Michelle Winters : Ich bin ein Laster
Inhaltsangabe
Kritik
Agathe und Réjean
Als Agathe Thibeault und Réjean Lapointe sich verliebten, waren sie noch zu jung, um heiraten zu dürfen. Damit mussten sie noch drei Jahre warten. Nach der Eheschließung in einer französischsprachigen Region von Kanada zogen sie in ein Cottage im Wald bei Pinto, eine Gegend, in der englisch gesprochen wird, denn dort gab es noch Arbeit für den hünenhaften Holzfäller Réjean.
Inzwischen ist viel Zeit vergangen, und in ein paar Tagen wollen die beiden ihren 20. Hochzeitstag feiern.
Am Samstag davor tut Réjean so, als mache er mit ein paar Kollegen einen Angelausflug. Agathe glaubt ihm nicht; sie vermutet, dass er heimlich ein Geschenk für den Hochzeitstag vorbereiten will.
Am Abend kommt ein Polizist zu Agathe und berichtet, dass der schwarze Chevrolet Silverado ihres Mannes mit offen stehender Fahrertür am Straßenrand gefunden worden sei. Von Réjean fehlt jede Spur. Agathe kann sich nicht vorstellen, dass Réjean seinen Laster freiwillig im Stich gelassen hat, aber es gibt keinen Hinweis auf eine Entführung oder ein Gewaltverbrechen.
Debbie und Agathe
Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, fängt Agathe knapp drei Wochen nach dem Verschwinden ihres Mannes als Putzfrau bei Stereoblast an, einem Laden für Second-Hand-Elektronik, der von Wood Debow und dessen Mitarbeiter Tony geführt wird.
Ein halbes Jahr später stellt Wood eine junge, unternehmungslustige Frau namens Debbie ein, der es in kurzer Zeit gelingt, den Laden in Schwung zu bringen.
Debbie liest Agathe an einer Bushaltestelle auf, und als sie erfährt, dass Agathe das Autofahren ihrem Mann überließ und noch nie selbst gefahren ist, bringt sie es ihr bei. Sie überredet Agathe auch, mit ihr auszugehen und teilt ihre Vorliebe für Rock’n’Roll. An der Theke bei Whisky Mak kommt Debbie mit zwei Programmierern ins Gespräch: Blaine und Sebastian. Währenddessen beobachtet Agathe einen ausgelassenen Mann im Militär-Tarnanzug, der zur lauten Musik grölt und sie dabei anschaut.
Sie hat den Mann schon einmal gesehen, vor einiger Zeit, als sie mit ihrem Mann unterwegs war. Sie hatten sich gestritten, weil Agathe Rock hören wollte, Réjean jedoch auf Folk bestand.
„Réjean, y-a-t’il pas d’autre musique? […] Les kids, là, ça écoute le rockandroll. C’est populaire, ça.“
„Le rockandroll“, sagte Réjean ungläubig.
[…] Agathe streckte die Hand nach der Senderwahl aus […]
„Hör doch, wie aufregend, Réjean! Das geht richtig ab!“ […]
„Ist doch mal was Neues“, sagte sie. „T’as pas envie de quelque chose de nouveau?“ Das konnte doch nicht sein, dass er niemals Lust auf etwas anderes hatte.
„Ist ja nicht mal Französisch!“ Laut und entrüstet sagte er das, und sie wusste, worauf es hinauslief, wenn sie nicht nachgab. Es lohnte sich nicht. […]
Sie wechselte zurück zu dem kirchenhaften Geleier des französischen Folk-Senders. „Voilà ta musique, bébé.“
Während Réjean an einer Hummerbude einkaufte, wartete sie im Auto. Aus dem Ford Pick-up daneben hörte sie Rock’n’Roll. Hinter dem Lenkrad saß der Army-Typ und sang laut mit. Als Réjean wutschnaubend angerannt kam, warnte sie den Fremden.
„Aie, va’t-en!“, zischte sie, hau ab!, und scheute den Mann mit beiden Händen fort.
Mit derselben theatralischen Gestik wie zuvor breitete der Mann die Handflächen aus und mimte Gekränktheit.
„Allez-y“, fauchte sie lauter, „il va te tuer“, fahr zu, er bringt dich um!
Der Mann reagierte jetzt auf ihren veränderten Gesichtsausdruck und drehte sich nach der Ursache um.
„Go!“, schrie sie.
Beim Anblick des heranwalzenden Réjean ließ der Mann den Motor wieder an und drohte Agathe spielerisch mit dem Finger. Den Arm aus dem Fenster gestreckt, zeigte er bedeutungsvoll auf sie und reckte die Faust in die Luft. Dann fuhr er davon.
Réjean schlug mit beiden Händen gegen den Türrahmen auf ihrer Seite. „Agathe! Qu’est-ce qu’il t’a dit?“ Was wollte er von dir?
„O, Réjean“, sagte sie, „c’était un psycho. J’étais tellement scared, mais y est parti, y est parti.“
Ein Irrer, log sie, und eine irre Angst habe sie gehabt. Aber jetzt war ja alles gut, denn Réjean griff durchs Fenster und schlang die Arme um sie, zog sie fest an sich, und Agathe versuchte, nicht zu lächeln, während sie dem davonfahrenden Auto nachsah.
Debbie bleibt mit Blaine und Sebastian in Kontakt. Sie lässt sich zur Programmiererin ausbilden, bewirbt sich erfolgreich bei dem Software-Unternehmen in der Stadt, in dem die beiden Männer beschäftigt sind – und wechselt die Stelle.
Weil Agathe nicht wieder mit dem Bus zur Arbeit fahren möchte, nimmt sie von da an den von ihrem Mann hinterlassenen Silverado.
Réjean und Martin
Réjean ging der Rockfan auf dem Parkplatz der Hummerbude nicht mehr aus dem Sinn, und als er dessen verdreckten Ford F-100 einige Zeit später an einer Tankstelle entdeckte, schrieb er mit dem Finger „LAVE MOI“ in den Staub.
An dem Samstag, an dem er angeblich einen Angelausflug machte, wollte er nach dem Laster des Army-Typs suchen.
Unterwegs traf er auf einen anderen Ford Pick-up mit einer Panne. Er hielt an, stieg aus – und stellte verwundert fest, dass es sich bei dem Fahrer um Martin Bureau handelte, den Autoverkäufer, bei dem er jedes Jahr das neueste Chevrolet-Modell erworben hatte. Darüber waren sie Freunde geworden. Martin hatte auch ihm verheimlicht, dass er privat einen Ford fuhr. Réjean, der sich im Gegensatz zu ihm mit Autos auskannte, stellte rasch fest, dass die Batterie leer war. Nachdem er den Ford-Motor mit Starterkabeln wieder zum Laufen gebracht hatte, trat Réjean auf die Straße – und wurde vor Martins Augen von einem großen Laster mitgerissen.
Martin und Agathe
Martin entfernte sich vom Unfallort und schwieg.
Mitten in einem Kundengespräch verließ er das Autohaus und begann, Agathe zu beschatten, um sie anstelle seines Freundes zu beschützen. Als obdachloser Bettler fristet er sein Dasein, bis Agathe ihn eines Tages mit nach Hause nimmt und ihn aufpäppelt – ohne zu ahnen, dass er Réjean nicht nur kannte, sondern auch weiß, was mit ihm geschah.
Réjean
Réjean wurde von Männern im Straßengraben gefunden, die für Colonel Weed arbeiten, einen Käse-Fabrikanten, der auch Wein aus im Treibhaus kultivierten Reben produziert und nebenbei mit Waffen handelt.
Der Holzfäller überlebt den Unfall, kann sich jedoch an nichts erinnern und weiß nicht einmal, wie er heißt. Die Männer nennen ihn jetzt Serge.
Nachdem er sich von den schweren Verletzungen erholt hat, sorgt Colonel Weed dafür, dass der Hüne seinen Mitarbeiter JC begleitet, wenn dieser von säumigen Kunden Geld eintreibt. Das erweist sich als sehr wirkungsvoll, aber einmal bricht Réjean versehentlich einem zahlungsunwilligen Käsehändler das Genick.
Das Wiedersehen
Eines Abends bleibt Wood Debow länger im Laden, um noch Büroarbeiten zu erledigen. Auch Agathe ist noch da, als JC und Réjean hereinkommen. Es geht um vier im letzten Herbst für das Treibhaus des Colonels gekaufte Heizgeräte, von denen zwei nicht funktionierten.
Trotz des Vollbarts erkennt Agathe ihren Mann sofort, aber er erinnert sich nicht an sie. Immerhin lässt er sich von ihr mit nach Hause nehmen.
Martin, der noch da ist, kann es kaum glauben, dass sein Freund den Unfall überlebt hat, aber Réjean erkennt auch ihn nicht.
Am späten Abend ist Martin betrunken. Agathe schleppt Réjean ins Schlafzimmer. Sobald er begreift, was sie vorhat, wirft er sie aus dem Bett. Sie kehrt in die Küche zurück, wo Martin im Rausch stammelt, dass er dabei gewesen sei, als Réjean „verschwand“.
Wütend auf die beiden Männer rast Agathe mit dem Silverado davon, dreht ein paar Schleifen auf einem zugefrorenen See und parkt den Laster dann vor Whisky Mak. Wie erhofft, entdeckt sie unter den Gästen den Rockfan …
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)In ihrem Debütroman „Ich bin ein Laster“ erzählt die kanadische Schriftstellerin Michelle Winters von Liebe und Verlust, von Einschränkungen und Befreiung. Weitere Dichotomien fallen auf: französisch versus amerikanisch, Chevrolet versus Ford, Rock versus Folk.
Das Buch beginnt folgendermaßen:
Der Silverado wurde mit offen stehender Fahrertür am Straßenrand gesehen und der Polizei gemeldet: keine acht Stunden, nachdem Agathe ihren Réjean vor der Haustür ihres Cottages zum Abschied geküsst und mit einer Thermoskanne Kaffee, vier Fleischwurstsandwiches und einem Dutzend Dattelplätzchen bei Regen zum Angeln hatte gehen lassen. Es schüttete so stark, dass der Regen laut auf Réjeans breiten Rücken prasselte, als sie sich umarmten. Vom Auto aus warf er ihr, als er zurücksetzte, eine letzte Kusshand zu, und sie lächelte und berührte ihre Lippen.
Dass er log, hatte sie in dem Moment gewusst, als er am Abend zuvor beim Heimkommen gesagt hatte: „Hé, sais-tu quoi?“ […] Er war ein miserabler Lügner; dennoch breitete er ungeniert seine Geschichte vom Angelausflug am Samstag mit seinen Arbeitskollegen aus.
Wie in einem Thriller konfrontiert uns Michelle Winters zunächst mit einem Rätsel und klärt es dann Schritt für Schritt auf. Aber „Ich bin ein Laster“ ist nicht wirklich ein Kriminalroman; der Roman – eigentlich ist es eine Erzählung – enthält auch Elemente anderer Genres und ist nicht zuletzt eine Emanzipationsgeschichte.
Michelle Winters wechselt zunächst zwischen den Zeitebenen hin und her. Dementsprechend sind die Kapitel abwechselnd mit „Jetzt“ und „Davor“ überschrieben, bis beides zusammenläuft und es dann auf Seite 93 nur noch „Ab jetzt“ heißt.
Eine Besonderheit sind die kurzen, aus dem Zusammenhang auch ohne Sprachkenntnisse verständlichen Dialogzeilen in Französisch mit englischen Einsprengseln.
„Ben, je drive on truck.“
Die Charaktere werden in „Ich bin ein Laster“ nicht ausgeleuchtet; Michelle Winters ist es offenbar wichtiger, mit (scheinbar) leichter Hand eine originelle, amüsante und tragikomische Geschichte zu erzählen.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2020
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach