Ringparabel
Zentraler Bestandteil des Dramas „Nathan der Weise“ ist die Ringparabel (3. Aufzug, 7. Auftritt), die Lessing von Giovanni Boccaccio übernahm. (In der dritten Geschichte des ersten Tages des „Dekameron“ legt Filomena sie dem Juden Melchisedech in den Mund.) Vermutlich ist die Ringparabel noch älter und entstand im 11. Jahrhundert auf der Iberischen Halbinsel.
Nathan: Vor grauen Jahren lebt‘ ein Mann in Osten, der einen Ring von unschätzbarem Wert aus lieber Hand besaß. Der Stein war ein Opal, der hundert schöne Farben spielte, und hatte die geheime Kraft, vor Gott und den Menschen angenehm zu machen, wer in dieser Zuversicht ihn trug. Was Wunder, dass ihn der Mann in Osten darum nie vom Finger ließ; und die Verfügung traf, auf ewig ihn bei seinem Hause zu erhalten? Nämlich so. Er ließ den Ring von seinen Söhnen dem geliebtesten; und setzte fest, dass dieser wiederum den Ring von seinen Söhnen dem vermache, der ihm der liebste sei; und stets der liebste, ohn‘ Ansehen der Geburt, in Kraft allein des Rings, das Haupt, der Fürst der Familie werde.
So kam nun dieser Ring, von Sohn zu Sohn. Auf einen Vater endlich von drei Söhnen, die alle drei ihm gleich gehorsam waren, die alle drei er folglich gleich zu lieben sich nicht entbrechen konnte. Nur von Zeit zu Zeit schien ihm bald der, bald dieser, bald der dritte, – so wie jeder sich mit ihm allein befand, und sein ergießend Herz die andern zwei nicht teilten, – würdiger des Ringes; den er denn auch einem jeden die fromme Schwachheit hatte, zu versprechen. Das ging nun so, solang es ging. – Allein es kam zum Sterben, und der gute Vater kömmt in Verlegenheit. Es schmerzt ihn, zwei von seinen Söhnen, die sich auf sein Wort verlassen, so zu kränken. – Was zu tun? – Er sendet in geheim zu einem Künstler, bei dem er, nach dem Muster eines Ringes, zwei andere bestellt, und weder Kosten noch Mühe sparen heißt, sie jenem gleich, vollkommen gleich zu machen. Das gelingt dem Künstler. Da er ihm die Ringe bringt, kann selbst der Vater seinen Musterring nicht unterscheiden. Froh und freudig ruft er seine Söhne, jeden ins besondre; gibt jedem ins besondre seinen Segen – und seinen Ring, – und stirbt. –
Kaum war der Vater tot, so kömmt ein jeder mit seinem Ring, und jeder will der Fürst des Hauses sein. Man untersucht, man zankt, man klagt. Umsonst; der rechte Ring war nicht erweislich; – […]
[…] Die Söhne verklagten sich; und jeder schwur dem Richter, unmittelbar aus seines Vaters Hand den Ring zu haben. – Wie auch wahr! – Nachdem er von ihm lange das Versprechen schon gehabt, des Ringes Vorrecht einmal zu genießen. – Wie nicht minder wahr! – Der Vater, beteu’rte jeder, könne gegen ihn nicht falsch gewesen sein; und eh’er dieses von ihm, von einem solchen lieben Vater argwöhnen lass‘, eh müss‘ er seine Brüder, so gern er sonst von ihnen nur das Beste bereit zu glauben sei, des falschen Spiels bezeihen; und er wolle die Verräter schon auszufinden wissen; sich schon rächen.
Der Richter sprach: wenn ihr mir nun den Vater nicht bald zur Stelle schafft, so weise ich euch von meinem Stuhle. Denkt ihr, dass ich Rätsel zu lösen da bin? Oder harret ihr, bis der rechte Ring den Mund öffne? – Doch halt! Ich höre ja, der rechte Ring besitzt die Wunderkraft beliebt zu machen; vor Gott und Menschen angenehm. Das muss entscheiden! Denn die falschen Ringe werden doch das nicht können! – Nun; wen lieben zwei von euch am meisten? – Macht, sagt an! Ihr schweigt? Die Ringe wirken nur zurück? und nicht nach außen? Jeder liebt sich selber nur am meisten? – O so seid ihr alle drei betrogene Betrüger! Eure Ringe sind alle drei nicht echt. Der echte Ring vermutlich ging verloren. Den Verlust zu bergen, zu ersetzen ließ der Vater die drei für einen machen.
Und also; fuhr der Richter fort, wenn ihr nicht meinen Rat, statt meines Spruches wollt: Geht nur! – Mein Rat ist aber der: Ihr nehmt die Sache völlig wie sie liegt. Hat von Euch jeder seinen Ring von seinem Vater: so glaube jeder sicher seinen Ring den echten. – Möglich; dass der Vater nun die Tyrannei des einen Rings nicht länger in seinem Hause dulden wollen! – Und gewiss; dass er euch alle drei geliebt, und gleich geliebt: indem er zwei nicht drücken mögen, um einen zu begünstigen. – Wohlan! Es eifre jeder seiner unbestochenen von Vorurteilen freien Liebe nach! Es strebe von euch jeder um die Wette, die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut, mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, mit innigster Ergebenheit in Gott, zu Hülf‘! Und wenn sich dann der Steine Kräfte bei euren Kindes-Kindeskindern äußern; so lad’e ich über tausend Jahre, sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird ein weisrer Mann auf diesem Stuhle sitzen als ich; und sprechen. Geht! – So sagte der bescheidne Richter.
Lessing, der das Stück „Nathan der Weise“ im Geist der Aufklärung verfasste, wollte mit der Ringparabel darauf hinweisen, dass niemand weiß, welche der drei monotheistischen Religionen – Christentum, Judentum, Islam – der Wahrheit entspricht. Während es einfach ist, zu verstehen, dass die drei Söhne in der Ringparabel Christentum, Judentum und Islam personifizieren, gibt es verschiedene Antworten auf die Fragen nach dem Vater und dem Richter. Der Vater könnte für das Ideal einer einheitlichen Religion stehen. Im Richter sehen manche das Alter Ego des Autors, der dafür plädiert, dass Christen, Juden und Muslime sich gegenseitig achten und ihre verschiedenen Glaubensauffassungen respektieren, also nicht den Anspruch erheben, im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein.
© Dieter Wunderlich 2007
Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise