Daisy Hildyard : Notstand

Notstand
Emergency Fitzcarraldo Editions, London 2022 Notstand Übersetzung: Esther Kinsky Suhrkamp Verlag, Berlin 2024 ISBN 978-3-518-43163-4, 238 Seiten ISBN 978-3-518-77854-8 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Eine Frau, deren Namen wir nicht erfahren, sitzt während des Corona-Lockdowns in ihrer Wohnung, erinnert sich an die Kindheit und schreibt darüber. "Notstand" setzt sich vor allem aus Naturbeobachtungen des Schulkindes zusammen.
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Kritik

In ihrem poetischen Roman "Notstand", der sich als Nature Writing einordnen lässt, veranschaulicht Daisy Hildyard, dass nicht nur Mensch und Natur, sondern alles mit allem verknüpft ist. Eine Handlung im engeren Sinn gibt es ebenso wenig wie ausgeleuchtete Charaktere.
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Lockdown (1)

Während des Corona-Lockdowns schreibt eine Autorin, deren Namen wir nicht erfahren, über ihre Kindheit in den Neunzigerjahren in einem Dorf in Yorkshire.

Erinnerungen

Die Schule wies nur zwei Klassen für sieben Jahrgänge auf. Die Erzählerin ging damals noch in die untere Klasse. Das einzige nicht weiße Kind in der Schule war Ashley („Ash“). Der Vater arbeitete in einer Frühstückspension, die Mutter Elizabeth im Altenheim am Dorfrand. Bei den Großeltern mütterlicherseits handelte es sich um Asiaten aus Uganda.

Die Mutter der Autorin war Vertretungslehrerin, ihr promovierter Vater erfüllte zwar kurzfristige Lehrverträge an verschiedenen Universitäten, jobbte aber zumeist als Anstreicher oder auf Bauernhöfen.

Sie erinnert sich an Streiche, die sie mit anderen ausführte, an die Veränderungen im Steinbruch nach der Übernahme durch ein kanadisches Unternehmen, vor allem aber an Beobachtungen von Tieren: eine Kröte, ein dreibeiniges Reh, eine Füchsin mit drei Welpen, ein über einer Maus kreisender Falke, zerquetsche Kiebitz-Nester in von Traktorenreifen in den Boden gedrückten Fahrrinnen. Sie nahm an, dass die sukzessive gebauten Nester allesamt von einem einzigen Weibchen stammten.

Ihr Nest entstand wieder und wieder an fast derselben Stelle, und für meine Wahrnehmung hatte das dieselbe Wirkung wie die ständige Wiederholung ein und desselben Wortes: Es machte jede Möglichkeit einer Bedeutung zunichte und erschien mir damals als eine solche Sinnlosigkeit, dass ich unwillkürlich lachen musste. […] Vielleicht empfand sie jedes zerstörte Nest als eine metastasierende Leere.

Dem Bauern Thomas Gray half sie mit den Kühen, und er holte sie ebenso wie die Feuerwehr zu Hilfe, als die ausgebrochene Kuh Ivy und der namenlose Stier im Moor einsanken und herausgezogen werden mussten.

Alice Gray, eine als Hexe verrufene alte Frau, wurde von ihrem Sohn Thomas weggebracht, und in das von ihr hinterlassene Haus ließ er Ferienwohnungen einbauen.

Die etwas ältere Mitschülerin Clare – Tochter von Nic und Dmitri – wurde krank, kam nicht mehr zur Schule und starb schließlich im Krankenhaus.

Lockdown (2)

Die Autorin hat längst bemerkt, dass die Batterien des Rauchmelders in ihrer Wohnung leer sind. Nun ist sie so vertieft in ihre Erinnerungen und das Schreiben darüber, dass sie erst spät wahrnimmt, dass ein Feuer ausgebrochen ist. Vor dem Fenster schlagen Flammen hoch.

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In ihrem poetischen Roman „Notstand“, der sich als Nature Writing einordnen lässt, veranschaulicht Daisy Hildyard, dass nicht nur Mensch und Natur, sondern alles mit allem verknüpft ist. Dafür ein Beispiel, das allerdings weder mit Tieren noch Pflanzen zu tun hat:

Die Münze […] hätte nun in einem Fach der unterteilten Plastiklade in der Supermarktkasse liegen sollen, die nächste Station auf einer stoßweisen, unvermeidlichen Reise in Richtung Hauptstadt, wo der Supermarkt seinen Hauptsitz hatte, wo die Banken niedergelassen waren und wo sich meine Münze früher oder später in Pixel auflösen würde […]. Meine Münze würde eine neue, virtuelle Existenz als Zahlenstelle auf einem Bildschirm antreten, ihres Körpers begeben, ihre Seele wohnhaft in virtuellen Bergen virtueller Münzen in einer gewaltigen Tasche, deren Aufnahmevermögen für Geld stetig wächst und wächst, ohne dass geografischer Raum sich auch nur um einen Zoll ausweitet. (Leseprobe aus dem Roman „Notstand“ von Daisy Hildyard)

Eine Frau, deren Namen wir nicht erfahren, sitzt während des Corona-Lockdowns in ihrer Wohnung, erinnert sich an die Kindheit und schreibt darüber. Eine Handlung im engeren Sinn gibt es ebenso wenig wie ausgeleuchtete Charaktere. „Notstand“ setzt sich vor allem aus Beobachtungen des Schulkindes zusammen. Dabei schildert Daisy Hildyard idyllische Naturszenen ebenso sachlich wie Grausamkeiten, etwa wenn die kindliche Beobachterin zusieht, wie eine Mitschülerin einen Star zu Tode quält oder eine Füchsin ihren drei Welpen eine lebende Bachstelze bringt.

Offen gestanden: Mit beseelten Tieren, die über abstrakte Zusammenhänge nachdenken und mit Menschen kommunizieren, kann ich wenig anfangen.

Daisy Hildyard promovierte in Wissenschaftsgeschichte. 2014 debütierte sie mit „Hunters in the Snow“ als Romanautorin. Über das Verhältnis von Mensch und Natur denkt sie in ihrem Essay „The Second Body“ aus dem Jahr 2017 nach. „Emergency“ / „Notstand“ ist das erste Buch von ihr, das – von Esther Kinsky – ins Deutsche übertragen worden ist.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2024
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

Alexander Pschera - Vergessene Gesten
Die Auswahl der "vergessenen Gesten" wirkt beliebig. Zu manchen der "125 Volten gegen den Zeitgeist" hat Alexander Pschera mehr als eine Seite geschrieben, andere hat er mitl zwei Zeilen kommentiert. "Vergessene Gesten" ist zuallererst ein Aufruf, sich altmodischer zu verhalten. Warum? Weil unser Leben aufgrund des Vergessens von Gesten "einförmiger, monotoner, gegenstandsloser geworden" sei, heißt es im Klappentext. Das Buch ist sehr schön gebunden und mit Illustrationen von Leandra Eibl bebildert.
Vergessene Gesten

 

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.