Deniz Ohde : Streulicht

Streulicht
Streulicht Originalausgabe Suhrkamp Verlag, Berlin 2020 ISBN 978-3-518-42963-1, 285 Seiten ISBN 978-3-518-75349-1 (eBook) Suhrkamp-Taschenbuch ISBN 978-3-518-47174-6
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die Ich-Erzählerin, deren Namen wir nicht erfahren, wächst als Einzelkind einer türkisch-stämmigen Mutter und eines deutschen Fabrikarbeiters auf, zusammen mit dem erblindeten Großvater in einer kaputten (dysfunktionalen) und bildungsfernen Familie. Als Schülerin verinnerlicht sie, dass sie nicht wirklich "dazugehört", aber nach dem Scheitern am Gymnasium gelingt es ihr, das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nachzuholen und zu studieren, sich also selbst zu befreien.
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Kritik

Deniz Ohde kann in ihrem Debütroman "Streulicht" auf eigene Erfahrungen zurückgreifen. Das lässt ihre Darstellung authentisch wirken. Sie beschäftigt sich mit der Frage, ob die Herkunft die Bildungs- und Berufschancen determiniert. Literarische Experimente strebt Deniz Ohde mit "Streulicht" nicht an. Aber ihr Roman kam auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis, und Deniz Ohde wurde außerdem mit dem Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung 2020 ausgezeichnet.
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Rückkehr

Zur Hochzeit von Pikka und Sophia kehrt die Erzählerin (deren Namen wir nicht erfahren) aus Leipzig an den Ort zurück, an dem sie zusammen aufwuchsen. Während sie in dem Arbeiterviertel herumgeht, erinnert sie sich an ihre Kindheit und Jugend.

Die Eltern

Die Mutter war in einem muslimischen 500-Einwohner-Dorf an der türkischen Schwarzmeerküste aufgewachsen. Ihr Geburtsdatum kannte niemand. Das sechste Kind der Familie war ungewollt als Nachzüglerin gezeugt worden. Der Vater starb, als sie zehn oder elf Jahre alt war, und die Witwe schlug das ungeliebte Kind mit einer Eisenstange. Nach dem Tod des Vaters aß das Kind verbotenerweise Schweinefleisch – und stellte fest, dass nichts passierte. Schließlich folgte die junge Frau ihrer älteren Schwester nach Deutschland. Diese holte sie in Frankfurt am Main vom Flughafen ab und vermittelte ihr einen Job in der Reinigungsfirma, für die sie selbst putzte.

Der Vater tunkt seit 40 Jahren in derselben Fabrik Aluminiumbleche in Laugen. Als er seine von der Schwarzmeerküste stammende Freundin mit nach Hause nahm, um sie seinem seit 1976 verwitweten und später erblindeten Vater vorzustellen, sagte dieser nur kurz „Hallo“ zu ihr.

„Ich wollte sie dir vorstellen“, sagte mein Vater. „Du hättest ja kurz mal ein Wort mit ihr wechseln können.“ „Hab ich doch, hab doch hallo gesagt. […] Ich habe nie etwas gegen die gehabt, und ich habe es auch jetzt nicht“, sagte mein Großvater.

Als die Frau bei ihrem Lebensgefährten und späteren Ehemann einzog, versuchte sie vergeblich, ihm beizubringen, dass man nicht alles aufheben müsse. Er konnte nichts wegwerfen. Das hatte er von seinem Vater übernommen, der durch die Entbehrungen im Krieg so geworden war.

Kindheit und Jugend

1989 wird ihre Tochter geboren. Sie bleibt ein Einzelkind.

Die Eltern schlafen getrennt. Wenn der Vater betrunken ist – was häufig geschieht – schlägt er im Jähzorn zwar weder Frau noch Tochter, zertrümmert jedoch Gegenstände in der Wohnung.

Bei einer Chemieunfallübung in der Schule wird das Mädchen von einem Mitschüler als K… beschimpft und zu Boden geschlagen. Die Lehrerin und die Schulkrankenschwester sprechen von einem Unfall und beteuern, dass nichts passiert sei. Die Verletzte fragt ihre Mutter, was das Wort K… bedeute.

„Es ist ein Schimpfwort“, sagte sie. „Aber du kannst nicht gemeint sein. Du bist Deutsche.“

1999 wechselt sie mit ihrer Freundin Sophia zusammen aufs Gymnasium, aber ihre Noten sind zu schlecht, um dort weitermachen zu können.

Während die aus einer „besseren“ Familie stammende Sophia ebenso wie ihr Freund Pikka nach dem Abitur studieren, holt die Erzählerin den Schulabschluss an einer Abendhaupt- und -realschule nach. Ihr Abitur an einem Oberstufengymnasium besteht sie als Jahrgangsbeste. Dass sie mit diesem Zeugnis nicht Jura oder ein anderes Fach mit strengem Numerus clausus studieren will, halten andere für eine „Verschwendung“, aber ihr geht es nicht darum, Karriere zu machen.

Während sie noch das Oberstufengymnasium besuchte, starb ihre Mutter und wurde ungeachtet ihrer muslimischen Herkunft auf einem christlichen Friedhof eingeäschert. (Ihr blinder Schwiegervater war zu diesem Zeitpunkt bereits tot.)

Studium

Die junge Frau beginnt, in Leipzig Germanistik zu studieren. Als eine Professorin ihren zweiten – türkischen – Vornamen hört, glaubt sie, eine Erasmus-Studentin vor sich zu haben.

Ihr Kommilitone Lukas meint, es gebe nur wenige Plätze an der Sonne. Die Agentur für Arbeit weist sie einem Bewerbungstraining zu, und um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, bewirbt sie sich bei einer Reinigungsfirma und fängt in einer Anwaltskanzlei zu putzen an..

Die Vorstellung meines Vaters, ich hätte mir durch mein Studium und den Umzug in eine andere Stadt eine Eintrittskarte zu einer Welt erworben, zu der er nicht gehört.

Abreise

Pikka und Sophia haben eine Dachgeschosswohnung. Sie heiraten in der renovierten Kirche, in der 1996 eine Frau einen Selbstmordanschlag verübte. Hindernisse kennen die beiden nicht; sie blicken einer beruflich erfolgreichen Zukunft entgegen.

Die Besucherin aus Leipzig reist vorzeitig ab.

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Deniz Ohde wurde 1988 in Frankfurt am Main geboren und wuchs im Arbeiterviertel Sindlingen auf, bis sie 2011 nach Leipzig zog und dort Germanistik studierte. Obwohl es vermutlich falsch wäre, von Parallelen zwischen der Autorin und der Protagonistin auf Autofiktion oder gar eine Autobiografie zu schließen, kann Deniz Ohde in ihrem Debütroman „Streulicht“ auf eigene Erfahrungen zurückgreifen. Das lässt ihre Darstellung authentisch wirken.

Die Ich-Erzählerin, deren Namen wir nicht erfahren, wächst als Einzelkind einer türkisch-stämmigen Mutter und eines deutschen Fabrikarbeiters auf, zusammen mit dem erblindeten Großvater in einer kaputten (dysfunktionalen) und bildungsfernen Familie. Obwohl die Mutter ihrer Freundin Sophia, der es an nichts fehlt, das Mädchen aus prekären Verhältnissen nicht bewusst ausgrenzt, ist der Klassenunterschied nicht zu übersehen. In der Schule, aber auch später an der Universität kommt dazu eine mehr oder weniger latente Xenophobie wegen der türkischstämmigen Mutter der Erzählerin. Determiniert die Herkunft die Bildungs- und Berufschancen?

Wie ist es dazu gekommen […], wie konnte dieses Kind durchs Raster fallen? […] Wie konnte dieses Kind durch die Maschen fallen?

In „Streulicht“ hat die in unterprivilegierten Verhältnissen aufwachsende Protagonistin zwar die Zurücksetzung verinnerlicht, aber nach dem Scheitern am Gymnasium gelingt es ihr, das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nachzuholen und zu studieren, sich also selbst zu befreien – übrigens ohne Triumphgefühle. Die von Deniz Ohde in „Streulicht“ erzählte Geschichte ist trist, aber der Erfolg der Hauptfigur wirkt ermutigend.

Man kann „Streulicht“ als Bildungsroman einordnen. Deniz Ohde hat das eigentliche Geschehen in eine Rahmenhandlung eingefügt und erzählt deshalb auf zwei Zeitebenen. In der Gegenwart ist die Protagonistin zu Besuch in ihrem Geburtsort. Dort erinnert sie sich an ihre Kindheit und Jugend. Was damals geschah, erfahren wir durch Rückblenden.

Sophia und Pikka heiraten in der evangelischen Kirche in Frankfurt-Sindlingen. Das in „Streulicht“ erwähnte Selbstmordattentat ist nicht fiktiv: Bei der Christmette 1996 zündete eine 49-Jährige am Körper versteckte Handgranaten und riss nicht nur zwei weitere Frauen mit in den Tod, sondern verletzte außerdem 13 Personen, zehn davon schwer.

Literarische Experimente strebt Deniz Ohde in „Streulicht“ nicht an. Aber ihr Roman kam auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis, und Deniz Ohde wurde außerdem mit dem Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung 2020 ausgezeichnet.

Den Roman „Streulicht“ von Deniz Ohde gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Marit Beyer.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2024
Textauszüge: ©

Deniz Ohde: Ich stelle mich schlafend

Max Frisch - Montauk
Die Erzählung über eine Romanze im Mai 1974 teilt Max Frisch in viele einzelne Teile auf, die er mit älteren Erinnerungen, Tagebuchauszügen, Selbstreflexionen und anderem autobiografischen Material zu einer Collage montiert – wodurch das Werk über die individuelle Konfession hinausgehoben wird.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.