Bernd Stegemann : Die Öffentlichkeit und ihre Feinde
Inhaltsangabe
Kritik
Kapitalismus-Kritik
Bernd Stegemann hält das „System“ für ungerecht. Der Neoliberalismus dominiere es, schreibt er. Charakteristisch für dieses kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem sei die Übervorteilung ärmerer Weltgegenden durch reichere. Aber, so Bernd Stegemann weiter, nicht nur die Kluft zwischen Arm und Reich auf der Erde vergrößere sich besonders seit der Weltfinanzkrise 2008, sondern auch die Spaltung innerhalb der eigenen Gesellschaft, etwa der deutschen. Der Neoliberalismus fordere einen starken Staat, der die Infrastruktur ausbaut, für Bildung, Gesundheit und soziales Wohlverhalten sorgt, aber die Märkte nicht in ihrer Freiheit beschränkt.
Das Spannungsfeld in offenen Gesellschaften erstreckt sich zwischen der Freiheit der Menschen und der Freiheit des Kapitals. […] Mensch und Kapital wollen gleichermaßen frei sein, doch ihre Freiheit bedeutet etwas komplett Unterschiedliches. Die Ansprüche der individuellen Freiheit und die Ansprüche des Kapitals auf freie Entfaltung begegnen sich auf dem Markt und stehen dort in einer systematischen Konkurrenz zueinander.
Die Wirtschaft beanspruche den Profit und erwarte vom Staat, dass er für die negativen Folgen der Gier aufkomme. Positiv klingende Begriffe wie Flexibilität seien als Kulissen für Zumutungen gedacht. Sprachliche Manipulationen dieser Art bezeichnet Bernd Stegemann unter Verweis auf den kanadischem Soziologem Erving Goffman als Framing.
Die neue Mittelschicht hat die meritokratischen Abgrenzungen auf alle Lebensbereiche erweitert. Die permanenten Bewährungsproben, die bei der Bildung, der Arbeit und beim Konsum bestanden werden müssen, optimieren das Subjekt und führen zugleich zu einer für alle sichtbaren Kennzeichnung von Erfolg und Misserfolg.
Postmoderne
Ein Narrativ der Postmoderne lautet, dass die großen Unterscheidungen, zum Beispiel die zwischen Arbeit und Kapital, obsolet geworden sind. Die Dichotomien wurden von einem Chaos individueller Meinungen und Interessen abgelöst.
Die Postmoderne ist die Erzählung eines radikalen Individualismus. Ihre Folgen für die Organisation und Interpretation von Realität sind gewaltig. Ihre Kernaussage lautet, dass es keine allgemeingültige Wahrheit mehr gibt, sondern nur noch einzelne Deutungen, die alle miteinander in einem Widerstreit liegen.
Eine gemeinsame Wahrheit kann es für die Postmoderne nicht geben, da alles relativ ist, und sie darf es nicht geben, da eine solche Wahrheit eine Machtposition gegenüber den widerstreitenden Parteien einnehmen würde.
Alles ist relativ, außer der Behauptung der Postmoderne, dass alles relativ ist.
[…] entsteht die von Habermas gefürchtete Gesellschaft, in der alle gegen alle in einem Wettkampf um ihre jeweiligen Sonderinteressen gefangen sind.
Verschärft wird das Problem durch die Unfähigkeit, auf andere Ansichten einzugehen. Es gibt nur noch Freunde, die unsere Meinung teilen, und Feinde, die es nicht tun. Die Gesellschaft wird dadurch zerrissen, und eine öffentliche Diskussion bzw. Willensbildung ist nicht mehr möglich, weil abweichende Meinungen bekämpft und Kompromisse verteufelt werden.
Die ideale Funktion von Öffentlichkeit besteht darin, Themen sichtbar zu machen, damit sich die widersprüchlichen Interessen darüber eine Meinung bilden können, um dann in einem gegenseitigen Austausch ein Bild der komplexen Lage zu erzeugen. Öffentliche Kommunikation ist also eine anspruchsvolle Kommunikation. Sie macht die Dinge komplizierter, als es den Beteiligen anfangs erscheint. […] Und sie verbessert die Bedingungen, aufgrund derer Entscheidungen getroffen werden, weil sie die unterschiedlichen Sichtweisen ans Licht bringt. Die Öffentlichkeit trifft keine Entscheidung, aber sie bereitet die Instanzen, die entscheiden sollen, darauf vor, was ihre Entscheidungen für Folgen haben werden.
In der Identitätspolitik sucht man geradezu nach Verstößen gegen die political correctness (wokeness), die dann skandalisiert werden können (cancel culture).
Die identitätspolitische Seite erklärt die Meinungsfreiheit zu einer parteilichen Verteidigung privilegierter weißer Menschen.
Bernd Stegemann verweist auf die Gefahren in einer Gesellschaft, die es für eine Aufgabe des Staates hält, beispielsweise für Gesundheitsschutz zu sorgen.
Mit Biopolitik ist eine Regierungsform gemeint, die sich aktiv um das Leben der Bevölkerung kümmert. Die Machttechniken, die dafür erfunden werden, greifen in alle Lebensbereiche ein. Die Geburten werden kontrolliert und die Nahrung wird überwacht. Von der Einschulung bis zur Impfung, vom Arbeitsschutz bis zur Kategorisierung von Krankheiten werden alle Lebensphasen durch Gesetze organisiert. Uns Menschen der Spätmoderne kommt diese Regulierung aller Lebensbereiche normal vor, und nicht selten werden wir dankbar dafür sein, dass unsere Gesundheit und unser Wohlergehen so feinmaschig überwacht und gesichert wird. Doch die Überwachungsdichte wächst nicht nur mit den technischen Möglichkeiten, sondern die Sensibilität für die Auswirkungen der Überwachung wächst im gleichen Maße. Ein zentraler Widerspruch biopolitischer Gesellschaften liegt in den Interessen nach lückenloser Absicherung und der Angst vor einer lückenlosen Überwachung.
Klimaprotest
2018 kam mit dem von Greta Thunberg initiierten Klimaprotest (Fridays for Future) noch etwas Neues dazu.
Die wachsende Ungleichheit, die unstillbare Gier und der permanente Veränderungsdruck, die das Kennzeichen unserer nervösen Gegenwart sind, bekommen eine andere Überschrift.
Bernd Stegemann hält diese Konflikt schürende Kommunikation nicht für zielführend. Da werden maximale Forderungen gestellt, um möglichst viel Aufmerksamkeit zu bekommen, aber in der Sache erreichen die Protestierenden kaum etwas. Die Rettung des Hambacher Forstes ist nicht mehr als ein Symbol, und dass Greta Thunberg 2019 mit einem Segelschiff zum Klimagipfel nach New York reiste, statt zu fliegen, bezeichnet Bernd Stegemann als Selbstsakralisierung.
Die Lage im Anthropozän vergleicht er mit einem Mehrfamilienhaus, in dem es brennt. Die seit Jahren zerstrittenen Mieter keifen sich gegenseitig an, statt gemeinsam zu löschen − und das Haus brennt nieder.
Seiner Meinung nach wäre Demut erforderlich, um die Öko-Apokalypse zu verhindern und vernünftige Wege aus der Klimakrise zu finden. Das Eingeständnis von Ratlosigkeit wäre ein erster Schritt, aber stattdessen protestieren junge Menschen, und alle nehmen nur ihre eigene Anschauung wahr. Man kann nicht wissen, was man noch nicht weiß (you cannot see, what you cannot see), aber die öffentliche Kommunikation ist auch gar nicht in der Lage, nach dem Unbekannten zu suchen.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Unwissenheit müsste zum allgemeinen Horizont des Nachdenkens werden und die Fragen nach dem Unbekannten die Gespräche bestimmen.
In seinem Buch „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ versucht Bernd Stegemann, den Strukturwandel der Öffentlichkeit zu analysieren und aufzuzeigen, welche Mechanismen eine DebattenKULTUR verhindern. Dabei geht er von einer Verteufelung des Kapitalismus und Neoliberalismus aus. Besonders beleuchtet er die Identitätspolitik und die von Greta Thunberg initiierte Protestbewegung. Beides sieht er kritisch.
Unsere Zukunftssorgen verringert Bernd Stegemann nicht, denn er weiß offenbar auch nur, was eine Bewältigung der Herausforderungen verhindert und bietet keine Lösungsvorschläge an.
Die Sprache ist akademisch, aber Bernd Stegemann unterlässt es, Begriffe klar zu definieren. Er setzt voraus, dass die Leserinnen und Leser wissen, was beispielsweise mit Identitätspolitik gemeint ist. Resümees der Kapitel wären hilfreich.
Bernd Stegemann (*1967) studierte Philosophie und Germanistik an der FU Berlin und der Universität Hamburg sowie Schauspieltheater-Regie an der Hamburger Theaterakademie und promovierte über „Die Gemeinschaft als Drama. Eine systemtheoretische Dramaturgie“. Von 1999 bis 2002 war er Chefdramaturg am Frankfurter TAT. 2005 wurde er als Professor für Theatergeschichte und Dramaturgie an die Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin berufen. Parallel dazu arbeitet Bernd Stegemann seit 2004 als Dramaturg in Berlin. Er engagiert sich auch politisch. Beispielsweise gehörte er 2018 an der Seite von Sarah Wagenknecht zu den Initiatoren der „Aufstehen“-Sammlungsbewegung zur Schaffung einer Mehrheit auf der linken Seite des Parteienspektrums.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2021
Textauszüge: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger