Ferdinand Lassalle


Ferdinand Lassalle (eigentlich: Lassal) wurde am 11. April 1825 in Breslau als Sohn des wohlhabenden jüdischen Seidenhändlers Heymann Lassal und dessen Ehefrau Rosalie geboren. Schon als Kind fiel er durch Tatkraft, Selbstbewusstsein und Widerspruchsgeist auf. Nach dem Besuch von fünf Klassen des Maria-Magdalenen-Gymnasiums in Breslau (1835 – 1840) wechselte Ferdinand Lassalle im Alter von fünfzehn Jahren auf eine Handelsschule in Leipzig, doch weil er kein »Ladenschwengel« werden wollte, brach er die Ausbildung 1841 gegen den Willen seines Vaters ab.

Nicht kaufmännische Fragen beschäftigten Ferdinand Lassalle, sondern er begeisterte sich für die politisch engagierte Dichtung beispielsweise von Heinrich Heine. Als Schriftsteller wollte er sich für die seiner Meinung nach »von Tyrannen mit Füßen getretenen« Rechte der Menschen einsetzen. Ohne dass sein Vater davon erfuhr, kehrte er 1842 ins Elternhaus zurück, versteckte sich mit Unterstützung seiner Mutter und seiner Schwester Friederike in einer Dachkammer und büffelte für das Abitur. Erst als er die Reifeprüfung bestanden hatte, offenbarte er sich seinem Vater, der sich nun schweren Herzens damit einverstanden erklärte, dass sein Sohn Geisteswissenschaften studierte, statt sich auf eine gut bezahlte kaufmännische Tätigkeit vorzubereiten. Ferdinand Lassalle immatrikulierte sich an der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau und belegte zunächst dort, dann an der Humboldt-Universität in Berlin die Fächer Philologie, Philosophie und Geschichte (1842 – 1846).

Um keine Zeit zu verschwenden, vernachlässigte Ferdinand Lassalle mitunter sogar seine Ernährung. Am intensivsten beschäftigte er sich mit der Philosophie von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831), die ihn fürs Leben prägte. Anders als Karl Marx (1818 – 1883), der den Staat abschaffen wollte, teilte Ferdinand Lassalle mit Hegel die Wertschätzung des Staates, den er für erforderlich hielt, um die »Entwicklung des Menschengeschlechts zur Freiheit« zu erreichen. Wie Hegel betrachtete er den Staat als »Einheit der Individuen in einem sittlichen Ganzen, eine Einheit, welche die Kräfte aller Einzelnen […] millionenfach vermehrt«. Die Epochen der Geschichte hielt Ferdinand Lassalle für Entwicklungsstufen zur Freiheit. Dabei erwartete er kein kontinuierliches Fortschreiten, sondern rechnete mit revolutionären, aber nicht notwendigerweise gewaltsamen Umschwüngen: »Revolution heißt Umwälzung, und eine Revolution ist somit stets dann eingetreten, wenn, gleichviel ob mit oder ohne Gewalt – auf die Mittel kommt es dabei gar nicht an – ein ganz neues Prinzip an die Stelle des bestehenden Zustandes gesetzt wird.« Wie Karl Marx erstrebte Ferdinand Lassalle die Aufhebung von Privilegien in einer sozialistischen Gesellschaft, doch er war kein Materialist, sondern hielt an der von Hegel übernommenen Überzeugung fest, dass die Geschichte von Ideen bestimmt wird. Vom Begriff der Gesellschaftsklasse, geschweige denn von der Ideologie des Klassenkampfes, hielt Ferdinand Lassalle nichts.

Bei einem Aufenthalt in Paris befreundete Ferdinand Lassalle sich 1844/45 mit Heinrich Heine, der seine »Passion und Verstandesklarheit« schätzte.

Mit zwanzig lernte der Student Ferdinand Lassalle die doppelt so alte Gräfin Sophie von Hatzfeldt (1805 – 1881) kennen, »eine schöne und imposante Erscheinung«, die als Sechzehnjährige von ihrer Familie mit ihrem Cousin Edmund von Hatzfeldt-Wildenburg verheiratet worden war. Statt schweigend hinzunehmen, dass ihr Ehemann sie schikanierte und mit Mätressen betrog, lehnte Sophie sich dagegen auf.

Sie wurde deshalb verstoßen und durfte nicht einmal mehr ihre Kinder sehen. Um ihr beizustehen, beschäftigte sich Ferdinand Lassalle, der nach dem Studium als Privatgelehrter in Berlin lebte, mit juristischen Fragen. Im Verlauf von drei Dutzend Gerichtsprozessen, die sich von 1846 bis 1854 hinzogen, wurde er selbst ein halbes Jahr lang eingesperrt (Februar – August 1848). Ein Gericht sprach ihn dann allerdings von der Anschuldigung frei, den Diebstahl einer Kassette mit Dokumenten einer Mätresse Edmund von Hatzfeldts in Auftrag gegeben zu haben. Schließlich erreichte Ferdinand Lassalle, dass von Hatzfeldt aufgab, in die Scheidung einwilligte, Sophie eine Apanage zugestand und ihr den Kontakt mit ihren Kindern nicht länger verbot. Ob Ferdinand Lassalle mit seiner Mandantin eine Affäre hatte, ist nicht bekannt. Jedenfalls wohnte er 1856/57 bei ihr in Düsseldorf, blieb ihr auch in den folgenden Jahren eng verbunden, und die Rente, die ihm Sophie Gräfin von Hatzfeldt aussetzte, erlaubte ihm einen verschwenderischen Lebensstil.

Während der Hatzfeldt-Prozesse schrieb Ferdinand Lassalle einige Artikel für die von Karl Marx in Köln herausgegebene »Neue Rheinische Zeitung«. Obwohl er sich zu dessen Mitstreitern zählte, wurde er nicht in den rheinischen Zirkel der Revolutionäre aufgenommen. Als sich abzeichnete, dass die Nationalversammlung in der Paulskirche in Frankfurt am Main mit dem Vorhaben scheitern würde, die deutschen Territorien zu vereinen und für den angestrebten Nationalstaat eine Verfassung auszuarbeiten, propagierte Ferdinand Lassalle eine gewaltsame Auseinandersetzung mit den übermächtigen Kräften der Restauration – und wurde deshalb im November 1848 erneut festgenommen und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.

1851 gründete Ferdinand Lassalle einen illegalen Zirkel revolutionärer Arbeiter in Düsseldorf. Einige Zeit später zog er nach Berlin, schrieb das Drama »Franz von Sickingen« in fünf Akten und veröffentlichte unter dem Titel »Die Philosophie Herakleitos des Dunklen von Ephesos« sein philosophisches Hauptwerk, an dem er seit seiner Studentenzeit gearbeitet hatte. Als er sich dafür aussprach, die Stellung des preußischen Königreichs in Deutschland zu stärken (»Der italienische Krieg und die Aufgabe Preußens«, 1859), zog er sich den Zorn der Kommunisten zu, aber Karl Marx besuchte ihn dennoch 1861 elf Tage lang in Berlin.

Weil Ferdinand Lassalle zu der Auffassung gelangte, dass sich seine politische Ideen nicht mit dem liberalen Bürgertum bzw. der Fortschrittspartei im Preußischen Landtag realisieren ließen, wandte er sich der Arbeiterschaft zu, die sich damals noch vorwiegend aus kleingewerblichen Handwerkern zusammensetzte, von denen etwa 15 000 in der 1848 gegründeten »Allgemeinen Deutschen Arbeiterverbrüderung« organisiert waren. Im April 1862 veröffentlichte Ferdinand Lassalle seine Rede »Über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes«. Kurz darauf besuchte er Karl Marx in London, aber der Revolutionär ließ sich auf kein gemeinsames Vorgehen mit ihm ein.

Selbstbewusste Arbeiter, die sich gegen die Bevormundung durch sozial engagierte liberale Bürger in den seit 1833 entstandenen »Arbeiterbildungsvereinen« sträubten, wollten die Arbeiterschaft mobilisieren. In diesem Zusammenhang wurde Ferdinand Lassalle im Dezember 1862 – ungeachtet seines luxuriösen Lebensstils – eingeladen, dem Zentralkomitee der »Arbeiterzentrale« in Leipzig seine politischen Vorstellungen zu erläutern. Im Frühjahr 1863 kam Ferdinand Lassalle der Aufforderung nach, die Einberufung und Durchführung eines Arbeiterkongresses zu unterstützen (»Offenes Antwortschreiben an das Zentralkomitee zur Berufung eines allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses«, 1. März 1863). Ferdinand Lassalle ging jedoch gleich einen Schritt weiter, gründete am 23. Mai 1863 in Leipzig den »Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein« (ADAV) zur »Vertretung der sozialen Interessen des deutschen Arbeiterstandes« und ließ sich für fünf Jahre zum Präsidenten mit weitreichenden Vollmachten wählen.

Gewerkschaften lehnte Ferdinand Lassalle ab. Statt Tarifautonomie propagierte er staatlich vorgeschriebene Löhne (»ehernes Lohngesetz«). In der Überzeugung, Staat und Gesellschaft durch die Abschaffung des 1849 von König Friedrich Wilhelm IV. oktroyierten preußischen Dreiklassenwahlrechts in seinem Sinne weiterentwickeln zu können, machte er die Einführung eines allgemeinen, gleichen und direkten Wahlrechts für Männer zu einer Hauptforderung des »Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins«. Von einer entsprechenden, auf »friedlichem und legalem Wege, insbesondere durch das Gewinnen der öffentlichen Überzeugung« erzielten Verfassungsänderung erwartete er »einen Aufschwung des Geistes, die Entwicklung einer Summe von Glück, Bildung, Wohlsein und Freiheit […], wie sie ohne Beispiel dasteht in der Weltgeschichte«. Obwohl Ferdinand Lassalle darüber auch 1863/64 mit Reichskanzler Otto von Bismarck diskutierte, wurde er angeklagt, »die besitzlosen Klassen zum Hass und zur Verachtung gegen die Besitzenden öffentlich angereizt zu haben« und musste 1863 noch einmal für insgesamt fünf Monate ins Gefängnis.

Bei einem Kuraufenthalt verliebte sich Ferdinand Lassalle 1864 in Helene von Dönninges. Als ihm der Historiker und bayerische Diplomat Wilhelm von Dönniges die Hand seiner neunzehnjährigen Tochter verweigerte, forderte ihn der beleidigte Arbeiterführer zum Duell. Wilhelm von Dönniges ließ sich von Helenes Verlobtem vertreten, dem rumänischen Prinzen Janko von Racowicza. Am 28. August 1864 um 7.30 Uhr stellten sich die Duellanten in Genf-Carouge auf. Janko von Racowicza feuerte zuerst und traf seinen Gegner in die Genitalien. Lassalles Schuss ging ins Leere. Nach drei Tagen erlag der Neununddreißigjährige seiner Verletzung. Er wurde auf dem jüdischen Friedhof in Breslau bestattet.

Ferdinand Lassalle hatte zwar nicht die Arbeiterbewegung initiiert, aber mit seinen Ideen und der Gründung des »Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins« einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Deutschland geleistet. Der »Allgemeine Deutsche Arbeiterverein« vereinigte sich 1875 in Gotha mit der 1869 in Eisenach gegründeten »Sozialdemokratischen Arbeiterpartei« zur »Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands«, die sich 1890 in »Sozialdemokratische Partei Deutschlands« (SPD) umbenannte.

Literatur über Ferdinand Lassalle und die Arbeiterbewegung

  • Bernhard Becker: Geschichte der Arbeiter-Agitation Ferdinand Lassalles. Nach authentischen Aktenstücken (1874, Nachdruck: Berlin / Bonn 1978)
  • Eduard Bernstein: Ferdinand Lassalle und seine Bedeutung für die Arbeiterklasse
    (Berlin 1919)
  • Eduard Bernstein: Ferdinand Lassalle. Eine Würdigung des Lehrers und Kämpfers
    (Berlin 1919)
  • Eduard Bernstein (Hg.): Ferdinand Lassalles Reden und Schriften (3 Bände, London 1892/1893)
  • Hans Peter Bleuel: Ferdinand Lassalle oder Der Kampf wider die verdammte Bedürfnislosigkeit (Frankfurt/M 1982)
  • Friedrich-Ebert-Stiftung (Hg.): Ferdinand Lassalle 1825 –1975 (Bonn 1975)
  • Helga Grebing: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (München 1966)
  • Stefan Heym: Lassalle (München 1998)
  • Friedrich Jenaczek (Hg.), Ferdinand Lassalle. Reden und Schriften. Aus der Arbeiteragitation 1862 – 1864 (München 1970)
  • Paul Kampffmeyer: Lasalle, Erwecker der Arbeiterkulturbewegung (Weimar 1925)
  • Max Kegel: Ferdinand Lassalle (Stuttgart 1889)
  • Christiane Kling-Mathey: Gräfin Hatzfeldt 1805 – 1881. Eine Biographie (Bonn 1989)
  • Gustav Mayer (Hg.): Ferdinand Lassalle. Nachgelassene Briefe und Schriften (6 Bände, Stuttgart / Berlin 1921 – 1925)
  • Gustav Mayer: Bismarck und Lassalle. Ihr Briefwechsel und ihre Gespräche (Berlin 1928)
  • Susanne Miller und Hans-Jochen Vogel: Ferdinand Lassalle. Historische Leistung und aktuelle Bedeutung (Bonn 1987)
  • Wilhelm Mommsen: Bismarck und Lassalle (Berlin 1928 )
  • Thilo Ramm: Ferdinand Lassalle. Der Revolutionär und das Recht (Berlin 2004)
  • Julius Vahlteich: Ferdinand Lassalle und die Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung (1904, Nachdruck: Berlin / Bonn 1978)

© Dieter Wunderlich 2006

Joachim Gauck - Winter im Sommer ‒ Frühling im Herbst
"Winter im Sommer – Frühling im Herbst" ist mit Ausnahme der ersten fünf Kapitel keine Autobiografie, sondern der Rückblick eines nachdenklichen Zeitzeugen auf das Leben in der DDR, die Wende und den Umgang mit den Stasi-Akten.
Winter im Sommer ‒ Frühling im Herbst

 

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.