Jenny Erpenbeck : Kairos

Kairos
Kairos Originalausgabe Penguin Verlag, München 2021 ISBN 978-3-328-60085-5, 382 Seiten ISBN 978-3-641-23871-1 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Als sich die Wege von Katharina und Hans 1986 in Ostberlin kreuzen, ist sie 19, er 34 Jahre älter, verheiratet und Vater eines 14-jährigen Sohns. Als Katharina einmal mit einem jungen Mann schläft, kippt die Liebesbeziehung mit Hans endgültig ins Toxische, denn der Schriftsteller, der es selbst mit der Treue nicht zu ernst nimmt, manipuliert Katharina nun mit Schuldzuweisungen.
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Kritik

Vor dem Hintergrund der zusammen­brechenden DDR – oder besser: parallel dazu – erzählt Jenny Erpenbeck in "Kairos" von einer Amour fou im Kultur- bzw. Intellektuellenmilieu. Der Roman dreht sich um Obsession und Täuschung, Macht und Manipulation. Die 1986 bis 1991 spielende Haupthandlung wird in der Rückschau erzählt und ist in eine Rahmenhandlung eingebettet.
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Amour fou

Katharina ist 19 Jahre alt und wohnt in Ostberlin bei ihrer Mutter Dr. Erika Ambach und ihrem Stiefvater Ralph. Ihr leiblicher Vater hat seit fünf Jahren eine Professur für Kulturgeschichte in Leipzig. Sie absolviert eine Ausbildung zur Setzerin und möchte später Gebrauchsgrafik in Halle studieren.

Hans ist Schriftsteller und freier Mitarbeiter des Rundfunks in Ostberlin. Seit 26 Jahren ist er mit der Wissenschaftlerin Ingrid verheiratet, aber seit sie 1971 mit dem inzwischen 14 Jahre alten Sohn Ludwig schwanger war, führen die beiden eine Josefsehe. Nebenbei hat Hans ein Verhältnis mit einer Kollegin beim Rundfunk.

Als sich Katharina und Hans zufällig am 11. Juli 1986 in Ostberlin begegnen, funkt es zwischen ihnen, und noch am selben Abend gehen sie miteinander ins Bett. Hans ist 34 Jahre älter als Katharina und zehn Jahre älter als deren Vater. Sie halten ihre Liebe für etwas Besonderes, aber Hans stellt von Anfang an klar, dass er seine Familie nicht verlassen werde.

Einmal lässt Katharina sich von ihm ans Bett fesseln, und nachdem sie lange auf seine Rückkehr gewartet hat, schlägt er sie mit seinem Hosengürtel.

Als Ingrid von der neuen Beziehung ihres Mannes erfährt, wirft sie ihn hinaus – aber nach einer Weile versöhnt sich das Ehepaar wieder.

Komplikation

Nachdem Katharina ihre Facharbeiterinnen-Ausbildung abgeschlossen hat, kündigt sie zum 7. Juli 1987. In Frankfurt an der Oder, wo sie ein Praktikum am Theater anfängt, bezieht sie ihre erste eigene Wohnung. Doch sie fährt häufig zu Hans nach Berlin, und er besucht sie bei jeder Gelegenheit in Frankfurt an der Oder.

Zwei Monate nach Katharinas Umzug trifft er wieder mit dem Zug aus Berlin ein, erklärt ihr jedoch nur kurz auf dem Bahnsteig, dass die Beziehung beendet sei und fährt wenige Minuten später mit demselben Zug nach Berlin zurück.

In ihrer Verzweiflung sucht Katharina Zuflucht bei einem Kollegen am Theater und übernachtet bei Vadim, ohne intim mit ihm zu werden.

Als sie am 21. September ihre Wohnungsschlüssel in Berlin vergisst, übernachtet sie ein zweites Mal bei Vadim, wieder ohne Intimitäten. Nach einiger Zeit darf Vadim ihre Brüste küssen. Mit einem Kuss von Mund zu Mund muss er noch bis zur Nacht vom 19./20. Januar 1988 warten, aber dann folgt auch gleich der Koitus.

Brausepulveremotionen?

Nach dem „Fehltritt“ verlangt Hans von Katharina, dass sie Vadim einen Brief schreibt, den er ihr diktiert.

Schreib: „So, wie es dir nur ums Ficken gegangen ist, ging es auch mir. […] Es war ganz nett, aber ich bin Bessres gewöhnt.“

Hans schickt Katharina von ihm besprochene Kassetten. Er macht ihr schwere Vorwürfe.

Der Teufel soll dich holen dafür, dass du unser Wunder in den Dreck geschmissen hast.
„Uns“ gibt es nicht mehr. Das „wir“ ist auf der Strecke geblieben. […]
Die Bewährungsprobe hast du nicht bestanden. […] Um mit dir zusammenzubleiben, muss ich dir gegenüber also gleichgültig werden. Muss aus einer großen Sache etwas machen, das Mittelmaß hat.

Deinerseits waren das alles nur Brausepulveremotionen: das in Frankfurt, und leider auch das mit mir.

Einmal behauptet Hans, er habe sich mit Vadim getroffen und dabei erfahren, dass es nicht bei einem Ausrutscher geblieben sei. Verzweifelt beteuert Katharina, dass sie nur ein einziges Mal mit Vadim geschlafen habe. Endlich erklärt Hans, er habe das Treffen mit Vadim erfunden, um ihre Aussage zu prüfen.

Katharina bricht ihr Praktikum in Frankfurt an der Oder ab, kehrt nach Ostberlin zurück und fängt als Telefonistin bei der Oper an.

Hans bringt ihr wiederholt erotische Bilder und reist für eine Woche mit ihr nach Moskau. Als er hört, dass sie eine neue Freundin hat, erregt ihn das („statt einer zwei feuchte Öffnungen, die ihm entgegengestreckt werden“). Im Januar 1991 beendet Rosa die Affäre mit Katharina, die seit Herbst 1990 an der Kunsthochschule in Halle studiert.

Hans wird im Dezember 1991 beim Rundfunk entlassen. Gleichzeitig wechselt Ingrid in eine „Auffanggesellschaft“, und die Wohnungsmiete steigt von 130 Mark auf 900 D-Mark.

Katharina erleidet eine Fehlgeburt.

Epilog

Katharina hält sich in Pittsburgh auf, als sie durch einen Anruf Ludwigs erfährt, dass Hans gestorben ist. Erst sechs Wochen später kehrt sie nach Berlin zurück.

Noch einmal ein halbes Jahr später werden bei ihrem Ehemann zwei Kartons abgegeben. Sie enthalten Briefe, Aufzeichnungen und andere Dokumente über die Beziehung von Hans und Katharina in den Jahren 1986 bis 1991. Katharina wühlt sich durch den Inhalt der beiden Kartons und vergleicht ihn mit dem von ihr selbst aufbewahrten Material über die Liebesbeziehung.

Aus von ihr gesichteten Stasi-Akten weiß sie, dass Hans zu einem Zeitpunkt, als sie noch gar nicht geboren war, eine Verpflichtungserklärung unterschrieben hatte. Sein Deckname als IM war Galilei. Am 13. Mai 1988 beendete die Stasi seine Informanten-Tätigkeit.

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Vor dem Hintergrund der zusammenbrechenden DDR – oder besser: parallel dazu – erzählt Jenny Erpenbeck in ihrem Roman „Kairos“ von einer Amour fou im Kultur- bzw. Intellektuellenmilieu. Die Haupthandlung beginnt 1986 und endet 1991. Als sich die Wege von Katharina und Hans 1986 in Ostberlin kreuzen, ist sie 19, er 34 Jahre älter, verheiratet und Vater eines 14-jährigen Sohns.

Wenn der Schriftsteller Hans, der seit der Geburt des Sohnes nicht mehr mit seiner Ehefrau schläft, aber die Familie nicht verlassen will, die junge Frau aufs Bett fesselt und mit dem Hosengürtel schlägt, offenbart er sadistische Züge. Nachdem Katharina einmal mit einem anderen Mann kopuliert hat, tut der notorische Ehebrecher Hans so, als habe sie eine außergewöhnliche Liebesbeziehung zerstört – und manipuliert sie mit penetranten Vorwürfen: das Verhältnis erweist sich als toxisch. Hans verlangt von Katharina, ihm alles offenzulegen. Mit diesem Machtspiel spiegelt Jenny Erpenbeck das Stasi-Regime, das versucht, die Menschen bis in die letzte Intimität auszuforschen und zu überwachen.

Der Roman „Kairos“ dreht sich um Obsession und Täuschung, Macht und Manipulation.

Jenny Erpenbeck entwickelt die Geschichte vorwiegend aus Katharinas Perspektive, schlüpft zwischendurch aber auch in Hans‘ Kopf. Erzählt wird im Nachhinein, also in der Rückschau. Dazu dient die Rahmenhandlung, in der Katharina – inzwischen eine verheiratete Frau ‒ nach Hans‘ Tod zwei Kartons mit Briefen, Aufzeichnungen und anderen Dokumenten über ihre Beziehung mit Hans sichtet und sich an die Ereignisse der Jahre 1986 bis 1991 erinnert.

Gegliedert ist „Kairos“ in zwei große Teile: „Karton 1“ und „Karton 2“. Dazwischen steht ein weniger als eine Seite langes „Intermezzo“, in dem Jenny Erpenbeck die Lesenden an die im Prolog begonnene (und im Epilog abgeschlossene) Rahmenhandlung erinnert.

Der Titel „Kairos“ bezieht sich auf den jüngsten Sohn des griechischen Gottes Zeus, der für den günstigen Zeitpunkt einer Handlung bzw. Entscheidung steht.

Den Roman „Kairos“ von Jenny Erpenbeck gibt es auch als Hörbuch, gelesen von der Autorin.

Jenny Erpenbeck wurde am 12. März 1967 in Ost-Berlin als Tochter der Übersetzerin Doris Kilias und des Physikers und Philosophen John Erpenbeck geboren. Die Autorin Hedda Zinner und der Autor Fritz Erpenbeck waren ihre Großeltern väterlichereits. Nach dem Abitur (1985) absolvierte Jenny Erpenbeck eine Ausbildung zur Buchbinderin. Dann machte sie Praktika am Kleist-Theater in Frankfurt an der Oder und an der Staatsoper Berlin, bevor sie 1988 Theaterwissenschaft an der Humboldt-Universität zu studieren begann. 1990 wechselte Jenny Erpenbeck zur Hochschule für Musik „Hanns Eisler“. Nach dem Abschluss des Studiums der Musiktheater-Regie arbeitete sie als Regisseurin, und 1999 debütierte Jenny Erpenbeck mit der Novelle „Geschichte vom alten Kind“ als Schriftstellerin.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2024
Textauszüge: © Penguin Verlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.