen schlechten Einfluss auf ihren Sohn auszuüben und ihn nach falschen Vorstellungen zu erziehen.
Im März 2005 sollte die junge Mutter ihre Ausbildung zur Elektroinstallateurin mit der Gesellenprüfung abschließen. Dazu hatte sie jedoch keine Gelegenheit mehr: Am 7. Februar gegen 21 Uhr, drei Wochen nach ihrem 23. Geburtstag, wurde Hatun Sürücü an der Bushaltestelle Oberlandgarten in der Nähe ihrer Wohnung in Berlin-Tempelhof von drei aus nächster Nähe abgegebenen Schüssen getroffen. Zwei Kugeln zerfetzten ihr das Gesicht, die dritte durchschlug ihren Schädel am rechten Ohr. Sie starb noch am Tatort – mit einer brennenden Zigarette in der Hand.
Die Polizei ging von einem »Ehrenmord« aus und nahm am 13. Februar drei der fünf Brüder Hatuns fest: Mutlu, Alpaslan und Ayhan Sürücü. Sie waren fünfundzwanzig, vierundzwanzig bzw. achtzehn Jahre alt und jobbten in einem Internet-Café am Bahnhof Zoo.
In derselben Woche vertraten drei türkischstämmige Schüler einer achten Klasse der Thomas-Morus-Oberschule in Neukölln die Meinung, Hatun Sürücü sei zu Recht getötet worden: »Die hat doch selbst Schuld. Die Schlampe lief rum wie eine Deutsche.« Da äußerten sich keine uneinsichtigten türkischen Greise, sondern Kinder, die in Deutschland aufwuchsen und zur Schule gingen! Die Bestürzung darüber kam zu dem Entsetzen über den Mord hinzu.
Am Tatort wurden Mahnwachen abgehalten; mehr als tausend Menschen demonstrierten vor dem Rathaus Neukölln gegen die »Ehrenmorde«, und bei Veranstaltungen am Internationalen Frauentag (8. März) wurde das Thema ebenfalls aufgegriffen.
Die Ermordung von Hatun Sürücü löste in der Bevölkerung eine heftige Debatte über die Integration in Deutschland lebender Muslime aus. Die Medien berichteten, dass das Schicksal der Dreiundzwanzigjährigen kein Einzelfall war: »Terre des hommes« schätzte die Zahl der von 1996 bis 2005 in Deutschland verübten »Ehrenmorde« auf dreiundfünfzig. Waren Mädchen und Frauen türkischer Familien auch in Deutschland einem archaischen Codex unterworfen, der den Menschenrechten und deutschem Recht widersprach? Lebten sie in einer Parallelgesellschaft? Waren die Integrationsbemühungen gescheitert?
Die Berliner Staatsanwaltschaft klagte Mutlu, Alpaslan und Ayhan Sürücü am 8. Juli 2005 wegen Mordes an. Mit großem Medienecho begann am 14. September der Prozess vor dem Berliner Landgericht. Im Saal drängten sich Reporter und Zuschauer. Der Anwalt des jüngsten der hinter dicken Glasscheiben sitzenden Angeklagten verlas in dessen Namen eine Erklärung: »Ich habe meine Schwester getötet. Ich habe die Tat allein begangen; niemand hat mir geholfen.«
Der Vater, der zur Tatzeit in der Türkei gewesen war, hatte Ayhan eine goldene Armbanduhr mitgebracht. War das ein Zeichen der Anerkennung für den »Ehrenmord«? Viele Prozessbeobachter gingen davon aus, dass Hatuns Tötung von den Männern der Familie gemeinsam beschlossen worden war. Mutlu wurde verdächtigt, die Pistole besorgt zu haben. Mit der Ausführung des Mordes soll dann der Jüngste betraut worden sein, weil dieser noch unter das Jugendstrafrecht fiel.
Die achtzehnjährige Zeugin Melek A., die bei ihrer Befragung am 19. September im Gerichtssaal eine schusssichere Weste unter ihrem weißen Kapuzenpullover trug, sagte aus, ihr früherer Freund Ayhan habe ihr von der Tat erzählt. Sie belastete sowohl ihn als auch die beiden Mitangeklagten, doch am Ende reichten die Beweise gegen Mutlu und Alpaslan Sürücü nicht aus: Das Gericht sprach sie am 13. April 2006 frei und verurteilte nur Ayhan Sürücü zu einer Jugendstrafe von neun Jahren und drei Monaten. Gegen die Freisprüche legte die Staatsanwaltschaft sogleich Revision ein.
Einen Monat vor der Urteilsverkündung, am 9. März 2006, hatte Ayhan Sürücü mit anderen Häftlingen zusammen versucht, auf dem Transport von der Jugendstrafanstalt Kieferngrund zum Kriminalgericht in Moabit zu entkommen, aber im letzten Moment war es ihnen zu gefährlich erschienen, aus der bereits geöffneten Tür des fahrenden Busses zu springen. Das Amtsgericht Tiergarten verurteilte Ayhan Sürücü am 5. April 2007 wegen des gescheiterten Fluchtversuchs sowie einer Prügelei im Gefängnishof und des Besitzes von zwei Tütchen Marihuana zu drei zusätzlichen Monaten Haft. (Nach seiner Freilassung wurde er in die Türkei abgeschoben.)
Im Sommer 2006 brach Hatuns Schwester Songül den Besuch der Eberhard-Klein-Schule in Berlin ab. Kaum jemand glaubte den Familienmitgliedern, die behaupteten, die Sechzehnjährige wolle von sich aus in die Türkei. Man hatte nicht vergessen, dass Hatun Sürücü im gleichen Alter zwangsverheiratet worden war.
Arzu, die zweiundzwanzigjährige Schwester von Songül Sürücü, beantragte das Sorgerecht für ihren Neffen Can, der seit der Ermordung seiner Mutter bei einer Pflegefamilie in Berlin lebte. Das Amtsgericht Tempelhof-Kreuzberg lehnte den Antrag am 20. Dezember 2006 ab, und die Beschwerde der Antragstellerin gegen diese Entscheidung wurde am 24. Juli 2007 vom Landgericht Berlin zurückgewiesen.
Der Bundesgerichtshof in Leipzig hob das Urteil vom 13. April 2006 am 28. August 2007 auf und verwies den Fall zur erneuten Verhandlung ans Berliner Landgericht zurück, aber Mutlu und Alpaslan Sürücü hatten sich in die Türkei abgesetzt. Nach Angaben eines Anwalts wurde Alpaslan Sürücü im Frühjahr 2007 auf dem Flughafen Berlin-Tegel die Einreise verwehrt, weil seine Aufenthaltserlaubnis nach mehr als sechs Monaten Abwesenheit aus Deutschland erloschen war.
2015 wurden Mutlu und Alpaslan Sürücü in der Türkei angeklagt. Der Prozess begann im Januar 2016. Beide wurden im Mai 2017 aus Mangel an Beweisen freigesprochen.
Literatur:
Matthias Deiss und Jo Goll: Ehrenmord. Ein deutsches Schicksal (Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2011, 256 Seiten).
Nachtrag:
Nach einem Drehbuch von Florian Oeller und mit Almila Bagriacik in der Hauptrolle drehte Sherry Horman einen Film über Hatun Sürücü: „Nur eine Frau“.
Originaltitel: Nur eine Frau – Regie: Sherry Hormann – Drehbuch: Florian Oeller – Kamera: Judith Kaufmann – Schnitt: Bettina Böhler – Musik: Fabian Römer – Darsteller: Almila Bagriacik, Aram Arami, Merve Aksoy, Mehmet Atesci, Samir Fuchs, Özgür Karadeniz, Christian Kuchenbuch, Jacob Matschenz, Meral Perin, Rauand Taleb, Lea Willkowsky, Lara Aylin Winkler u.a. – 2019; 90 Minuten
© Dieter Wunderlich 2007 / 2011 / 2016 / 2017
»Ehrenmord«
Seyran Ates (Kurzbiografie)
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