Ein ganz gewöhnlicher Jude
Ein ganz gewöhnlicher Jude
Inhaltsangabe
Kritik
Ein Herr Gebhardt (Samuel Fintzi), der an der Kurt-Tucholsky-Schule in Hamburg als Lehrer tätig ist, möchte einer achten Klasse im Sozialkundeunterricht die Gelegenheit geben, einen „jüdischen Mitbürger“ kennenzulernen. Deshalb schreibt er an die jüdische Gemeinde:
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass nichts so anschaulich und einprägsam wirkt wie eine persönliche Begegnung, und möchte deshalb gerne einen jüdischen Mitbürger einladen, an einer Unterrichtsstunde teilzunehmen und Fragen der Schüler zu beantworten. Leider kenne ich persönlich kein Mitglied Ihrer Religionsgemeinschaft.
Ein älterer Herr (Siegfried Kernen) gibt die Anfrage an den 1959 in der Bundesrepublik Deutschland geborenen Journalisten Emanuel Goldfarb (Ben Becker) weiter und bittet ihn, die Aufgabe zu übernehmen. Goldfarb lehnt es ab („noch will ich nicht ausgestopft werden“) und setzt sich zu Hause an die Schreibmaschine, um seine Absage in einem Brief an Herrn Gebhardt zu begründen:
„Jüdischer Mitbürger“, „Mitglied Ihrer Religionsgemeinschaft“ – Jude heißt das! Ganz einfach: Jude. Sie wollen mit Ihren Schülern darüber reden, und Ihre Finger weigern sich, das Wort in den Computer einzutippen. Wieso? Jude ist kein Schimpfwort. Ihre political correctness hat da keinen Platz. Jude zu sein, ist keine Behinderung, an die man nicht gern erinnert wird. Es ist … o Gott … wenn ich selbst wüsste, was es eigentlich ist!
Nach wenigen Minuten hält es Goldfarb nicht mehr an der Schreibmaschine. Stattdessen greift er zum Diktiergerät, um die auf ihn einstürmenden Gedanken festzuhalten. In einer Mischung aus Zorn, Trotz und Verzweiflung beginnt er darüber nachzudenken, was es bedeutet, in Deutschland Jude zu sein. Seine Eltern hatten den Holocaust überlebt, weil sie rechtzeitig nach England emigriert waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg richteten sie in Deutschland wieder ein Haushaltwarengeschäft ein. Mit der Zeugung eines Sohnes, vermutet Emanuel Goldfarb, habe sein Vater beweisen wollen, dass es richtig gewesen war, nach Deutschland zurückzukehren. Die Mutter litt still unter den Unzulänglichkeiten ihres Sohnes, weil sie befürchtete, dass Nachbarn die Ursache dafür in seinem Judentum sahen. Unter diesem Druck litt Emanuel Goldfarb als Kind; die Geschichte der Juden lastete auf seinen Schultern. Obwohl der Vater Atheist war, hielt er an jüdischen Traditionen fest, und Emanuel Goldfarb, der inzwischen Soziologie studierte, wagte es erst nach dessen Tod, die Maschinenbau-Studentin Hanna zu heiraten, die so wenig katholisch war wie er jüdisch: Er besaß zwar einen Chanukka-Leuchter, aber der bedeutete nicht mehr als der Weihnachtsbaum. Trotzdem scheiterte die Ehe nach der Geburt eines Sohnes, weil Emanuel Goldfarb auf Michaels Beschneidung bestand und Hanna damit gegen sich aufbrachte.
Zwischendurch ruft Goldfarbs Freundin Claudia an und möchte sich mit ihm treffen, doch er sagt mit der Begründung ab, mitten in einer wichtigen Arbeit zu stecken.
Er stellt sich vor, wie ihn die Schüler fragen, was er von der israelischen Politik halte. Er hat dazu zwar eine Meinung, aber er hasst die Frage. Warum stellt man sie nicht Herrn Schulze oder Herrn Meier? Warum hält man Israel für die eigentliche Heimat eines jeden Juden?
Mehr als die Angst vor Antisemiten treibt ihn der Zorn auf die Wohlmeinenden um, die ihn durch ihr Bemühen um politisch korrektes Verhalten zum Außenseiter machen und es ihm ungewollt verwehren, „ein ganz gewöhnlicher Jude“ zu sein.
Ein gewöhnlicher Jude in Deutschland – das ist wie ein ganz gewöhnliches Spitzmaulnashorn in Afrika. Ein Widerspruch in sich. Wir sind zu selten geworden, wir Nashörner. Man hat uns zu lange gejagt und abgeschossen. Wir sind ein Fall für die Tierschützer geworden. Für Greenpeace und den Verein für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Nashörner guckt man sich im Zoo an; Juden lädt man sich in den Unterricht ein.
Nach mehr als einer Stunde hört Emanuel Goldfarb sich die gerade aufgenommenen Bänder an und tippt einen langen Brief an Herrn Gebhardt.
Und dann wird er doch von Herrn Gebhardt vor der Schulklasse begrüßt. Goldfarb setzt sich und wartet auf Fragen, aber die Schüler bleiben erst einmal unbeteiligt sitzen. Da huscht ein Lächeln über Goldfarbs Gesicht.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Bis auf drei kurze Szenen spielt der neunzig Minuten lange Kinofilm „Ein ganz gewöhnlicher Jude“ von Charles Lewinksy (Drehbuch) und Oliver Hirschbiegel (Regie) in einer Wohnung, in der sich eine einzige Person befindet: der von Ben Becker dargestellte Protagonist Emanuel Goldfarb. Der jüdische Journalist, der gerade von einem älteren Mitglied der jüdischen Gemeinde in Hamburg nach Hause gebracht wurde, geht durch die Räume seiner Wohnung, einmal auch kurz in den Keller; er setzt sich, steht wieder auf, kocht Kaffee, trinkt ein Glas Wein, schaut Erinnerungsfotos an – und spricht in sein Diktiergerät. Am Ende sitzt er vor der Schulklasse des Lehrers Gebhardt. Einige Einstellungen sind mehr als drei Minuten lang. Der Film fesselt nicht durch action oder suspense, sondern durch die von Emanuel Goldfarb ausgedrückten Gedanken und Emotionen.
„Ein ganz gewöhnlicher Jude“ ist der fast in Echtzeit inszenierte Monolog eines 1959 in der Bundesrepublik geborenen deutschen Juden, der sich mit seiner Situation auseinandersetzt. Dabei beschäftigt ihn weniger die Angst vor Antisemiten, als der Zorn auf die Wohlmeinenden, die ihn durch ihr Bemühen um politisch korrektes Verhalten zum Außenseiter machen und es ihm ungewollt verwehren, „ein ganz gewöhnlicher Jude“ zu sein. In dem sensiblen, intelligenten und zynischen Text des Schweizer Schriftstellers Charles Lewinksy funkeln brillante Formulierungen. Obwohl es sich um eine geschliffene Schriftsprache handelt, gelingt es Ben Becker, den Monolog so wirken zu lassen, als entstünde er spontan aufgrund überzeugender Emotionen und Assoziationen. Das ist eine grandiose Leistung des Schauspielers, der mit seinen blonden Haaren und blauen Augen nicht dem Klischee eines Juden entspricht.
Ich wollte einen Schauspieler haben, der nicht dem folkloristischen Bild des „Juden“ entspricht. Ben wirkt eher wie ein teutonischer Typus. Ich wusste nicht, dass er Jude ist. Das habe ich erst erfahren, als ich ihn angesprochen habe. (Oliver Hirschbiegel)
Charles Lewinsky wollte es zunächst offen lassen, ob Emanuel Goldfarb am Ende der Einladung in die Schule folgt. Oliver Hirschbiegel bevorzugte jedoch einen optimistischeren Schluss: Der Lehrer Gebhardt begrüßt Emanuel Goldfarb vor der Schulklasse. Aber wir erfahren nicht, wie es weitergeht.
Goldfarb geht nicht in die Schule, um eine versöhnliche Geste zu machen, sondern weil er klug genug ist zu wissen, dass er sich dem Thema stellen muss. Der einzige Weg weiterzukommen, ist zuzuhören und sich eine Offenheit zu bewahren und im Zweifelsfall zu lachen. Das ist der logische und für mich einzig denkbare Schluss. Das Sprechen muss weitergehen und das Zuhören muss weitergehen. (Oliver Hirschbiegel)
Ich finde es reizvoll, mit einem Fragezeichen aus einem Film herauszugehen. Dieses letzte Lächeln ist übrigens das Einzige, was improvisiert war. Es ist aus mir herausgeplatzt und Oliver hat es dann genommen. Es ist ein offenes Lächeln, das optimistisch wirkt und einem Mut macht, und das finde ich nach einer so langen, teilweise zermürbenden Auseinandersetzung sehr erlösend. (Ben Becker)
„Mein letzter Film“ und „Ein ganz gewöhnlicher Jude“ sind die ersten beiden Teile einer geplanten Trilogie.
Ein dritter Teil ist bereits geschrieben, wird aber von einem anderen Regisseur inszeniert werden.“ (Oliver Hirschbiegel)
Der Text von Charles Lewinsky (*1946) ist auch als Buch (Rotbuch Verlag 2006, 96 Seiten) und von Ben Becker gesprochenes Hörbuch (Hoffmann und Campe 2006, ca. 70 Min) erschienen.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)
Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007
Oliver Hirschbiegel: Trickser
Oliver Hirschbiegel: Das Experiment
Oliver Hirschbiegel: Mein letzter Film
Oliver Hirschbiegel: Der Untergang