Helen Weinzweig : Schwarzes Kleid mit Perlen

Schwarzes Kleid mit Perlen
Basic Black with Pearls House of Anansi Press, Toronto 1980 Schwarzes Kleid mit Perlen Übersetzung: Brigitte Jakobeit Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2019 ISBN 978-3-8031-3308-3, 192 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Shirley Kaszenbowski alias Lola Montez hat ihren Mann und die beiden Kinder in Toronto verlassen. Sie reist durch die Welt, um ihren Liebhaber Coenraad, einen Geheimagenten, der ebenfalls Familie hat, in wechselnden Städten konspirativ zu treffen. Am Ende ist sie wieder in Toronto und wartet im Hotel King Edward auf einen versteckten Hinweis, wo Coenraad zu finden sei …
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Kritik

Helen Weinzweig hat in "Schwarzes Kleid mit Perlen" bewusst auf jedes Korrektiv zu der subjektiven, unzuverlässigen Perspektive der Ich-Erzählerin verzichtet. Wenn Shirley alias Lola Lebensgeschichten anderer hört, könnte es sich auch um eigene Erinnerungen oder Manifestationen einer Psychose handeln. "Schwarzes Kleid mit Perlen" ist ein origineller, tragikomischer Roman, prall gefüllt mit skurrilen Miniatur-Grotesken.
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Shirley Silverberg

Shirley Silverberg war zehn Jahre alt, als ihre Mutter mit ihr aus Polen nach Kanada emigrierte. Als sie im Jahr darauf von der Schule in Toronto nach Hause wollte, stellte sich ihr die rothaarige Hauswirtin in den Weg und schimpfte: „Verschwinde, du und deine Hurenmutter wohnt hier nicht mehr!“ Im kalten Regen – es war im Februar 1935 – saß Shirley auf der Treppe vor dem Eingang, bis die Mutter am Abend gegen zehn Uhr von der Arbeit nach Hause kam.

Kurz nach dem Krieg fuhr Shirley allein mit einem Dampfer der Cunard Line nach Marseille, um ihren Vater zu besuchen, an den sie sich nicht erinnern konnte. Daraus wurde ein traumatisches Erlebnis. Möglicherweise ist die Geschichte, die sie später einer 17-Jährigen andichtete, ihre eigene.

Sie setzt sich mir gegenüber an den Tisch und erzählt mir ihre Geschichte.
– Ich habe ein hartes Leben in Rimouski gegen den Glamour der Riviera getauscht. Meine arme Mutter bezog Sozialhilfe, ich musste die Schule abbrechen, die Depression wurde zunehmend schlimmer. Über Verwandte in der alten Heimat machte meine Mutter meinen Vater ausfindig und erfuhr, dass er in Antibes lebt, einem Ort, wo, wie sie annahm, trotz der schlechten Zeiten alle reich waren. Und so kam es, dass ich bei meinem Vater lebte, den ich nie gekannt hatte. Ich bin so alt wie meine Mutter, als die beiden … als ich gezeugt wurde. Ich glaube, manchmal vergaß mein Vater, wer ich war: Wenn er mich anschaute, hatte er einen seltsamen Ausdruck im Gesicht. Inzwischen sieht er mich nur noch wütend an, manchmal sogar hasserfüllt. Er spricht nicht mit mir. Und das Schlimmste ist, er lässt mich nicht aus diesem Zimmer. Zu meinem eigenen Besten, sagt er. Seit einer Woche esse ich nur trockene Brotrinde und trinke Ersatzkaffee. Das Obst in der Schale? Ist aus Wachs. Und nein, auch der Krug ist leer. Alles wurde nur um der Wirkung willen geschaffen. Mein Vater ist völlig mittellos. Ich habe nach Hause geschrieben und um Geld gebeten. Er sagt, wenn meine Mutter mich zurückhaben will, muss sie zahlen. Als ich ihm erklärte, dass sie von Sozialhilfe lebt, hat er mich als Lügnerin bezeichnet und behauptet, in Amerika seien alle reich. Mir steigen Tränen in die Augen.
– Warum tut er Ihnen das an?
– Weil ich ihm nicht gehorcht habe. Nur einmal. Einmal, mehr nicht. Ich hatte gegen seinen Willen ein Rendezvous mit einem jungen Mann. Ich lernte Emil bei einem Tanztee im Hotel Renoir kennen. Ich machte gerade einen Spaziergang, hörte die Musik und bin in das Hotel gegangen. Ich war einsam und gelangweilt. Emil war auch allein. Wir haben getanzt. Er ist ein Student aus Heidelberg. Mein Vater behauptet, er sei ein vom Hotel angestellter Zuhälter, der mich in eine Hure wie meine Mutter verwandeln soll. Oder ein deutscher Spion. Er sagt, die Deutschen sind überall. Es stimmt, aber nur als Touristen. Ich versprach Emil, am nächsten Nachmittag wieder ins Hotel zu kommen. Mein Vater verbot es mir, aber ich ging trotzdem. Ich bin es gewöhnt, auf mich allein gestellt zu sein, weil meine Mutter fast immer den ganzen Tag unterwegs war, um Arbeit zu suchen. Sie müssen mir glauben – mein Vater tut es nämlich nicht –, dass Emil und ich nie allein zusammen waren. Wir haben uns unterhalten, Limonade getrunken und getanzt. Danach bin ich sofort nach Hause gegangen. Es war erst sechs Uhr, aber mein Vater war trotzdem wütend und machte eine schlimme Szene. Wie die Mutter, so die Tochter, sagte er dauernd. Am nächsten Morgen kam ein Arzt. Ich weiß nicht, was man ihm erzählt hatte. Jedenfalls wollte er, dass ich mich hinlege und die Beine spreize. Ich weigerte mich. Dann wollten mein Vater und er mich gewaltsam zu einer Untersuchung zwingen, aber ich wehrte sie beide ab. Schließlich legte mir der Arzt ein nasses Tuch auf das Gesicht, während mein Vater mich festhielt. Als ich wieder zu mir kam, war der Arzt weg. Ich war benommen und alles tat mir weh, aber sonst fehlte mir nichts. Mein Vater will nun, dass ich in diesem Zimmer bleibe, bis meine Mutter Geld schickt oder bis er jemanden findet, der bereit ist, eine stattliche Summe für meine jungfräulichen Gefälligkeiten zu zahlen, je nachdem was zuerst der Fall ist.

Shirley Silverberg verliebte sich in einen Mann namens Maximilian („Max“). Als dieser sie seiner Mutter in einem Restaurant in Toronto vorstellte, ließ diese sie in größter Höflichkeit den Klassenunterschied spüren und meinte, Maximilian habe eine große Zukunft vor sich.

„[…] und ich erlaube nicht, dass sich ihm etwas oder jemand in den Weg stellt, schon gar nicht Ihresgleichen, er ist nur ein Dummkopf, der sich verrannt hat, er bildet sich ein, verliebt zu sein, das liegt am Alter, ich habe nichts gegen Sie persönlich, ich kenne Sie ja überhaupt nicht und habe auch nicht vor, Sie kennenzulernen, jedenfalls passen Sie nicht zu ihm, falscher Hintergrund, Ihre Mutter arbeitet in der Fabrik, nehmen Sie Ihr Taschentuch oder was immer Sie in Ihrer billigen Handtasche finden, Sie kommen darüber hinweg.“

Maximilian wurde von seiner Mutter zu einem Onkel nach New York geschickt, und Shirley sah ihn nie wieder. Bei einem Hechtsprung traf er unter Wasser auf einen Felsen. Querschnittgelähmt kehrte er nach Toronto zurück.

Shirley Kaszenbowski

Seit langem ist Shirley – inzwischen Mitte 40 – mit dem Dolmetscher und Übersetzer Zbigniew Kaszenbowski in Toronto verheiratet. Der Pferdenarr war in Polen bei der Kavallerie. Die war den deutschen Panzern 1939 unterlegen. Zbigniew Kaszenbowski floh nach England und zog dort die blaugraue Uniform der Royal Air Force an.

Das Paar hat zwei Kinder: Dina und Anton.

Shirley Kaszenbowski scheint einen Nervenzusammenbruch erlitten zu haben, vielleicht sogar mehrere.

Jede Aufregung meinerseits beschert mir zwei Männer in weißen Kitteln im Schlafzimmer. Die Lichter des Krankenwagens blitzen; eine Menschenmenge versammelt sich; die Sirene zerreißt die Luft; Zbigniew wird von allen bemitleidet.

Lola Montez

Obwohl Shirley versichert, Zbigniew habe nichts falsch gemacht, verlässt sie ihn. Den Kindern will sie noch einen Brief schreiben, aber über die Anrede („Meine lieben, reizenden Kinder“) ist sie noch nicht hinausgekommen. Sie trägt ein schwarzes Kleid und eine Perlenhalskette. In Hotels legt sie einen falschen Pass vor: Lola Montez, geboren am 11. Mai 1925 in New York.

Coenraad

Lola Montez hat sich in einen Geheimagenten verliebt. Coenraad ist ebenfalls verheiratet und hat Kinder wie sie. Die Wochenenden verbringt er mit seiner Familie; da ist Lola hoffnungslos allein. An den anderen Tagen wartet sie auf eine codierte Mitteilung von ihm, wo sie sich als Nächstes treffen können. Das ist immer wieder in einer anderen Stadt, und sie reisen quer durch die Welt: Amerika, Europa, Afrika, Asien, Australien. Lola hat ein Bündel Ansichtskarten bei sich, die sie während des Wartens auf Coenraad durchblättert, um sich an die Begegnungen mit ihm zu erinnern.

Dass sie ein Zeitungsfoto von ihm aufgehoben hat – es zeigt ihn bei einer Auszeichnung durch den französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle –, darf Coenraad nicht wissen, denn er hat ihr aus Sicherheitsgründen alles verboten, was man mit ihm in Verbindung bringen könnte. Seine Hinweise sind in der Regel in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift National Geographic versteckt. Wie bei einer Schnitzeljagd muss Lola die Zeichen richtig interpretieren, um zu wissen, in welche Stadt sie fliegen soll und wo sie ihn dort finden kann. Dabei muss sie genau aufpassen, denn er ist ein Meister der Verkleidung, und selbst ihr fällt es schwer, ihn beispielsweise in der Rolle eines Obdachlosen oder Fremdenführers zu erkennen. Einmal sagte er zu ihr:

– Meine Arbeit ist gefährlich, aber nach zwanzig Jahren bei der Agency erwartet mich eine gute Pension.

Toronto

Als Coenraad sie nach Toronto schickt, zögert sie, weil es nicht einfach sein wird, dort unerkannt zu bleiben. Aber er erklärt ihr, er habe dort zu tun und sie finde nähere Anweisungen in der Rücktasche ihres Vordersitzes.

Im Flugzeug durchsuchte ich den Inhalt der Rücktasche meines Vordersitzes, doch so sehr ich meine Phantasie auch bemühte, weder in der Broschüre zum Gebrauch der Sauerstoffmaske noch auf der Karte mit den Notausgängen noch in der leeren Papiertüte fand ich eine verborgene Botschaft. In der auf Französisch und Englisch verfassten Zeitschrift En Route sah ich schöne Bilder vom Lake Louise, von Skifahrern in Quebec und Parfümflakons im Duty-Free-Verkauf. Ich blätterte die Zeitschrift durch, bis ich zwischen den Seiten 25 und 26 ein loses Faltblatt entdeckte. Da wir den 25. November hatten, stieg meine Hoffnung: Schließlich hatte Coenraad mich noch nie im Stich gelassen. Es war eine auf billigem Papier gedruckte Broschüre des Canada First Committee, ein politisches Traktat mit der Überschrift „Canada First!“ In den einleitenden Sätzen wurde Kanada wie eine Mätresse dargestellt, das Wort „abdanken“ tauchte auf der ersten Seite gleich drei Mal auf. Für mich war die Botschaft eindeutig: Sie verwies auf König Edward VII. und seine vielen Geliebten und auf König Edward VIII., der abgedankt hatte, und, so schloss ich, auf das Hotel King Edward in Toronto.

An der Hotelrezeption nimmt Lola ein Faltblatt über Ulmensterben mit. Sie hält dies für die erwartete Nachricht ihres Geliebten und wird also in nach Ulmen benannten Straßen und Vierteln nach ihm suchen. Dummerweise gibt es davon recht viele in Toronto. Weil es um sterbende Ulmen geht, befürchtet Lola, dass die Botschaft dieses Mal vielleicht gar nicht von Coenraad stammt, sondern von der Agency, die sie auf diese Weise über seinen Tod benachrichtigt.

Seidenfabrik

Im Eaton Einkaufszentrum sucht Lola nach einem blauen Seidenschal, findet jedoch nichts Passendes. Ein als Großstadtpenner verkleideter Mann beobachtet sie, nähert sich und küsst ihr die Hand. Die Verkäuferin eilt herbei, aber Lola hält sie zurück:

 – Denken Sie sich nichts dabei, sagte ich zu ihr. In Wien ist das so üblich. Das ist die Macht der Gewohnheit bei Männern. Sie dürfen Galanterie nicht mit Lüsternheit verwechseln.
Zur Verblüffung aller Angestellten und wahrscheinlich auch der Person, die den Bildschirm überwachte, hakte ich mich vor fassungslos gaffenden Kunden bei ihm unter, und wir marschierten zusammen den Gang entlang zur Queen Street.

Lola hält es für möglich, dass Coenraad neben ihr geht. Er führt sie zu einer Fabrik, in der „Reihen von dunklen Frauenköpfen über sirrende Nähmaschinen geneigt“ sind. Man kennt ihn offenbar, denn eine der Näherinnen holt den Inhaber. Lolas Begleiter erklärt ihm etwas und verabschiedet sich dann mit den Worten:

„Gnädige Frau, es war mir ein großes Vergnügen. Hier werden Sie finden, was Sie suchen.“

Der Inhaber erklärt Lola, Laszlo sei ein Landsmann von ihm, der eine Provision für vermittelte Geschäfte erhalte. Er fragt nach ihren Wünschen: „Also, wie viel Dutzend?“ Als er begreift, dass Lola nicht an einem Großeinkauf interessiert ist, packt er sie und herrscht sie an:

„Wer sind Sie, wer hat Sie geschickt, wie haben Sie mich gefunden?“

Schließlich erzählt der Pole, warum er nicht weiterleben mag: Die Nazis kamen mitten in der Nacht. Während sie seine Frau Miriam und die beiden Kinder Yankel und Shmuel abholten, sprang er aus dem Schlafzimmerfenster und rannte davon. Als einziger der Familie überlebte er den Holocaust.

„Nur der Tod kann meinem Alptraum ein Ende setzen.“

Bäckerei

Lola sucht eine Bäckerei auf, weil sie vermutet, dort könne Coenraad versteckt sein. Sie versucht, in den Nebenraum zu schauen, und die Bäckerin droht deshalb mit der Polizei. Da fällt Lolas Blick auf die alte Registrierkasse. Sie öffnet die Schublade und wirft zunächst die Münzen, dann auch die Scheine durch den Raum. Aber nachdem die Bäckerin das Geld vom Boden aufgehoben hat, sortiert Lola alles wieder in die richtigen Fächer ein. Die Bäckerin beruhigt sich und  liest ihr einen Artikel aus der Zeitung vor. Eine seit 50 Jahren in Buenos Aires lebende 70-Jährige hat sich an die Redaktion gewandt. Im Alter von 17 Jahren habe sie in ihrem Heimatdorf Radom einen lungenkranken Talmud-Schüler namens Avrom geheiratet, schreibt sie.

Wie sollte er Geld verdienen und auch noch für meine verwitwete Mutter und meine drei kleinen Schwestern sorgen?

Das Paar wanderte kurz vor dem Ersten Weltkrieg in die Schweiz aus. Während die junge Frau in einer Uhrenfabrik zu arbeiten anfingt, schrieb er sich an der Universität ein.

Für mich gab es nur harte Arbeit, Missverständnisse und Fehlgeburten. An meinem neunzehnten Geburtstag schlug auch ich eine Tür hinter mir zu. Nach der Scheidung gab mir das Rote Kreuz etwas Geld, um zurück zu meiner Familie in Polen zu fahren.

Im Zug lernte sie einen Witwer aus Argentinien namens Hector kennen. Der bot ihr die Stelle einer europäischen Hauslehrerin für seine Kinder an, und dass sie weder lesen noch schreiben konnte, fand er unerheblich. Statt von München nach Warschau, fuhr sie mit ihm nach Hamburg, und sie reisten weiter nach Buenos Aires. Dort stellte sich heraus, dass er Menschenhändler war und blonde Frauen für sein Bordell gefangen hielt.

Und ich, die gerade einer Art Sklaverei entkommen war, sah mich der schlimmsten Art von Versklavung gegenüber.

Hamburg

Lola erinnert sich, wie sie einmal in Hamburg auf Coenraad wartete. Als sie nachmittags in ihrem Hotel – dem Vier Jahreszeiten – Kaffee und Kuchen bestellte, setzte man ihr eine augenscheinlich angetrunkene Dame gegenüber. Dass ein Kellner sieben silberne Milchkännchen vor ihr abstellte, verstand Lola als Warnung, aber sie hörte sich trotzdem an, was ihr Gegenüber, das bald in Tränen ausbrach, zu erzählen hatte.

„Mein Mann wird nächste Woche aus dem Gefängnis entlassen, sagte sie. Er hat blutende Geschwüre, ich werde Milchsuppen für ihn kochen müssen. Was soll ich jetzt mit ihm anfangen? Alles ist weitergegangen, als wäre er tot. Die Fabriken brummen, die Dienstboten führen das Haus. Früher habe ich geweint, weil er mich allein ließ; heute weine ich, weil er zurückkommt.“

Um Mitternacht kam Coenraad – der Kellner mit den sieben Milchkännchen – durch die unverschlossene Tür zu Lola ins Zimmer. Er schob einen Teewagen, und weil Lola hungrig war, hob sie den Silberdeckel von einer Schüssel. Darin lag ein Revolver.

– Wann lernst du endlich, nicht jedem zu vertrauen!
– Ich kann nicht mit Misstrauen leben.
– Du kennst die Regeln; entweder – oder.
– Für weinende Frauen gibt es keine Regeln.
[…]
– […] Ich verlange nur, dass du dich nicht mit Frauen von verurteilten Nazis einlässt.
– Du weißt, wer sie ist!
– Es ist meine Aufgabe, das zu wissen.

Von Hamburg habe ich keine Postkarten. Ich will keine Andenken an eine Nacht, die wir mit dem Rücken zueinander verbracht haben, und an Coenraad, der sich beim ersten Lichtschimmer zwischen den Vorhängen anzog und dann aus dem Zimmer schlüpfte, als wäre ich nicht da.

Blaubart

Wieder versucht es Lola an einer vielversprechenden Adresse in Toronto.

Wenn ich die Botschaft richtig entschlüsselt habe, deutet alles darauf hin, dass ich am Ort unseres Rendezvous angekommen bin: Im Namen der Straße kommt Ulme vor, die Hausnummer entspricht den Seitenzahlen der Broschüre, und der dicke Baumstumpf weist eindeutig die Kennzeichen einer kranken Ulme auf.

Unter dem Dachboden trifft sie auf einen Mann in einem mittelalterlichen Kostüm, der sie offenbar mit einer anderen Person verwechselt, denn er sagt:

„Schön, dass Sie es geschafft haben. Wir sind bereit.“

Die Theatergruppe spielt ihr eine Szene aus der Oper „Herzog Blaubarts Burg“ von Béla Bartók vor. Lola gelingt es, sich bald wieder zu verabschieden, ohne die Verwechslung aufzudecken.

Es blieben noch dreiundzwanzig Straßen zu überprüfen, die etwas mit Ulmen zu tun hatten. Langsam zweifelte ich an meiner Interpretation der Botschaft.

Botaniker

Schon bei der Ankunft im Hotel Hotel King Edward in Toronto fiel Lola eine Gruppe von Botanikern in der Lobby auf, und sie prüfte die Gesichter, denn sie hielt es für möglich, dass Coenraad sich als einer von ihnen tarnte. Als sie nun ins Hotel zurückkommt, sind die Botaniker dabei, abzureisen. Das Wochenende hat begonnen. Coenraad wird bei seiner Familie sein.

Lola fragt den Empfangschef nach den Broschüren über das Ulmensterben, von denen noch ein Stapel auf dem Tresen liegt. Die Botaniker hätten ihn gebeten, sie auszulegen, antwortet er.

– […] Nehmen Sie eine, ist umsonst.
– Ich hab schon eine. Sie lag in meinem Fach.
– Ja, jetzt erinnere ich mich, ich habe eine in jedes Fach gelegt.

Lola begreift, dass sie sich völlig verrannt hat. In der Bacchus Lounge wird sie von einem der Botaniker angesprochen. Sein Namensschild weist ihn als Andrew O’Hara aus. Andy erzählt ihr von seiner Adoptivmutter, die ihn hinauswarf, als er 16 Jahre alt war. Er gibt Lola seine Adresse und einen Schlüssel. Das Klingeln könne er nicht hören, erklärt er, und als Lola hinkommt, begreift sie auch warum: klassische Musik dröhnt aus einer Wurlitzer Jukebox. Andy züchtet Orchideen und erklärt ihr, wie die Pflanze dafür sorgt, dass sie bestäubt wird:

„Der starke Duft zieht die Wespe an und berauscht sie. Mit dem Kopf voran dringt sie ein. Das benommene Insekt verliert seinen Halt; eine Falltür öffnet sich; es fällt eine ölige Rutsche hinunter und wird in einer von der Orchidee abgesonderten Flüssigkeit gefangen. Am Morgen, wenn die Wespe zu sich kommt, findet sie wieder Halt auf den über Nacht ausgetrockneten Blütchen und kann durch ein enges Loch hinauskriechen.“

Francesca

Nach dem Besuch bei Andy wirft Lola den Stapel Ansichtskarten in einen öffentlichen Papierkorb und geht nach Hause.

Noch einen Winter würde der Eingang nicht überstehen.

Weil sie den Schlüssel nicht findet, betritt sie den Garten. Durchs Fenster sieht sie Zbigniew, der in einem Sessel schläft. Später trifft sie auf eine Frau, die sie freundlich begrüßt.

„Ich heiße Francesca, sagte sie. Ich wurde 1922 in Toronto geboren, in der Grace Street, gleich oberhalb der Dundas, im Dachzimmer eines Hauses, das einer Familie namens Tannenbaum gehörte.“

Francesca war acht Jahre alt, da nahm ihre Mutter sich das Leben. Der Witwer schärfte der Tochter ein, mit niemandem darüber zu sprechen, denn sonst würde die Fürsorge sie holen. Obwohl ihr der Direktor der Schule, die sie besuchte, eine große akademische Zukunft voraussagte, schickte ihr Vater sie zum Arbeiten in eine Hutfabrik, als sie 13 war.

„Zuerst war es der Vorarbeiter, dann der Verkäufer und schließlich mein Chef: Ich gewährte ihnen kleine Privilegien – sie waren gute Familienväter und sehnten sich nur nach ein wenig Vergnügen – und wurde dafür besser bezahlt und mehrmals befördert, bis ich mit sechzehn bereits Vorarbeiterin in der Fabrik wurde.“

Inzwischen genüge es ihr, in einem schönen Haus zu leben, gesteht Francesca. Wo und mit wem, ob geliebt oder nicht, sei bedeutungslos.

Die Kinder Dina und Anton kommen die Treppe herunter und grüßen im Vorbeigehen: „Hi Mom.“

Im Bett zieht Lola eine Außenposition vor und überlässt es Francesca, zwischen ihr und Zbigniew zu liegen. Als sie merkt, dass die beiden kopulieren, masturbiert sie und unterdrückt ihr Stöhnen, um sich nicht zu verraten.

Sobald Zbigniew eingeschlafen ist, schlüpfen die beiden Frauen aus dem Bett. Francesca sagt:

– Sie müssen nicht eifersüchtig sein. Ich komme nie zum Orgasmus.

Sie müsse dennoch gehen, meint Lola und schenkt ihr die Perlenkette. Den Kindern will sie einen Brief schicken.

Lola nimmt ein Taxi. Sie sieht Andys erleuchtetes Dachfenster – und steigt aus.

Ich kam mir vor wie ein Spieler, der in seiner Tasche ein paar vergessene Münzen findet, mit denen er im Spiel bleiben kann. Halten Sie hier an, sagte ich. Ich wartete ein paar Sekunden. Dann spürte ich etwas Ähnliches wie Entschlossenheit in mir wachsen, die Entschlossenheit, nicht mehr zu warten. Vielleicht war es riskant. Ich zahlte das Fahrgeld, überquerte die Straße und fing an zu laufen. Die Luft tat gut. Mir fiel ein, dass Luft sich mit dem ersten Schnee verändert. Ich fror in meinem dünnen Frühlingskleid und dem leichten Mantel, aber diesmal war mein Weg ausnahmsweise nicht weit.

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Shirley Kaszenbowski alias Lola Montez scheint ihrem Liebhaber Coenraad hörig zu sein, denn die Frau Mitte 40 reist ihm hinterher und wartet sehnsuchtsvoll auf ihn. Sie hat ihren Mann und die beiden Kinder verlassen, aber Coenraad verbringt die Wochenenden regelmäßig mit seiner Familie. (Das ist ein Gag, denn er ist Geheimagent.) Spätestens am Ende des Romans „Schwarzes Kleid mit Perlen“ von Helen Weinzweig wird deutlich, dass sich Shirley Kaszenbowski nicht über einen Mann definieren lässt, sondern emanzipiert, eigenständig und tatkräftig entscheidet.

Bei ihren Streifzügen durch Toronto begegnet sie immer wieder Frauen und Männern, die ihr schmerzhafte Lebensgeschichten aufdrängen. Dabei ist nie sicher, ob es sich nicht um eigene Erinnerungen handelt. Das gilt auch für eine 17-Jährige in Antibes, die sie bittet, ihr zu helfen, weil sie seit zwei Jahren von ihrem eigenen Vater gefangen gehalten wird. In „Schwarzes Kleid mit Perlen“ ist nichts sicher: Jede Szene könnte auch der wilden Vorstellungskraft der Protagonistin entsprungen oder Manifestation einer psychotischen Störung sein. Helen Weinzweig hat bewusst auf jedes Korrektiv zu der subjektiven Perspektive der Ich-Erzählerin verzichtet.

Die schillernde Unsicherheit in Verbindung mit Helen Weinzweigs Einfallsreichtum und Sprachwitz macht den besonderen Reiz der Lektüre aus. „Schwarzes Kleid mit Perlen“ ist ein origineller, tragikomischer Roman, prall gefüllt mit skurrilen Miniatur-Grotesken.

Helen Weinzweig wurde 1915 in Warschau als Tochter einer Frisörin und eines Talmudgelehrten und marxistischen Revolutionärs geboren. Sie hieß zunächst Helen Tenenbaum. Als sie zehn Jahre alt war, emigrierte ihre vom Ehemann verlassene Mutter mit ihr nach Kanada. 1940 heiratete Helen den Komponisten John Weinzweig. Im Alter von 52 Jahren veröffentlichte sie ihre erste Kurzgeschichte („Surprise!“). 1973 debütierte Helen Weinzweig mit dem Roman „Passing Ceremony“ / „Von Hand zu Hand“. Für „Basic Black with Pearls“ / „Schwarzes Kleid mit Perlen“ wurde sie 1981 mit dem Toronto Book Award ausgezeichnet. Helen Weinzweig starb 2010 im Alter von 95 Jahren.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2019
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach

Helen Weinzweig: Von Hand zu Hand

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.