Philip Roth : Gegenleben

Gegenleben
Originalausgabe: The Counterlife Farrar, Straus & Giroux, New York 1986 Gegenleben Übersetzung: Jörg Trobitius Carl Hanser Verlag, München / Wien 1988 Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek 2002 ISBN 3-499-23177-8, 423 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der 39-jährige Zahnarzt Henry Zuckerman leidet darunter, dass ihn die Medikamente, die er gegen seine Herzerkrankung einnehmen muss, impotent machen und er weder mit seiner Ehefrau noch mit seiner Assistentin Sex haben kann. Um die Arzneien absetzen zu können, unterzieht er sich einer Herzoperation – an der er jedoch stirbt. Sein Bruder Nathan soll die Grabrede halten, doch obwohl er Schriftsteller ist, fällt ihm nichts Passendes ein ...
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Kritik

In seinem Roman "Gegenleben" spielt Philip Roth mit Figuren, Identitäten und Realitätsebenen. Er wechselt die Erzähler, modifiziert die Geschichte von Kapitel zu Kapitel, verschachtelt innere Monologe mit Szenen, Briefen und Tagebuchaufzeichnungen, bis eine der Figuren gegen ihn rebelliert.
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1. Kapitel: Basel

Aufgrund einer Herzerkrankung muss der neununddreißigjährige Zahnarzt Henry Zuckerman in New York sich einer medikamentösen Behandlung unterziehen, die ihn impotent macht. Seine aus Basel stammende Ehefrau Carol, mit der er drei Kinder im Alter zwischen elf und vierzehn Jahren hat – Leslie, Ruth und Ellen –, findet sich rasch mit seiner Erektionsunfähigkeit ab und meint, nach achtzehn Jahren Ehe komme es nicht mehr so auf die Sexualität an. Henry, der nicht nur mit seiner Frau schlafen, sondern auch die Affäre mit seiner zweiundzwanzigjährigen Sprechstundenhilfe Wendy Casselman fortsetzen möchte, leidet jedoch sehr unter seiner Impotenz und unter Carols sexueller Gleichgültigkeit. Eine fünffache Bypass-Operation wäre erforderlich, um auf die Medikamente verzichten zu können. Henry überlegt, ob er das Risiko eingehen soll und fragt seinen älteren Bruder Nathan Zuckerman um Rat, obwohl sie in den letzten Jahren wenig Kontakt miteinander hatten. Der durch seinen Roman „Carnovksy“ berühmte Schriftsteller hält nichts von der Operation:

„Du Idiot! Du Arschloch! Kommt nicht in Frage! Wenn du nicht bereit warst, Carol zu verlassen, um mit Maria auf und davon zu gehen, einer Frau, die du wirklich geliebt hast, dann gehst du nicht für eine gefährliche Operation ins Krankenhaus, bloß weil irgendso ein Weibsstück dir jeden Abend in der Praxis einen bläst, ehe du zum Abendessen nach Hause gehst!“ (Seite 20f)

Trotzdem unterzieht Henry sich der Operation – und kommt dabei ums Leben.

2. Kapitel: Judäa

Nathan Zuckerman war 1960 erstmals in Israel. Er besuchte seinen Freund Shuki Elchanan, der als Presseattaché für Ministerpräsident David Ben Gurion (1886 – 1973) arbeitete. In der Kantine der Knesset stellte Shuki ihn seinem Vater Yacob Elchanan vor, der 1920 aus Odessa gekommen war und trotz seiner fünfundsechzig Jahre noch immer als Schweißer in Haifa arbeitete.

Im Alter von fünfundvierzig Jahren reist Nathan 1978 erneut nach Israel, diesmal nicht nur, um sich mit Shuki zu treffen, sondern vor allem, um seinen sechs Jahre jüngeren Bruder Henry zu besuchen. Henry hatte sich in New York einer Bypass-Operation unterzogen und war danach in eine nach solchen Eingriffen nicht ungewöhnliche Depression verfallen. Um ihn auf andere Gedanken zu bringen, überredete ihn seine Ehefrau Carol acht Monate nach der Operation, Freunde auf einer Reise in den Nahen Osten zu begleiten. Danach war Henry noch deprimierter als zuvor, und drei Wochen später trug er seiner Sprechstundenhilfe Wendy Casselman auf, alle Termine abzusagen, verließ seine Zahnarztpraxis, nahm ein Taxi zum Flughafen und verabschiedete sich telefonisch von seiner Frau und seinen drei Kindern: Seit fünf Monaten lebt er nun schon in Israel.

Henry wohnt in der von einem Fanatiker namens Mordechai Lippman geleiteten Siedlung Agor in den Hügeln bei Hebron. Als Nathan eintrifft, nimmt Henry gerade an einem Hebräischkurs teil, den Lippmans Frau Ronit gibt. Ein siebzehnjähriger Schüler greift Nathan sogleich an, weil er – obwohl er Jude ist – nicht in Israel, sondern in London lebt, noch dazu mit einer nichtjüdischen Frau und deren Tochter. Als der amerikanische Schriftsteller ihn fanatisch nennt, keift der Junge zurück:

„Entschulden sie mal! Was ist fanatisch? Den Egoismus über den Zionismus zu stellen, das ist fanatisch! Persönlichen Gewinn und persönliches Vergnügen über das Überleben des jüdischen Volkes zu stellen! Wer ist fanatisch? Der Diaspora-Jude! Bei all der Offenheit, mit der die Gojim ihm immer wieder zeigen, dass ihnen das Überleben der Juden gar nicht gleichgültiger sein könnte, und da glaubt der Diaspora-Jude immer noch, sie wären Freunde!“ (Seite 134)

Seinen Bruder fragt Nathan schließlich unter vier Augen:

„Henry, wann wirst du aufhören, bei einem Fanatiker den Lehrling zu spielen, und wieder als Zahnarzt praktizieren?“ (Seite 181)

Doch Henry will nicht über seine Beweggründe reden und schon gar nicht mit seinem Bruder darüber diskutieren.

„Du kapierst immer noch nicht. Zum Teufel mit mir, vergiss mich. Ich ist jemand, den ich vergessen habe. Ich existiert hier draußen nicht mehr. Es gibt keine Zeit für das Ich, das Ich ist überflüssig – hier kommt es auf Judäa an, nicht auf mein Ich!“ (Seite 137f)

3. Kapitel: In der Luft

Auf dem Rückflug von Tel Aviv nach London steht Nathan Zuckerman auf, weil sein Sitznachbar pausenlos mit ihm zu reden versucht. Er wählt einen leeren Platz in einer Reihe, in der nur ein junger, wie ein orthodoxer Jude gekleideter Mann am Fenster sitzt, in einem hebräischen Gebetbuch liest und Schokoladenriegel isst.

Der Mann kündigt Nathan an, er werde das Flugzeug entführen, um die Verbreitung einer Presseerklärung zu erzwingen. Im Interesse der Zukunft solle die israelische Regierung damit aufhören, die Erinnerung an die Vergangenheit zu pflegen, denn wenn sie es nicht tue, stehe zu befürchten, dass man Israel vernichten werde, um das unerträgliche jüdische Gewissen auszulöschen.

Bevor der Attentäter jedoch Nathan eine Handgranate geben und eine Pistole aus seiner Aktentasche ziehen kann, werden sie beide von Skymarshals überwältigt, zusammengeschlagen und gefesselt.

4. Kapitel: Gloucestershire

Wegen einer Herzkrankheit muss Nathan Zuckerman seit längerer Zeit Medikamente einnehmen, zu deren Nebenwirkungen es gehört, dass eine Erektion nicht möglich ist.

Vor einem Jahr, 1977, zog eine siebenundzwanzigjährige Frau mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter in die Maisonettewohnung des Hauses in New York City, in dem auch der berühmte Schriftsteller ein Apartment hatte. Maria – so heißt die aus England stammende Nichtjüdin – lernte Nathan kennen, und wenn ihr Mann bei der Arbeit und das Kindermädchen mit ihrer Tochter Phoebe unterwegs war, kam sie zu dem Vierundvierzigjährigen in die Wohnung. Sie legte sich nackt aufs Bett. Nathan zog nur das Hemd aus und behielt die Hose an, während er Maria zum Orgasmus brachte.

Die Einseitigkeit unserer Affäre ist qualvoll. (Seite 240)

Maria ließ sich vor vier Monaten scheiden und wurde Nathans vierte Ehefrau. Das Paar zog mit Phoebe nach London. Um mit Maria Sex haben und ein eigenes Kind zeugen zu können, überlegt Nathan, ob er sich einer Herzoperation unterziehen soll, denn danach bräuchte er die impotent machenden Medikamente nicht mehr zu nehmen. Maria hält nichts von einem so schweren Eingriff.

„Aber ich denke, wenn du diese Operation für mich und eine Familie und all diese Träume machst, würdest du unsere Beziehung solch einer Belastung aussetzen, dass nichts jemals deinen Erwartungen genügen könnte. Und ich schon gar nicht.“ (261)

Nathan akzeptiert jedoch keine Beschränkung und unterzieht sich 1978 in London der riskanten Operation. Dabei kommt der Fünfundvierzigjährige ums Leben.

Sein Bruder Henry Zuckerman, mit dem er lange keinen Kontakt mehr hatte, erfährt von der Herzkrankheit Nathans erst, als er zur Beerdigung eingeladen wird.

Henry gibt der Concierge des Hauses, in dem Nathan wohnte, vierzig Dollar, damit sie ihm die Tür aufschließt. Er sucht Nathans Tagebücher und reißt alle Seiten heraus, die ihn kompromittieren könnten. Dann entdeckt er einen mit Schreibpapier gefüllten Karton. Auf dem obersten Blatt steht „Fassung #2“. Es handelt sich um ein Manuskript. Das erste Kapitel trägt den Titel „Basel“. Entsetzt stellt Henry fest, dass der Roman von ihm handelt und sein Bruder ihn als Ehebrecher dargestellt hat. Dabei hatte er nie etwas mit seiner Sprechstundenhilfe Wendy Casselman. Herzkrank war er auch noch nie. Unter der Kapitelüberschrift „Judäa“ heißt es, er habe seine Frau Carol verlassen und sei als Anhänger eines fanatischen Juden in eine Siedlung bei Hebron gezogen. Dabei war er noch kein einziges Mal in Israel und dachte bisher auch noch nie groß darüber nach, was es bedeutet, Jude zu sein.

5. Kapitel: Christenheit

Ende 1978 kehrt Nathan Zuckerman von dem Besuch bei einem Bruder Henry in Israel zu seiner Frau Maria und deren Tochter Phoebe nach London zurück.

Er begleitet Maria, deren Schwestern Sarah und Georgina sowie ihre Mutter Mrs Freshfield zu einem vorweihnachtlichen Gottesdienst, obwohl er mit dem Christentum nichts anfangen kann.

[…] ist mir diese Religion so tiefgreifend fremd – unerklärlich, fehlgeleitet, zutiefst unangemessen. (Seite 335)

Heilige Hirten und Sternenhimmel, selige Engel und der Schoß einer Jungfrau, aus dem auf diesem Planeten etwas entsteht, Gestalt annimmt ohne das Schwellen und Spritzen, ohne die Gerüche und die Absonderungen, ohne die Beute machende Befriedigung des Orgasmusschauers – welch erhabener, widerwärtiger Kitsch, mit seiner fundamentalen Verteufelung des Geschlechtlichen. (Seite 337)

Um Marias achtundzwanzigsten Geburtstag mit einem Restaurantessen zu zweit feiern zu können, bringen sie Phoebe zu deren Großmutter, die auf dem Familiensitz Holly Tree Cottage in Chadleigh, Gloucestershire, lebt. Maria ist im fünften Monat schwanger, und sie freuen sich auf das Kind. Ihr Gespräch im Restaurant verläuft harmonisch, bis Nathan seiner Frau liebevoll mit dem Rücken des Mittelfingers über die Wange streichelt und ihn eine betuchte Engländerin am Nachbartisch daraufhin herausfordernd anblickt, während sie deutlich hörbar behauptet, sie könne den Gestank kaum noch ertragen. Erregt erzählt Nathan Maria, Sarah habe ihm verraten, dass ihre Mutter eine überzeugte Antisemitin sei. Unversehens geraten Maria und Nathan in ihren ersten Streit: Ihre Herkunft droht sie auseinanderzubringen wie Romeo und Julia. Maria hätte nie gedacht, dass die Tatsache, dass er Jude ist, für Nathan so eine bedeutende Rolle spielen könnte.

Kurz darauf schreibt sie ihm einen Abschiedsbrief:

Lieber Nathan,
ich gehe fort. Ich bin fortgegangen. Ich verlasse dich, und ich verlasse das Buch, und ich nehme Phoebe mit mir fort, ehe ihr etwas Schreckliches zustößt […] (Seite 406)

Maria bereut es, dass sie nicht bereits auf Seite 96 fortging. Nathan antwortet ihr in einem Brief:

Alles, was ich dir mit Sicherheit sagen kann, ist, dass ich jedenfalls kein Selbst habe […] Was ich stattdessen habe, ist eine Vielfalt von Darstellungen, die ich liefern kann, und nicht nur meiner selbst – eine ganze Spieltruppe, die ich internalisiert habe, ein beständiges Ensemble von Schauspielern, auf die ich zurückgreifen kann, wenn ein Selbst verlangt ist, ein sich immer weiter entwickelnder Vorrat an Stücken und Rollen, der mein Repertoire bildet. Aber ich habe gewiss kein Selbst, das unabhängig von meinen betrügerischen künstlerischen Bemühungen, eines zu haben, existierte. Und ich würde es auch nicht wollen. Ich bin ein Theater, und nichts weiter als ein Theater. (Seite 418)

Er bittet Maria, zurückzukommen und schließt seinen Brief mit den Worten:

Dieses Leben ist dem Leben so nahe, wie du und ich und unser Kind je dem Leben nahezukommen hoffen können. (Seite 423)

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In seinem Roman „Gegenleben“ spielt Philip Roth mit Figuren, Identitäten und Realitätsebenen. Er wechselt die Erzähler und unterminiert die Fiktion, indem er die Geschichte von Kapitel zu Kapitel modifiziert; er verschachtelt innere Monologe mit Szenen, Briefen und Tagebuchaufzeichnungen, bis am Ende die Figur Maria gegen den Autor Philip Roth alias Nathan Zuckerman rebelliert. Dieses letzte Kapitel – „Christenheit“ – kommt Henry Zuckerman, als er es in dem Manuskript „Fassung #2“ seines Bruders liest, übrigens wie ein Fluchttraum vor:

„[…] ein magischer Fluchttraum – vor dem Vater, dem Vaterland, der Krankheit, Flucht vor der armselig unbewohnten Welt eines unentrinnbaren Charakters“ (Seite 297)

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

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