Flora Tristan
Flora Tristan (eigentlich: Flora Célestine Thérèse Henriette Tristan Moscoso) wurde am 7. April 1803 in Paris als Tochter einer Französin und eines peruanischen Adeligen geboren und wuchs in einem schlossartigen Anwesen auf. Als Flora Tristan vier Jahre alt war, erlag ihr Vater einem Schlaganfall (4. Juni 1807) und ließ seine Familie mittellos zurück. Weil er und seine Frau sich nur kirchlich hatten trauen lassen, galt Floras Mutter außerdem nach französischem Recht nicht als Witwe.
Kurz nach ihrem sechzehnten Geburtstag begann Flora Tristan eine Lehre bei dem zwölf Jahre älteren Lithografen André Chazal, der sie am 3. Februar 1821 heiratete. Bald erwies sich die von Flora aus Vernunftgründen eingegangene Ehe als Hölle, denn André Chazal schlug sie, wenn er betrunken war. 1822 bzw. 1824 brachte sie zwei Söhne zur Welt: Alexandra und Ernest-Camille. (Sie sollten beide nicht alt werden.) Während Flora mit ihrem dritten Kind schwanger war – Aline wurde am 16. Oktober 1825 geboren – verließ sie ihren Mann und versteckte sich in der Provinz vor ihm. Nachdem sie einige Zeit als Verkäuferin in Rouen gearbeitet hatte, wurde sie von der englischen Familie Spence als Gesellschafterin für eine Reise in die Schweizer Berge eingestellt und anschließend als Dienstmädchen mit nach England genommen. Ihre eigenen Kinder hatte Flora, die wieder ihren Mädchennamen Tristan verwendete, bei Pflegemüttern untergebracht.
Flora Tristan las viel, bildete sich autodidaktisch und wurde schließlich von einem Verwandten namens Don Mariano de Goyeneche in Bordeaux aufgenommen, der sie für eine Jungfrau hielt und nicht wissen durfte, dass sie drei Kinder geboren und ihren Mann verlassen hatte. Fast ein Jahr blieb Flora Tristan in Bordeaux, dann bezahlte Don Mariano ihr die Überfahrt nach Peru, zu der ebenso angesehenen wie steinreichen Familie ihres verstorbenen Vaters Mariano Tristán y Moscoso. Am 7. April 1833 ging sie an Bord eines Schiffes, das sie in viereinhalb Monaten nach Südamerika brachte. Am Sitz der Familie in Arequipa musste sie drei Monate warten, bis ihr vierundsechzigjähriger Onkel Don Pío Tristán y Moscoso von seinen Zuckerrohrplantagen zurückkam und ihr unmissverständlich klarmachte, dass er sie aufgrund der rechtlich nicht gültigen Eheschließung ihrer Eltern nur als illegitime und deshalb nicht erbberechtigte Tochter seines verstorbenen Bruders betrachtete. Peru wurde von politischen Unruhen erschüttert. Während Flora Tristans Aufenthalt in Arequipa trieb Marschall Agustín Gamarra am 3. Januar 1834 die Garnison von Lima zu einem Putsch. Don Pío musste wieder einmal um seine Besitzungen und seinen Wohlstand fürchten.
Am 25. April 1835 verabschiedete Flora Tristan sich von ihren Verwandten in Arequipa und kehrte nach Frankreich zurück. Dort holte sie ihre Tochter Aline aus Angoulême und schickte sie auf ein Lyzeum in Paris. André Chazal entführte das Kind zweimal – am 31. Oktober 1835 und am 28. Juli 1836 –; am 20. November 1836 ließ er es der Mutter durch die Polizei wegnehmen,
denn er galt vor dem Gesetz nach wie vor als Floras Ehemann und Erziehungsberechtigter ihrer gemeinsamen Kinder. 1837 beschuldigte ihn Flora Tristan, Aline vergewaltigt zu haben, aber das Gericht hielt die Vorwürfe für unbewiesen, und André Chazal kam mit einer geringfügigen Strafe davon. Aline musste aufgrund einer gerichtlichen Anordnung ein Internat besuchen. Ende 1837 erschien das Buch „Meine Reise nach Peru. Fahrten einer Paria“, in dem Flora Tristan über ihre Beobachtungen, Erlebnisse und Erfahrungen nicht nur in Arequipa berichtete. Daraufhin kaufte Chazal Anfang 1838 zwei Pistolen und Munition. Am 10. September 1838 passte er Flora Tristan auf der Straße ab und schoss aus wenigen Metern Entfernung auf sie. Die Kugel drang ihr durch die Achsel in den Oberkörper ein und konnte nicht herausoperiert werden. Chazal wurde zu zwanzig Jahren Zwangsarbeit verurteilt.
In Paris begann Flora Tristan sich als Sozialistin und Frauenrechtlerin zu engagieren. Im Sommer 1839 sah sie sich vier Monate lang in London und englischen Industriestädten um. Um eine Sitzung des britischen Parlaments verfolgen zu können, musste sie sich als Mann verkleiden, denn Frauen waren nicht zugelassen. Ihre Eindrücke von den Lebensverhältnissen der Arbeiter und Prostituierten sowie aus Gefängnissen und Irrenhäusern hielt sie in einem Buch mit dem Titel „Im Dickicht von London oder Die Aristokratie und die Proletarier Englands“ fest. 1843 – vier Jahre vor Karl Marx und Friedrich Engels („Kommunistisches Manifest“, 1847) – rief Flora Tristan die Proletarier in einer Kampfschrift dazu auf, sich in einer Arbeiterunion zu organisieren („L’union ouvrière“, 1843).
1844 reiste Flora Tristan monatelang per Postkutsche und Flussdampfer durch Frankreich, um die Arbeiter in Auxerre (April), Dijon, Lyon (Mai/Juni), Roanne, Avignon (Juli), Marseille, Toulon (Juli/August), Nîmes, Montpellier, Béziers, Toulouse (September) und Bordeaux durch Vorträge aufzurütteln, Unternehmern ins Gewissen zu reden und ihr Anliegen Journalisten zu erläutern. Ende September 1844 brach sie beim Besuch eines Konzerts von Franz Liszt (1811 – 1886) im Grand Théâtre von Bordeaux zusammen. Der Anwalt Charles Lemonnier und seine Frau Elise, beides altruistische Anhänger des Sozialisten Claude Henri de Rouvroy, Graf von Saint-Simons (1760 – 1825), holten Flora Tristan zu sich und pflegten sie, bis sie am 14. November 1844 im Alter von einundvierzig Jahren an Typhus starb.
Ihre Tochter Aline heiratete 1847 den französischen Journalisten Clovis Gauguin und brachte am 7. Juni 1848 in Paris ihren später weltberühmten Sohn Paul Gauguin zur Welt.
Flora Tristan: Bibliografie (Auswahl)
- Meine Reise nach Peru. Fahrten einer Paria (1837)
- Im Dickicht von London oder Die Aristokratie und die Proletarier Englands (1840)
- L’union ouvrière (1843)
Literatur über Flora Tristan
- Berta Rahm: Flora Tristan. Zürich 1971
- Gerhard Leo: Aufruhr einer Paria. Das abenteuerliche Leben der Flora Tristan. Berlin 1990
- Mario Vargas Llosa: Das Paradies ist anderswo. Madrid 2003
- Susanne Knecht: Flora Tristan und Maria Graham, Lady Callcott. Die zweite Entdeckung Lateinamerikas. Hamburg 2004
© Dieter Wunderlich 2005
Paul Gauguin (kurze Biografie)
Mario Vargas Llosa: Das Paradies ist anderswo