Janko Polić Kamov : Austrocknen

Austrocknen
Isušena kaljuža Manuskript: 1906 – 1909 Erstveröffentlichung: Rijeka 1956 Austrocknen Übersetzung: Brigitte Döbert Nachwort: Miljenko Jergović Guggolz Verlag, Berlin 2024 ISBN 978-3-945370-44-5, 384 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der Protagonist Arsen Toplak, der dem Autor Janko Polić Kamov zweifellos ähnelt, ist mit Anfang 20 unheilbar an Tuberkulose erkrankt und schreibt über sich. Er erinnert sich an frühere Erlebnisse und versucht, sich selbst zu verstehen.
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Kritik

Man kann "Austrocknen" als Autofiktion lesen. Eine stringente Handlung gibt es nicht; der Roman von Janko Polić Kamov setzt sich aus Erinnerungen und Reflexionen zusammen. Und weil der Protagonist weiß, dass ihm nicht viel Zeit bleiben wird, schreibt er hektisch-impulsiv.
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Arsen Toplak

Als er seine Vertretertätigkeit wegen einer Tuberkulose-Erkrankung aufgeben muss, zieht der junge Kroate Arsen Toplak wieder zu seiner seit zwei Jahren verwitweten Mutter in Zagreb. Sie leben von der Unterstützung der Brüder der Mutter und Arsens älterem Bruder Julije. Die Mutter sieht in der Sorge um ihren Sohn wieder einen Lebenssinn, aber er denkt:

Sie hatte ihm das Leben geschenkt, sie war Vergangenheit. Heute behinderte sie sein Leben, störte seine Gegenwart. Er brauchte sie nicht, sie war überflüssig, bedeutete ihm nichts, er hingegen war ihr ein und alles und würde es immer bleiben.

Seine Schwester Jelka ist mit einem Historiker und Gymnasiallehrer verheiratet, dessen Familienname Magdić lautet.

Arsens Schulfreund Nikšić brach ebenso wie er die Schule ab, hat sich aber inzwischen zum Kontoristen hochgearbeitet. Marko Božić, ein weiterer Freund, verdient sein Geld mit Adressenschreiben.

Es lebe die Gosse

Im Alter von 16 Jahren hatte Arsen seinen ersten Geschlechtsverkehr, und zwar mit der Prostituierten Adela im Bordell. Sie leitete ihn an. Erst beim dritten Koitus mit ihr fühlte sich der Gymnasiast auf Augenhöhe mit ihr. Seinen Schulkameraden entging nicht, dass er ins Bordell ging und dort eine feste Prostituierte hatte.

Das imponierte den Klassenkameraden – hast gehört, der geht dahin, hast gehört, der geht zu der, hast gehört, wegen du weißt schon … Das imponierte – mir!

Er war damals ein Allotria, der nichts ernst nahm, gern trank und knutschte – aus Jux und Tollerei. Sex war witzig. Ehebruch – witzig. Schwulsein – witzig. Eine Kneipenschlägerei – witzig. In der Lyrik heißt das Anakreontik, in der Prosa Schelmenroman und in satirischen Zeitschriften – Scherz.

Als er dann jedoch im Bordell Schulkameraden traf, verlor das alles seinen Reiz für ihn.

Fünf Monate lang wohnte Arsen in einem Konvikt. Damals gab es einen Skandal, als mehrere Priester Schülerinnen mit Syphilis infiziert hatten. Arsen fiel in der Zeit vom Glauben ab und verließ das Konvikt als Atheist.

Ich lachte wie verrückt. Das war ein Fest; das war Leben; das war Jungsein. Matura und Vaterland waren mir wurst, Masturbation, Religion, Konvikt und Schulen und Familie lagen hinter mir … Es lebe die Gosse!

Auf seine von Sexualität dominierte Lebensphase folgte eine zweite Kulmination „mit Überholen, Individuation und Absturz: Alkoholismus“.

In der ersten Kulmination schaffte ich es bis zum typischen Südländer: mit Sex; in der zweiten bis zum Nordländer: mit Alkohol.

Eine Seele ohne Ofen

Als der Arzt wegen der Tuberkulose Luftveränderung empfiehlt, reist Arsen nach Italien. Dort erfährt er durch ein Telegramm, dass seine Mutter einem Schlaganfall erlag. Dadurch fühlt er sich befreit.

Ich wollte in Rom studieren, mich isolieren, Geld verdienen. Studieren wegen – Ideen, Isolieren wegen der – Moral, Geld verdienen zum – Leben. Und plötzlich merkte ich dass es nicht zu schaffen war.

Arsen nimmt sich vor, einen autobiografischen Roman zu schreiben.

Beim Schreiben packt mich die Hektik. […] Ich schaff es nicht! Ich lebe dafür nicht lange genug … Jahrelang müsste ich mich hinsetzen, ins Zimmer einschließen; noch nicht schreiben, nur schweigen und exzerpieren und Notizen machen. Es geht nicht. Nach jeder zehnten Zeile rauche ich eine Zigarette … Mein Stift rast übers Papier, ich muss mich bremsen – deswegen rauche ich. Meine Gedanken schnellen aus dem Hirn wie Pfeile von der Sehne, die muss ich bremsen […].

Was musste in mir alles brechen und bersten, nur um es der Welt vor die Füße zu – kotzen! Nacht um Nacht, Schnaps um Schnaps, Schrei um Schrei.

Alles fügte sich: Masse und Klerus waren eins: Fanatismus. Schändung und Protestzug: Leidenschaft. Gläubige und Sünder: Dogma. Und Terror und Mitgefühl und Liebe und Hass und alles, was ich jetzt erwähnen wollte, war für mich eins: Fanatismus, der gegen Überzeugung stand, Leidenschaft gegen Liebe, Dogma gegen Denken. Mein Leben zog in neuer Gestalt an meinem inneren Auge vorbei, nicht länger Poesie, sondern Erzählung. Denn ich blieb kalt, mangels Reibung […]. Überhaupt erschien mir ein Leben in Leidenschaft, Dogma und Fanatismus als Reibung, die früher oder später Flammen, Zerstörung und Nirwana hervorbringt. Ich würde entweder als Alkoholiker vereinsamen oder als geselliger Mensch Stroh im Kopf haben … Gaga oder Gauner …

Seine dritte „Kulmination“ sei „mit Toleranz, Analyse, Bagatellen: eine Seele ohne Ofen“ schreibt Arsen.

Der Arzt hat die Nacktheit der Frau zur Verfügung und spürt keine Lust, weil er als ausgebildeter Arzt und nicht als Mann vor ihr steht … Hier ist Impotenz nichts als Heldenturm, Stärke und Potenz!
Ebenso stand ich als Schriftsteller vor dem Leben – stark, gesund und potent – und zugleich impotent, weil psychisch und physisch erkrankt … Und so lebte ich mehr und mehr auf dem Papier – wollte vom Papier leben – glaubte fürs Papier zu leben …

Tabak war an die Stelle von Alkohol und Sexus getreten; genauer: Tabak war mir wichtiger als Alkohol und ersetzte den Sexus.

Arsen verlässt Rom und reist über Florenz und Mailand nach Hause.

Die letzte Reise

In Rom hatte sich an seinem Hals ein Abszess tuberkulöser Natur gebildet; nun wird bei ihm ein Tumor am Arm bzw. Knochentuberkulose diagnostiziert.

Erneut verlässt er die Heimat. Mit einem Dampfer setzt er nach Venedig über und reist weiter über Turin nach Marseille und Neapel. Seiner Familie erzählte er, dass er in Frankreich studieren werde und man ihm für die Zeit seiner Rückkehr eine feste Anstellung in einer Redaktion zugesagt habe.

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Janko Polić wurde am 17. November 1886 als dreizehntes von vierzehn Kindern des Ehepaars Gemma und Ante Polić in Sušak (heute: Stadtteil von Rijeka) geboren. Um die Jahrhundertwende lebten nur noch sieben der Kinder.

Nach dem Bankrott des Vaters zog die Familie nach Zagreb. Dort wurde Janko Polić 1903 wegen der Teilnahme an Demonstrationen zu drei Monaten Haft verurteilt. Im Jahr darauf schloss sich der Schulabbrecher einer fahrenden Theatertruppe als Souffleur an. Anschließend lebte er in Zagreb und begann nicht nur fürs Feuilleton zu schreiben, sondern auch Gedichte, Novellen, Schauspiele und Romane. Als Schriftsteller fügte er seinem bürgerlichen Namen „Kamov“ hinzu.

Der Vater starb 1905, die Mutter genau ein Jahr später. 1907 bis 1910 bereiste Janko Polić Kamov Italien. Am 8. August 1910 starb der an Tuberkulose erkrankte 24-Jährige im Hospital de la Santa Creu in Barcelona.

Als sein Meisterwerk gilt der 1906 bis 1909 verfasste Roman „Isušena kaljuža“ (Ein ausgetrockneter Sumpf), der allerdings erst 1956 veröffentlicht wurde. Brigitte Döberts Übertragung ins Deutsche trägt den Titel „Austrocknen“.

Man kann „Austrocknen“ als Autofiktion lesen, aber wir wissen nicht, was autobiografisch und was Fantasie ist. Der Protagonist Arsen Toplak, der dem Autor Janko Polić Kamov zweifellos ähnelt, ist mit Anfang 20 unheilbar an Tuberkulose erkrankt und schreibt über sich. Er erinnert sich an frühere Erlebnisse und versucht, sich selbst zu verstehen. Im ersten Teil tritt er in der dritten Person Singular auf, dann als Ich-Erzähler. Eine stringente Handlung gibt es nicht; „Austrocknen“ setzt sich aus Erinnerungen und Reflexionen zusammen. Und weil der Protagonist weiß, dass ihm nicht viel Zeit bleiben wird, schreibt er hektisch-impulsiv.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2024
Textauszüge: © Guggolz Verlag

Claude Simon - Die Straße in Flandern
Claude Simon sprengt die gewohnte Erzählweise: Zeit und Raum ignorierend, montiert er seine Romane kunstvoll aus Handlungsfragmenten. Obwohl er nicht vorhat, die Wirklichkeit abzubilden, rauben einem gerade die Szenen, die er hyperrealistisch wie in Zeitlupe ablaufen lässt, schier den Atem.
Die Straße in Flandern

 

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.