Allein
Allein
Inhaltsangabe
Kritik
Ein Morgen in Essen. Eine zarte junge Frau steht auf, zieht einen Slip an, schlüpft in ein T-Shirt und fordert den nackten Mann in ihrem Bett zum Gehen auf. „Wir ficken zusammen, mehr ist nicht.“ Die Frau, sie heißt Maria (Lavinia Wilson), hat regelmäßig Sex mit Wolfgang (Richy Müller), einem doppelt so alten Macho, von dem sie weiter nichts wissen will.
Maria leidet am Borderline-Syndrom: Einerseits ist sie nicht in der Lage, sich auf eine engere Beziehung einzulassen, andererseits fürchtet sie sich vor dem Alleinsein und betäubt ihre Angst mit wahllosem Sex, Alkohol und Aufputschmitteln oder lenkt sich durch Schmerz davon ab, indem sie sich mit einer Rasierklinge in den Unterarm schneidet. In der Universitätsbibliothek, wo sie zurückgegebene Bücher einsortiert, kommt sie wegen ihrer nächtlichen Exzesse häufig zu spät und unausgeschlafen.
Nur ihre Freundin Sarah (Victoria Mayer) weiß über sie Bescheid, aber Sarah kann trotz ihrer Besorgtheit und ihres Mitgefühls Maria nicht wirklich helfen und kommt ihr nur zeitweilig näher, weil Maria allen Menschen grundsätzlich misstraut.
Dann lernt Maria den schüchternen und sensiblen, gutmütigen und aufrichtigen Tiermedizin-Studenten Jan (Maximilian Brückner) kennen. Bei ihm spürt sie eine lang vermisste liebevolle Verlässlichkeit. Zögernd baut sie Vertrauen zu ihm auf, und er lässt sich auf sie ein, obwohl sie ihm mit ihren plötzlichen und unerklärlichen Stimmungsschwankungen zu schaffen macht. In der Hoffnung auf einen Neuanfang gibt Maria die One-Night-Stands auf und beendet das Verhältnis mit Wolfgang. Als Jan sie zu einem Wochenendausflug einlädt, freut sie sich und genießt die zwei Tage mit ihm am Meer. Danach folgt sie Sarahs Rat und überrascht Jan mit einem schönen Essen bei Kerzenschein. Unbekümmert erzählt Jan ihr dabei, dass er und sein Kommilitone Nico (Tobias van Dieken) an einer Schimpansen-Exkursion teilnehmen und dazu am nächsten Morgen nach Holland reisen werden. Jan ist begeistert, aber für Maria ist es eine Katastrophe, denn sie wird wieder für einige Zeit allein sein.
Sobald Jan fort ist, greift Maria erneut zur Flasche, sucht Wolfgang in dessen Stammkneipe auf und schläft mit ihm in seiner Wohnung. Am Morgen setzt sie sein Badezimmer absichtlich unter Wasser und geht, bevor er aufsteht. Weil sie erneut zu spät in die Bibliothek kommt, kündigt ihr der Vorgesetzte. Verzweifelt ruft Maria ihre Freundin an. Sarah nimmt sie bei sich auf und will am nächsten Tag mit ihr zum Therapeuten, doch mitten in der Nacht läuft Maria davon.
Endlich kommt Jan zurück. Maria weint, erklärt ihm, sie lebe in ihrer eigenen Welt und stößt ihn mit dem Bekenntnis „ich habe mich während deiner Abwesenheit ficken lassen“ von sich. Jan erschrickt, ist betroffen, aber er bleibt. Sie liebe ihn, sagt Maria, aber sie sei krank und könne niemandem vertrauen. Mit ihm habe sie es versuchen wollen, aber sie tue ihm nicht gut und mache alles kaputt. Trotz allem will Jan nicht, dass Maria ihn verlässt; sie läuft jedoch davon und springt in ein Taxi, bevor er sie einholt.
Unterwegs bringt sie den Taxifahrer (Daniel Drewes) dazu, kurz auszusteigen, setzt sich hinters Steuer und rast los, bis sie gegen einen Baum kracht. Mit einer blutigen Schramme an der Stirn klettert sie aus dem Wrack und geht zu ihrem Lieblingsplatz vor dem 67 Tonnen schweren Stahlkörper der Bramme von Richard Serra auf der Schurenbachhalde in Altenessen.
Dort findet Jan sie. „Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht“, tröstet Maria ihren hilflosen Freund.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)„Allein“, das Kinofilmdebüt von Thomas Durchschlag (*1974) ist eine subtile Charakterstudie und das gelungene, anspruchsvolle Psychogramm einer jungen Frau, die am Borderline-Syndrom leidet. Möglicherweise wurde sie als Kind von ihrem Vater missbraucht, aber mehr als eine Andeutung dazu gibt es in dem Film nicht, denn es geht Thomas Durchschlag nicht um die Frage nach den Ursachen, sondern er befasst sich mit den Auswirkungen der Krankheit, ohne Marias Verhalten zu werten. Diese Frau, die ihre Verhaltensstörung überwinden möchte, sich dabei jedoch selbst im Weg steht, wird von Lavinia Wilson nuanciert, facettenreich und ausdrucksstark gespielt. Als Zuschauer sind wir den abrupten Stimmungsschwankungen der Figur ebenso hilflos ausgeliefert wie Jan; dieses Leiden mit anzusehen, ist qualvoll. Die Kamera (Michael Wiesweg) bleibt bei den meisten Einstellungen fest am Platz und filmt entweder in der Totalen oder in Großaufnahme, ohne Zoom. Das wirkt bewusst spröd und nüchtern. Bemerkenswert ist auch die dezente, passende und hörenswerte Musikuntermalung (Maciej Sledziecki).
Noch einmal zur Hauptdarstellerin: Lavinia Wilson, die Tochter eines Amerikaners und einer Deutschen, stand bereits mit elf Jahren vor der Kamera: Eine Freundin ihrer Mutter hatte sie für eine Komparsenrolle vorgeschlagen. Danach betrachtete sie das Filmen erst einmal als Ferienjob, bis sie auch größere Rollen bekam (z. B. in „Schussangst“). Für die Rolle der Maria in „Allein“ wurde die Münchnerin in Saarbrücken mit dem Max Ophüls-Preis 2005 als beste Nachwuchsschauspielerin ausgezeichnet.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006