Sebastian Faulks : Gesang vom großen Feuer

Gesang vom großen Feuer
Originalausgabe: Birdsong Macmillan Collector's Library Basingstoke/Hampshire 1993 Gesang vom großen Feuer Übersetzung: Sebastian Modick Schöffling Verlagsbuchhandlung, Frankfurt/M 1997 ISBN 978-3-89561-640-2, 604 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

1910 verlässt die schwangere junge Ehefrau eines Textilfabrikanten in Amiens ihren Mann, aber kurz darauf trennt sie sich auch von ihrem Liebhaber, dem Engländer Stephen Wraysford. Der kämpft 1916 bis 1918 an der Westfront gegen die Deutschen und erfährt dabei die Unmenschlichkeit des Krieges. Er stirbt 1938, zwei Jahre vor der Geburt seiner Enkelin Elizabeth Benson, die 1978/79 versucht, mehr über ihn herauszufinden …
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Kritik

"Gesang vom großen Feuer" ist ein etwas pathetischer Antikriegsroman, beginnt jedoch mit einer Dreiecksgeschichte und erweckt deshalb zunächst falsche Erwartungen. Sebastian Faulks wechselt zwischen drei Zeitebenen: 1910, 1916 – 1918, 1978/79. Er veranschaulicht die Unmenschlichkeit des Krieges in realistischen, einprägsamen und gründlich recherchierten Bildern.
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Frankreich 1910

Stephen Wraysford, der 1890 geborene Sohn einer Fabrikarbeiterin in Lincolnshire, kennt seinen Vater nicht, denn der verließ seine Geliebte, als sie schwanger war. Die Mutter, deren Vater als Knecht auf einem Bauernhof beschäftigt war, kehrte zu ihren Eltern zurück, bis sie erneut schwanger wurde und mit dem neuen Liebhaber durchbrannte. Stephen wuchs daraufhin bei den Großeltern auf, bis der Großvater wegen Diebstahls ins Gefängnis kam und die Behörden den Jungen in ein Heim einwiesen.

Inzwischen ist Stephen Wraysford 20 Jahre alt. Sein Arbeitgeber in England hat ihn zu dem Textilfabrikanten René Azaire nach Amiens geschickt, damit er sein kaufmännisches Wissen durch technische Kenntnisse ergänzen kann.

René Azaire ist um die 40 Jahre alt und seit sechs Jahren mit einer zehn Jahre jüngeren Frau verheiratet: Die 16-jährige Tochter Lisette und der 10 Jahre alte Sohn Grégoire stammen von seiner vor acht Jahren gestorbenen ersten Ehefrau. Isabelle Azaire, geborene Fourmentier, ist die jüngste von fünf Töchtern eines Rechtsanwalts in Rouen, der ihre Eheschließung mit dem Unternehmer arrangierte.

Stephen verliebt sich in Isabelle, und sie erwidert seine Gefühle. Die beiden lassen sich auf ein heimliches Liebesverhältnis ein. Isabelle empfindet Stephens Zärtlichkeit umso mehr, als ihr Ehemann sie regelmäßig schlägt, seit er impotent geworden ist.

Als René Azaire während eines Ausstands der Färber erfährt, dass seine Frau dem Streikführer Lucien Lebrun Lebensmittel für die hungernden Familien der Beteiligten bringt, stellt er sie zur Rede und spricht sie auf das Gerücht an, sie habe eine Affäre mit dem Arbeiter. Isabelle gesteht, dass sie einen Liebhaber habe, fügt jedoch hinzu, es sei nicht Lucien Lebrun, sondern Stephen Wraysford.

Sie verlässt ihren Ehemann und die Stiefkinder. Nachdem sie und Stephen in Grenoble dessen 21. Geburtstag gefeiert haben, ziehen sie nach St. Rémy-de-Provence. Dort stellt Isabelle fest, dass sie schwanger ist, aber sie verschweigt es Stephen – und verschwindet, ohne sich von ihm zu verabschieden.

In der Hoffnung, dass sie zu ihm zurückkehren würde, bleibt Stephen Wraysford noch ein Jahr lang in St. Rémy-de-Provence, dann reist er nach Paris.

Frankreich 1916 – 1918

1916 gehört Leutnant Stephen Wraysford zu den britisch-französischen Streitkräften, die in einer Großoffensive an der Somme gegen die dort verschanzten Deutschen kämpfen.

Während er einen Tunnel inspiziert, zünden die Deutschen einen Sprengsatz, und er wird schwer verletzt. Als sich der 38-jährige Tunnelbauer Jack Firebrace im Operationszelt nach ihm erkundigt, erfährt er, dass der Offizier bei den Toten und Sterbenden liegt. Aber Stephen Wraysford überlebt, wird ins Lazarett gebracht und kehrt drei Wochen später an die Front zurück.

Jack Firebrace erfährt durch einen Brief seiner in Edmonton bei London lebenden Frau Margaret, dass der achtjährige Sohn John an Diphterie erkrankt ist. Heimaturlaub bekommt er dennoch nicht. Bald darauf benachrichtigte Margaret ihn vom Tod des Kindes.

Das Brigade-Hauptquartier wird nach Auchonvillers nordöstlich von Amiens verlegt. Von dort wird ein Angriff auf einen von den Deutschen gehaltenen Hügel vorbereitet. Stephen kennt die Gegend von einem Angelausflug mit der Familie Azaire. Beim Vormarsch passieren die Soldaten eine Stelle, an der bereits ein Massengrab für die zu erwartenden Toten ausgehoben wird. Von den 800 Männern des Bataillons überleben nur 155 die Schlacht.

Aber der Krieg geht weiter.

Im Verbindungsgraben stand knöcheltief orangefarbener Schleim, der Stiefel und Gamaschen verkleisterte. Je näher sie der Front kamen, desto stärker begann es zu stinken. Nach einem Kilometer hatte sich der Graben in eine in Zickzacklinie verlaufende Klärgrube verwandelt, in der schenkeltiefer Matsch waberte, vermischt mit Exkrementen aus den übergelaufenen Latrinen und verdickt von verwesenden Leichenteilen, die, wenn eine Grubenwand einstürzte, immer wieder aus den unteren Erdschichten aufgeschwemmt wurden.

Stephen löst Captain William Allan McKenzie Gray als Kompaniechef ab, als dieser zum Bataillonskommandeur befördert wird.

Während eines kurzen Aufenthalts in Amiens trifft Stephen zufällig auf Isabelles zwei Jahre ältere Schwester Jeanne Fourmentier und erfährt, dass die Deutschen René Azaire und einige andere Franzosen deportierten. Als Isabelle bei einem Bombardement verletzt wurde, kam Jeanne von Rouen nach Amiens, um sie nach der Entlassung aus dem Krankenhaus zu pflegen. Stephen besucht sie am nächsten Abend. Sie verschweigt ihm zwar seine Tochter, erzählt ihm jedoch von ihrer Liebesbeziehung mit einem preußischen Offizier namens Max.

Bald darauf reist sie mit ihrer Tochter nach München, zu ihrem schwer verletzten Lebensgefährten. Stephen korrespondiert mit Jeanne und besucht sie hin und wieder.

An der Front muss er zusehen, wie der mit ihm befreundete 32-jährige Captain Michael Weirs unvorsichtigerweise nicht auf Deckung achtet und von einem deutschen Scharfschützen in den Kopf getroffen wird.

Captain Wraysford erhält von Colonel Gray den Befehl, sich mit seiner Einheit auf eine Großoffensive gegen den von den Deutschen gehaltenen Bergrücken von Wytschaete bei Messines vorzubereiten. Wieder kommt Tunnelbauern wie Jack Firebrace große Bedeutung zu, weil sie unter den deutschen Stellungen Sprengladungen anbringen, deren Explosion 10 000 Menschen tötet und entscheidende Lücken in die Reihen der Deutschen reißt.

Nach einem weiteren Besuch bei Jeanne – nun in Rouen, wohin sie zurückgekehrt ist – inspiziert Stephen wieder in Begleitung von ein paar Soldaten einen Tunnel an der Front. Dass die Deutschen den Tunnel entdeckt haben, ahnen sie nicht – bis sie durch die Explosion einer Sprengladung verschüttet werden.

Stephen überlebt mit einer schmerzhaften Armverletzung, und es gelingt ihm, aus dem Schutt freizukommen. Er stößt auf Jack Firebrace und räumt das Geröll weg, das dem Tunnelbauer beide Beine zertrümmert hat. Während Jack nur noch sterben will, erwacht in Stephen – dem nach dem Verlust Isabelles alles gleichgültig wurde – neuer Lebensgeist. Es gelingt ihm, den Schwerverletzten durch einen intakten Tunnel zu schleppen, aber der Ausgang ist durch eine zweite Sprengung blockiert.

Nach mehreren Tagen entdeckt Stephen eine Sandsack-Barriere und dahinter Sprengstoff. Er trägt Jack in einen Querstollen, holt Atemgeräte und legt in Ermangelung eines Zünders eine Pulverspur, die er über eine aus zerrissenem Stoff gebastelten Zündschnur in Brand setzt.

Die Detonation lässt einen Teil der deutschen Stellungen erbeben. Ein Suchtrupp wird losgeschickt. Levi, der Anführer, der vor dem Krieg als Arzt in Hamburg praktizierte, stößt auf die Leiche seines jüngeren Bruders Joseph. Auch alle anderen Männer, die zum Zeitpunkt der Explosion unter Tage waren, scheinen tot zu sein, aber Levi macht weiter – und findet schließlich Stephen. Die Deutschen retten den Engländer. Für Jack Firebrace kommt die Hilfe allerdings zu spät. Als sie wieder an die Oberfläche kommen, stellen sie fest, dass der Krieg zumindest an diesem Frontabschnitt vorbei ist.

England 1978/79

Elizabeth Benson ist 38 Jahre alt. Vor 15 Jahren fing sie als Modedesignerin an, und inzwischen leitet sie ein eigenes Unternehmen in London. Ihr Liebhaber Robert, ein Diplomat, mit dem sie sich zumeist in Brüssel verabredet, verspricht ihr, er werde sich von seiner Ehefrau Jane scheiden lassen, aber er zögert und erklärt Elizabeth, er müsse Rücksicht auf die zehnjährige Tochter Anne nehmen. Als ihm Elizabeth mitteilt, dass sie schwanger sei, reagiert er erst einmal schockiert.

Ihren Vater Alec Benson kennt Elizabeth nicht. Der Alkoholiker verließ seine Frau Françoise gleich nach der Geburt der Tochter und setzte sich nach Afrika ab. Auf dem Dachboden des Hauses ihrer Mutter in Twickenham findet Elizabeth Notizbücher ihres Großvaters aus den Jahren 1915 bis 1918.

Elizabeth beginnt in den Aufzeichnungen zu lesen und weitere Nachforschungen anzustellen, um mehr über ihren Großvater zu erfahren.

Sie verabredet sich mit ihrer Mutter in einem Restaurant, um ihr von der Schwangerschaft zu berichten. Dass Françoise nicht ungehalten reagiert, weil Elizabeth ledig ist, verwundert die werdende Mutter. Erst jetzt erfährt Elizabeth, dass ihre leiblichen Großeltern auch nicht verheiratet waren. Das kann sie zunächst gar nicht glauben. Ja, Jeanne und Stephen Wraysford heirateten 1919, bestätigt Françoise, aber da sei sie selbst bereits sieben Jahre alt gewesen. Nicht Jeanne, sondern deren  Schwester Isabelle war ihre leibliche Mutter. Erst kurz vor der Hochzeit erfuhr Stephen von der Existenz seiner Tochter Françoise. Als Isabelle während einer Grippe-Epidemie in München starb und ihr Max bald darauf ins Grab folgte, zogen Jeanne und Stephen das verwaiste Kind auf. Stephen starb 1938 –zwei Jahre vor der Geburt seiner Enkelin Elizabeth –, und Jeanne wurde 1944 zu Grabe getragen.

Als Elizabeth ihr Kind zur Welt bringt, ist Robert bei ihr. Der Sohn soll den Namen John erhalten – in Erinnerung an den an Diphterie gestorbenen Sohn des Tunnelbauers Jack Firebrace.

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Sebastian Faulks beginnt sein Buch „Gesang vom großen Feuer“ mit einer 1910 in Amiens spielenden Dreiecksgeschichte. Auf Seite 151 wechselt er dann abrupt das Szenario und schleudert die Leserinnen und Leser in die Schlacht an der Somme in der zweiten Hälfte des Jahres 1916, in der mehr als eine Million Menschen fielen oder verwundet wurden. „Gesang vom großen Feuer“ dreht sich zwar auch um Liebe und Selbstfindung, aber es handelt sich zuallererst um einen unromantischen Antikriegsroman. Die vom ersten Teil ausgelösten falschen Erwartungen hätte Sebastian Faulks durch einen Prolog vermeiden können.

Er entwickelt die Geschichte auf drei Zeitebenen: 1910, 1916 – 1918, 1978/79. Im Zentrum steht das Kriegsgeschehen an der Westfront von der verlustreichen Schlacht an der Somme 1916 bis zur Schlacht bei Mesen bzw. Messines in Flandern (Schlacht am Wytschaetebogen) im Frühsommer 1917. Sebastian Faulks veranschaulicht die Unmenschlichkeit des Krieges in realistischen, einprägsamen Bildern. Da wird nichts beschönigt. Er muss viel recherchiert haben, denn er beschreibt beispielsweise den Tunnelbau an der Front in vielen Details und mit stupender Sachkenntnis.

Protagonist auf der ersten und zweiten Zeitebene ist der 1890 geborene Engländer Stephen Wraysford. Nachdem seine große Liebe 1910 gescheitert ist, versinkt er zwar in Resignation, aber gerade die Gleichgültigkeit gegenüber dem eigenen Leben erleichtert es ihm, im Krieg für seine Männer einzustehen und gefährliche Kommandos zu übernehmen. Am Ende gewinnt er seinen Lebenswillen zurück.

Elizabeth Benson, die 38-jährige Protagonistin der 1978/79 spielenden Teile des Romans „Gesang vom großen Feuer“, ist Stephen Wraysfords Enkelin. Sie überwindet durch die Nachforschungen über ihren Großvater und eine Schwangerschaft ihre innere Leere.

Sebastian Faulks wechselt nicht nur mit den Zeitebenen die Perspektive, sondern nimmt auch immer wieder die Haltung eines auktorialen Erzählers ein, der das Verhalten der Figuren erläutert. „Gesang vom großen Feuer“ wirkt nicht nur wegen des Titels pathetisch. Vielleicht wäre es besser gewesen, das Grauen beispielsweise durch Sarkasmus zu brechen.

„Gesang vom großen Feuer“ ist ein heterogener Roman mit zu vielen Nebenhandlungen. Allerdings bietet das 600 Seiten dicke Buch eine mitreißende, erschütternde Lektüre.

Der Originaltitel „Birdsong“ bezieht sich auf die Kanarienvögel, die von den Tunnelbauern mitgenommen wurden, um frühzeitig vor Giftgas gewarnt zu werden. Für die deutsche Übersetzung von Klaus Modick wählte der Verlag den Titel „Gesang vom großen Feuer“. Damit wird auf den Krieg angespielt, denn früher hieß es von Frontsoldaten, sie seien im Feuer gewesen.

Der Roman „Birdsong“ / „Gesang vom großen Feuer“ von Sebastian Faulks wurde fürs Fernsehen verfilmt:

Birdsong. Gesang vom großen Feuer – Originaltitel: Birdsong – Regie: Philip Martin – Drehbuch: Abi Morgan nach dem Roman „Gesang vom großen Feuer“ von Sebastian Faulks – Kamera: Julian Court – Schnitt: Kristina Hetherington – Musik: Nicholas Hooper – Darsteller: Eddie Redmayne, Clémence Poésy, Matthew Goode, Rory Keenan, Thomas Turgoose, Richard Madden, Joseph Mawle, Simon Nehan, Daniel Cerqueira, Nicholas Moss, Marie-Josée Croze, Laurent Lafitte u.a. – 2012

Eine geplante Kinoadaptation des Romans „Gesang vom großen Feuer“ unter der Regie von Rupert Wyatt wurde bisher (2018) nicht realisiert. Seit 1997 gibt es „Birdsong“ auch als Hörspiel, und 2010 wurde der Roman für die Bühne bearbeitet.

Sebastian Charles Faulks wurde am 20. April 1953 in Donnington bei Newbury/Berkshire geboren. Er studierte Literatur und Geschichte am Emmanuel College in Cambridge. 1984 debütierte er mit dem Roman „A Trick of the Light“, arbeitete jedoch bis zum Durchbruch mit „Birdsong“(1993)  weiter als Journalist.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2018

Erster Weltkrieg

Georg Hermann - Die Nacht des Doktor Herzfeld
Georg Hermann versetzt sich einfühlsam in die Lage der widersprüchlichen Titelfigur und schildert die Impressionen konsequent aus der Perspektive dieses Repräsentanten des gebildeten Judentums der Metropole. So entsteht ein stream of consciousness. Heute wirkt der Roman "Die Nacht des Doktor Herzfeld" altmodisch, aber bei der Lektüre fallen die literarischen Qualitäten des "jüdischen Fontane" auf.
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