Markus Werner : Am Hang

Am Hang
Am Hang Originalausgabe: S. Fischer Verlag, Frankfurt/M 2004 Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M 2006 ISBN 3-596-16467-2, 190 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Zwei Männer kommen ins Gespräch. Der lebensmüde Loos erzählt von seiner Ehe. Und der Junggeselle Clarin brüstet sich mit einer seiner Eroberungen. Bald begreift Loos, dass sie über dieselbe Frau sprechen. Soll er den Rivalen vor seinem Suizid umbringen? ...
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Kritik

Markus Werner hat den Roman "Am Hang" größtenteils in Dialogen geschrieben. Nach und nach werden Details sichtbar, die die Verknüpfung der Lebensgeschichte der beiden Männer (und einer Frau) deutlich werden lässt.
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Über Pfingsten will der auf Scheidungsrecht spezialisierte Anwalt Thomas Clarin in seinem Chalet im Tessin einen Beitrag für die Juristen-Zeitung ausarbeiten. Am Abend seiner Ankunft geht er im nahegelegenen Hotel Bellevue zum Essen. Weil sonst kein Platz mehr frei ist, fragt er einen Herrn, der allein an einem Tisch sitzt, ob er sich dazusetzen darf. Das kurze abwesende Nicken fasst Clarin als Zustimmung auf und stellt sich sogleich vor, aber der Angesprochene beachtet ihn immer noch nicht. Erst nach einer Weile nennt ihm dieser seinen Namen: er heiße Loos. Clarin schätzt das Alter des korpulenten Manns auf um die fünfzig. Während der Mahlzeit fällt ihm ein, dass er vor längerer Zeit hier mit seiner Freundin Valerie ebenfalls beim Abendessen saß.

[…] Valerie noch munter, ich eher würgend und wortarm, da innerlich damit beschäftigt, mir schonende Sätze zurechtzulegen, ich wollte mich trennen von ihr. (Seite 8)

Der kontaktfreudige Clarin kommt mit Loos doch noch ins Gespräch; es entwickelt sich sogar eine höchst angeregte Unterhaltung. Sie kommen im Sinn des Wortes auf Gott und die Welt zu sprechen, wobei der etwa dreißigjährige Anwalt den Eindruck bekommt, dass sein Gegenüber von der Oberflächlichkeit der meisten Menschen enttäuscht ist und dessen Weltanschauung insgesamt negativ ausfällt. „Es hat sich totgelaufen“, ist die Wendung, die er am häufigsten gebraucht. Clarin hält Loos vor, dass dieser die Welt hasse. Das kann Loos nur bestätigen: „Von ganzem Herzen.“ Loos kommt darauf zu sprechen, dass seine über alles geliebte Frau Bettina, mit der er zwölf Jahre verheiratet war, vor einem Jahr starb. Über die weiteren Umstände könne er im Augenblick nicht sprechen.

Er möchte aber gerne von Clarin wissen, von dem er inzwischen erfahren hat, dass er bekennender Junggeselle ist, wie dieser zu der Institution Ehe stehe. Als Scheidungsanwalt hat Clarin naturgemäß Einblick in viel „Ehe-Elend“ und er bevorzugt daher eine lockere, unbekümmertere Beziehung, die ohne größere Tragödien aufgelöst werden könne. Zum Beispiel, erwähnt Clarin, sei er hier auf dieser Terrasse mit einer Freundin zum letzten Mal zusammen gewesen; sie habe „die Sache auch bald verschmerzt“ und „auch für sie sei keine Welt eingestürzt“ (Seite 20).

Sie trinken noch viel an diesem Abend und Loos gibt mehr über seine Verzweiflung wegen des Todes seiner Frau preis. So denke er zwar manchmal daran, dass er niemandem abgehen würde, wenn es ihn nicht mehr gäbe, aber es erschiene ihm unverantwortlich, sich davonzustehlen und die Tote sozusagen allein zu lassen.

Wer liebt sie, wenn ich nicht mehr bin, wer erinnert sich ihrer dann noch, wer ehrt und schützt ihr Andenken in einer gedächtnislosen Zeit? […] Nur wenn ich lebe, ist sie aufgehoben. (Seite 37)

Clarin kann nicht wissen, dass er mit seinem Vorschlag, zum Nachtisch Himbeeren zu bestellen, eine weitere Gefühlswallung bei Loos hervorruft. Bettina war nämlich vor einem Jahr im Kurhotel in Cademario, auf das man von hier hinübersehen kann. Sie hatte dort auf der Speisekarte ihr Lieblingsdessert Himbeeren entdeckt – und das war dann ihre Henkersmahlzeit, wie Loos sich ausdrückt. Nun erzählt er, dass seine Frau nach einer Tumoroperation eigentlich bereits auf dem besten Weg der Genesung gewesen war. Aber dann geschah etwas Unvorhergesehenes.

[…] Sie glauben nicht, wie ich sie manchmal dafür hasse, dass sie mir einfach erlosch, nach zwölf Jahren Ehe, Liebesjahren alles in allem, löst sie sich auf, stiehlt sich davon, macht mich zum Hinterbliebenen auf diesem grausigen Planeten […] (Seite 38)

Als ob es für Loos ein Trost sein könnte, sagt Clarin, dass die erwähnte Freundin, mit der er hier gegessen hatte, auch Gast in Cademario gewesen sei.

Es ist nun schon spät, und Clarin muss noch in sein Ferienhaus. Er hat zuviel getrunken, um Autofahren zu können. Auf dem Heimweg zu Fuß begleitet ihn Loos und sie kommen noch einmal auf Cademario zu sprechen und dass es nicht unwahrscheinlich sei, dass Clarins Freundin und Loos‘ Frau, die nur fünf Tage Gast war, sich zur gleichen Zeit dort aufhielten. Bis 11. Juni war Bettina dort; übermorgen, am Pfingstsonntag jährt sich das Unglück, klärt Loos seinen Begleiter auf.

Kurz bevor die zwei Männer das Haus erreichen, werden sie von einem Platzregen durchnässt. Clarin bittet Loos ins Haus zu einem Schlummertrunk vor dem Kamin. Loos möchte jetzt lieber heim; aber sie verabreden sich für den nächsten Tag.

Obwohl es schon fast ein Uhr ist, findet Clarin keinen Schlaf. Zu sehr ist er damit beschäftigt, über das Erlebte nachzudenken und das „diffuse Bild“, das er von Loos hat, zu klären.

Am nächsten Vormittag überlegt Clarin, ob er das gemeinsame Essen absagen soll. Es war dies der Abend vor dem Todestag von Loos‘ Frau, und den wollte dieser vielleicht unbehelligt verbringen. Aus nicht erklärbaren Gründen ist Clarin jedoch von Loos‘ widersprüchlichem Charakter fasziniert.

Loos zog mich an. Genauer, unverdächtiger: Ich suchte widerstrebend seinen Bannkreis und nenne dieses Phänomen magnetisch, ja meinetwegen magisch. (Seite 55)

An diesem Abend lässt Loos nicht locker; er möchte mehr über das Junggesellenleben seines jüngeren Bekannten erfahren.

Als sie das Kaninchenfilet bestellen, erzählt Clarin, dass er diese Spezialität des Hauses auch seinerzeit gewählt hatte, als er zum Abschiedsessen mit Valerie hier war. Wie er schon andeutete, hatte seine Freundin ebenfalls im Kurhotel Cademario logiert; Nervenprobleme, vegetative Labilität erforderten eine Therapie.

Clarin und Valerie waren sich auf einem Kinderspielplatz begegnet und kamen deshalb miteinander in Kontakt, weil sich beide über das seltsame Verhalten eines Mannes dort amüsierten. Valerie sei zwar nicht der von ihm bevorzugte Typ gewesen; sie war schwarzhaarig und nicht ganz schlank, während er eigentlich blonde und sportliche Frauen bevorzuge, aber einen Vorzug hatte sie: Sie kam seinem Geschmack in der Hinsicht entgegen als ihn reifere Frauen anzogen. Er schätzte sie so gegen die vierzig, ein Alter, in dem die Frauen nach seiner Erfahrung „die optimale Genussreife“ haben. Sie war anfangs still und zurückhaltend und gab auch später wenig von sich bekannt. Sie kam ihm vor, als hätte sie kein Vorleben, und das machte die Affäre besonders reizvoll für ihn. Nachdem sie ihn eine Weile hingehalten hatte, entwickelte sich eine, wie es schien, unbeschwerte Liebesbeziehung. Von ihrem Mann erzählte sie nichts, auch nichts Negatives; Clarin erfuhr nur, dass er Felix hieß und Musiklehrer war. Er hatte den Eindruck, dass Valerie ihre Ehe als emotionalen Hort und ihren Mann als Ruhepol empfand. Nach ein paar Monaten hatte sie auf einmal immer mehr Zeit für Clarin und er fragte sie, wie sie das zu Hause erkläre. Sie wehrte ihn schroff ab: das soll er ihre Sorge sein lassen. Clarin fand dann heraus, dass sie zu ihrer Schwester gezogen war und er folgerte daraus, dass sie seinetwegen ihren Mann verlassen hatte. Als er sie daraufhin ansprach, wiegelte sie ab, es wäre nur eine Trennung auf Zeit; und der Frage, die sie früher schon nicht beantwortet hatte, ob ihr Mann von ihrer Affäre wisse, wich sie wieder aus. Aus der Sicht Clarins war die Beziehung seitdem getrübt, da er sich in die Enge getrieben fühlte und sich vor der engen Bindung fürchtete. Sie sprach zwar nicht explizit von Liebe, ließ aber dennoch erkennen, dass sie ihren Geliebten nicht verlieren wollte. „Ungefähr zur Halbzeit“ – die „lose Bindung“ hatte knapp ein Vierteljahr gedauert –, begann Clarin sich rarer zu machen. Wenn sie miteinander schliefen, fand er das aber nach wie vor schön.

Das hatte wohl damit zu tun, dass ihr Körper das Einzige war, woran ich mich halten konnte, da sie ihr Wesen ja zum Teil verbarg. Ihr Körper war fassbar, alles andere kaum, und ihre Neigung, sich zum Geheimnis und also interessant zu machen, ging mir allmählich nur noch auf den Wecker. (Seite 144)

Clarin machte sich zum Vorwurf, zu lange gewartet zu haben, um ihr reinen Wein einzuschenken und eine Trennung vorzuschlagen. Sein Zögern rechtfertigte er damit, dass er Rücksicht auf ihre schlechte nervliche Verfassung nehmen wollte, die ohnehin nie die beste war, im dritten Monat ihres Zusammenseins aber Besorgnis erregend schlechter wurde. Weinkrämpfe und Schlaflosigkeit quälten sie, deren Ursache sie auf Probleme mit ihrer aufreibenden Arbeit als Betreuerin in einem Behindertenheim zurückführte. Clarin legte ihr ans Herz, einen Psychiater aufzusuchen, was sie nach langem Sträuben dann tat. So kam sie ins Kurhaus Cademario. Sie telefonierten von Zeit zu Zeit miteinander, und Valerie gab vor, Thomas nicht zu vermissen; ja, es gehe ihr täglich besser. Das bestärkte Clarin in seinem Vorhaben, ihr die Trennung vorzuschlagen. Er hielt es für günstiger, damit nicht bis zu ihrer Rückkehr zu warten, vielmehr wollte er sein Anliegen während eines Besuches bei ihr im Sanatorium vorbringen. Bei seiner Ankunft sah er Valerie mit einer Kurhaus-Angestellten auf der Terrasse Kaffee trinken. Das sei Eva, ihre Atemtherapeutin, stellte Valerie ihm die attraktive Frau vor. Sie war genau Clarins Typ: „sportlich, spritzig, sexy“. Wie schnell Eva unzweideutig auf seine bewundernen Blicke reagierte, verblüffte ihn. Während sich Valerie für den Abend zurechtmachte, schob Eva, die wissen musste, dass Clarin mit ihrer Patientin liiert war, ihm ihre Visitenkarte zu mit der Zusage für ein Treffen am nächsten Tag. So ist es eben: „Die weibliche Natur weiß nichts von schwesterlicher Rücksicht.“ (Seite 147)

Valerie schien fröhlich und gut erholt. Sie hatte einen Verband um den Ringfinger, den sie sich, wie sie erzählte, schon in der ersten Woche gebrochen hatte, als sie bei einem Waldspaziergang über eine Wurzel gestolpert war. Zum Abendessen fuhren sie ins Bellevue hinunter. Sie aß mit Appetit und erzählte lebhaft von ihrem Aufenthalt in Cademario und dass sie sich mit Eva ein wenig angefreundet habe. Clarin war weniger guter Stimmung. Er brachte es auch nicht fertig, mit Valerie über seine Trennungsabsicht zu sprechen. So fuhren sie nach dem Essen zurück ins Kurhotel, wo Valerie auf ihrem Zimmer eine Flasche Rotwein bereitgestellt hatte. Sie bot Thomas an, sich noch ein bisschen zu ihr „in den Kleidern“ hinzulegen, aber an seiner starren Haltung erkannte sie wohl seine Absicht.

Ich werde es verkraften, sagte sie. Ich fragte: Was denn? – Das, was du mir eröffnen möchtest, sagte sie. – Dann hörte sie mir zu, gefasst, nur manchmal zitterte ihr Kinn. Sie nickte, als ich fertig war, als sei sie einverstanden. Sie fragte nichts. Mit leiser, fast unhörbarer Stimmte sagte sie: Ich fühle mich armselig. – Nach einer Weile stand sie auf und öffnete die Tür. – Flieg! sagte sie. (Seite 150)

Seitdem haben sie sich nicht mehr gesehen. Da sie sich konsequent zurückgezogen hatte, war Clarin davon ausgegangen, dass sie die Trennung rasch überwunden hatte.

An diesem zweiten Abend bietet Loos seinem Gesprächspartner das Du an; er heiße auch Thomas. Im Laufe der Unterhaltung flicht er ein, dass er Altphilologe sei und sich mit einem überalterten Lehrerkollegium herumärgern müsse.

Es scheint ihm aber ein Bedürfnis zu sein, mehr von seiner Frau zu erzählen. Bei jedem Satz klingt durch, wie sehr Loos sie geschätzt, geliebt, ja nahezu vergöttert hat. Sie arbeitete als Sachbearbeiterin in einer Schmuckmanufaktur. Er schätzte ihre Empfindsamkeit und ihre Kultiviertheit. Unter anderem gefiel ihr besonders das Gedicht „Stufen“ von Hermann Hesse. Ihre Konstitution im Allgemeinen war feinnervig. In ihren ersten Ehejahren waren sie zweimal umgezogen, weil sie sich durch Wasseradern beeinträchtigt gefühlt hatte. Clarin dürfe jetzt nicht glauben, sie sei wehleidig gewesen; das Gegenteil sei der Fall gewesen, was sie bei ihrer schweren Krankheit zur Genüge bewiesen habe. Die ersten Symptome waren Kopfschmerzen und Übelkeit. Er hatte noch geglaubt – und gehofft – sie sei schwanger, was aber nicht zutraf. Sehstörungen und Taubheitsgefühle im Körper kamen zu dem allgemeinen schlechten Gesundheitszustand hinzu. Die ärztliche Diagnose war dann niederschmetternd: eine Geschwulst im Hirn. Der Tumor konnte ohne Komplikationen entfernt werden; auch nach der Operation gab es keine Probleme. Die Heilung verlief so, wie es man es erwartete. Allerdings wurde ein Erholungsurlaub dringend empfohlen. Sie suchten sich das Cademario aus, wo sie ein Doppelzimmer buchten, weil er bei ihr sein wollte. Bedauerlicherweise sei zu der Zeit Loos‘ nächtliches Zähneknirschen besonders heftig aufgetreten. Um Bettina nicht damit zu belästigen, wollte er ein Einzelzimmer; im Kurhaus war aber keines frei, sodass er sich im benachbarten Hotel Bellevue einquartierte. Von seinem Zimmer aus konnte er auf das Fenster hinübersehen, wo seine Frau wohnte. Jeden Morgen winkten sie sich gegenseitig zu. Wenn Bettina vom Schwimmen aus dem Hallenbad zurück war, frühstückten sie miteinander. Als Loos am 11. Juni wie jeden Tag in der Frühe wartete bis sie herüberschaute, ließ sie sich nicht blicken. Nach einer Stunde fuhr er besorgt zum Cademario, wo man ihm sagte, dass seine Frau im Hallenbad verunglückt sei. Vermutlich sei sie ausgerutscht, gestürzt und mit dem Hinterkopf aufgeschlagen. Die Bewusstlose sei jetzt auf der Intensivstation in der Klinik in Lugano. Als Loos dort hinkam, konnte er sie noch bei der Hand halten, dann schloss sie die Augen. „Mit dem Erkalten ihrer Hand erkaltete auch ich.“ (Seite 159)

Es ist auch an diesem Abend sehr spät geworden und die beiden Herren haben wiederum viel getrunken. Auch diesmal geht Loos mit Clarin zu seinem Haus, wo er ihm den tragischen Schluss seiner Geschichte erzählt. Offensichtlich ist er emotional immer noch sehr bewegt und spricht seinen neuen Freund plötzlich wieder mit „Sie“ an. Dass Loos ihm eine Grobheit an den Kopf wirft, entschuldigt Clarin mit dessen aufgewühlten Zustand. Beim Verabschieden schlägt Clarin vor, dass sie sich am nächsten Vormittag noch einmal treffen könnten. Loos nimmt gar nicht wahr, dass Clarin ihm die Hand hinhält. „Du hast mir sehr geholfen“, bemerkt er noch. Er freue sich, sagt Clarin, wenn ihn das Reden erleichtert habe. Und dann geht Loos auf Clarin zu und sagt „mit gepresster Stimme“ und nahe an seinem Ohr:

Leg dich ins Bett mit deiner Fehldeutung, und vergiss nicht, die Tür zu verriegeln. (Seite 161)

Grußlos verschwindet Loos in der Dunkelheit.

Clarin grübelt noch lange im Bett, was Loos mit seiner letzten Bemerkung gemeint haben könnte. Sollte Loos Schuldgefühle am Tod seiner Frau haben? Er muss ja nicht ihr Mörder sein, aber er könnte ihren Tod möglicherweise indirekt verursacht haben. Zum Beispiel: Er hat auf der Straße nach Cademario die Herrschaft über sein Auto verloren mit der Todesfolge für seine Frau. Oder sie hat sich sich über das Balkongeländer gebeugt und als er sie ruft, ist sie in die Tiefe gestürzt. Clarin sollte also die Tür verriegeln, weil Loos damit sagen will „schütz dich vor mir, ich bin ein Verbrecher“! Erklären kann sich Clarin aber nicht, warum und wofür Loos ihm gedankt hat. Das will er ihn noch fragen.

Am nächsten Vormittag ist Loos zum vereinbarten Termin um elf Uhr nicht da. Bis ein Uhr hat Clarin ihn immer noch nicht im Hotel gefunden. Möglicherweise liegt eine Nachricht an der Rezeption. Dort ist nichts für ihn hinterlegt, und überdies sei kein Thomas Loos im Gästebuch eingetragen. Clarin beschreibt das Zimmer, in dem Loos wohnte. Aus Datenschutzgründen dürfe der Name des Gastes nicht bekannt gegeben werden, heißt es, und außerdem sei der Herr, der in diesem Zimmer logierte, am frühen Morgen abgereist.

Clarins Enttäuschung ist groß. An den zwei Abenden hatten sie intensiv miteinander geredet, waren sich von Stunde zu Stunde persönlich näher gekommen und fast Freunde geworden – und nun ließ ihn Loos einfach sitzen. Zur Entschuldigung fällt ihm ein, dass Loos am Morgen einfach allein sein wollte, um ungestört an seine tote Frau denken zu können. Vielleicht schämte er sich auch, einem fremden Menschen gegenüber seine intimsten Gefühle aufgedeckt zu haben. Aber warum hatte Loos sich unter falschem Namen im Hotel einquartiert? Das will Clarin herausfinden. Er könnte im Cademario fragen, wie Loos‘ Frau Bettina mit Nachnamen hieß.

Valeries Atemtherapeutin und Vertraute, mit der er damals nach dem Flirt einmal im Bett war, könne ihm dabei helfen, hofft er. Die Begegnung mit Eva ist ernüchternd kühl, und ihre Begrüßung verwirrt ihn. Sie fragt ihn: „Kommst du wegen ihr oder wegen mir?“ Er käme zu spät, sie sei vor einer Stunde abgereist, klärt sie ihn auf. Er kann nicht glauben, dass sie von Valerie spricht. Eva unterstellt ihm, gewusst zu haben, dass Valerie Pfingsten hier verbrachte. Sie glaubt auch nicht, dass Valerie ein Wiedersehen gewünscht hätte. Im Übrigen seien sie Freundinnen geworden; obwohl Valerie weit weg gezogen sei, komme sie immer wieder mal zu Besuch.

Eva erzählte ihr nichts von ihrem Schäferstündchen mit Clarin, aber an dem Abend, nachdem Clarin Valerie verlassen hatte, kümmerte sie sich um sie. Ob er tatsächlich nie mehr etwas von Valerie gehört habe? Dann wisse er wahrscheinlich auch nicht, dass Valerie nun allein lebe; die Trennung habe sie nie verschmerzt. Warum Eva versuche, ihm jetzt Schuldgefühle einzureden, will er wissen. Das sei wohl ein Missverständnis, sie spreche nicht von Valeries Trennung von ihm, vielmehr habe sie die Trennung von ihrem Mann nie verwunden. Viel hätte ihr Valerie nicht anvertraut, aber sie gab zu verstehen, wie sie ihren Seitensprung einschätzte, nämlich dass sie …

[…] diesen Vorgang besinnungslos genossen habe, wobei ihr sehr bald klar geworden sei, dass sie sich ihrem Mann in diesem Zustand nicht habe zumuten dürfen. Sie habe ihn darum verlassen, wenn auch nicht im Gefühl der Endgültigkeit, und ihre Schuldgefühle unterdrückt.(Seite 177)

Eva habe nie verstanden, warum Valerie nicht mehr zu ihrem Mann zurückging. Sie habe immer in den wärmsten Tönen von ihm gesprochen. „Untrügliche Zeichen“ hätten dafür gesprochen, „dass Valerie habe zurückgehen wollen, diesen Wunsch aber unterdrückt habe“ (Seite 179). So wie Valerie ihn, Felix Bendel, geschildert habe, hätte er sie, seine untreue Frau, mit einem Rosenstrauß willkommen geheißen.

Ob Eva Felix Bendel kennen gelernt habe? Nur zufällig gesehen habe sie ihn, damals nach seinem Kurzbesuch bei Valerie gegen Ende der ersten Aufenthaltswoche. Es war Felix‘ verzweifelter letzter Versuch, sie zurückzugewinnen. Sie wies ihn endgültig zurück, und es muss für sie beide entsetzlich gewesen sein, wie Valerie Eva andeutungsweise erzählte. Da begriff Eva, dass der Mann, der verstört im Flur umhergeirrt war und sie nach dem Ausgang gefragt hatte, Bendel gewesen sein musste.

Endlich kommt Clarin zum eigentlichen Zweck seines Besuches. Er stellt seine Frage nach Bettina Loos. Eva könne sich vielleicht erinnern, dass sich zu der Zeit als Valerie hier war, im Kurhaushallenbad ein Unfall ereignete. Eine Frau um die vierzig soll am Beckenrand ausgerutscht und im Krankenhaus in Lugano an ihrer Hinterkopfverletzung gestorben sein. Eva weiß davon nichts, erkundigt sich aber in der Verwaltung. Es sei weder eine Bettina Loos hier gewesen, noch sei eine andere Frau tödlich verunglückt, findet sie heraus. Einen kleinen, unbedeutenden Unfall gab es allerdings seinerzeit. Clarin habe sicher nicht vergessen, dass Valerie den Ringfinger eingebunden hatte. Sie war nicht im Wald über eine Wurzel gestolpert, sondern am Beckenrand ausgerutscht.

Clarin erzählt Eva von seinen Gesprächen mit Thomas Loos, und dass dieser ihn mit seinem Namen angeschwindelt und ihn am Vormittag versetzt habe. Sie könne sicher verstehen, dass ihn die Sache umtreibe und er zur Klärung hierher gefahren sei. Eva möchte noch wissen, mit welchen Details Loos seine Frau Bettina beschrieben habe. Ja also, zum Beispiel: blondes Haar, aß gerne Himbeeren, rauchte nicht, tanzte nicht gern, liebte ein bestimmtes Gedicht von Hesse. Eva holt sich eine Strickjacke, fragt ihn dann noch, ob er wisse, was Felix beruflich mache. Valerie habe ihm gesagt, dass er Musiker sei und Cellounterricht erteile. Stimme das denn nicht?

Jedenfalls spielt er Cello, antwortete sie. – Du tust ja richtig sibyllinisch, sagte ich. – Thomas, ich muss jetzt gehen, ich glaube, ich kann dir nicht helfen, ich bin nur Atemtherapeutin, Blinde kann ich nicht heilen. (Seite 186)

Dann holt sie aus ihrer Jackentasche ein Notizblatt heraus und gibt es ihm. Später faltet er es ausauseinander und erkennt Valeries Handschrift: Es sind zwei Zeilen aus Hesses Gedicht „Stufen“.

Clarin rekapituliert: Gleich zu Anfang hatte er, Clarin, sich vorgestellt. Loos alias Bendel kannte seinen Namen wahrscheinlich von Valerie. Als Clarin Valeries Namen nannte und erwähnte, dass diese wahrscheinlich zur gleichen Zeit wie Bettina im Kurhaus gewesen war, hatte Loos merken können, wen er vor sich hatte. Aber warum dann das Getue mit dem falschen Namen und sein sonstiges teilweise eigenartiges Verhalten? Wozu sollte sich Bendel mit ihm angefreundet und die Tumorgeschichte für ihn erfunden haben; was brachte ihn dazu, Valerie sterben lassen, nur um ihn irrezuführen?

Loos mochte ein bisschen verrückt sein mitunter, aber geisteskrank war er nicht. (Seite 189)

Unruhig setzt sich Clarin zu Hause vor den Kamin.

Ich starrte ins Feuer und sah darin, wie Loos ins Feuer starrte. Und erstmals wurde mir bewusst: Wenn Bendel hier gesessen hätte, dann wäre mir sein Hass gewiss, dann hätte ich jetzt einen Todfeind. (Seite 189)

Es klopft an der Tür. Kommt Loos? Niemand ist da. Clarin tippt in seinen Laptop: „Alles dreht sich. Und alles dreht sich um ihn.“ Er kann nicht mehr in die Tasten hacken. Mit einem alten Füllfederhalter zieht er Tinte auf und schreibt.

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Der Name des Hotels Bellevue ist Programm: Es geht um die schönfärberischen Sichtweisen zweier Männer.

Die Handlung des Romans „Am Hang“ erstreckt sich über drei Tage. Im Verlauf von zwei Abenden erzählen sich zwei Männer, deren Charaktere unterschiedlicher kaum sein könnten, aus ihrem Leben. Dabei prallen zwei Lebensanschauungen aufeinander. Der überzeugte Junggeselle Clarin, der nicht an die Liebe glaubt und Frauen nur als Sexualobjekte wahrnimmt, repräsentiert eine beziehungsarme und verantwortungslose Generation, die von der Jagd nach dem Erfolg getrieben wird. Lange ahnt Carlin nicht, wer sein Gegenüber ist, denn er geht davon aus, dass seine Affären folgenlos bleiben. Der Misanthrop Loos verabscheut den Zeitgeist und bejammert die Dekadenz der Gesellschaft. Dass er seine Frau mit seiner Liebe und Fürsorglichkeit erdrückt, erkennt er allerdings nicht, und als die Ehe durch Bettinas Neubesinnung nach ihrer Tumoroperation zerbricht, will er die Realität nicht wahrhaben.

Die Handlung basiert auf einer Zufallsbegegnung und wirkt deshalb konstruiert. Ausgeglichen wird diese Schwäche durch Markus Werners Kunststück, die Geschichte größtenteils in Dialogen zu erzählen. Nach und nach werden Details sichtbar, die die Verknüpfung der Lebensgeschichte der beiden Männer (und einer Frau) deutlich werden lässt. Es entwickelt sich ein Sog, der die Schicksale der Personen immer näher zusammenführt.

Den Roman „Am Hang“ von Markus Werner gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Hanspeter Müller-Drossaart (Regie: Hans Drawe, Berlin 2005, ISBN 3-89813-401-6).

Uta-Maria Heim adaptierte den Roman „Am Hang“ als Hörspiel (2006, Regie: Eberhard Klasse, mit Bruno Ganz, Ingo Hülsmann, Christiane Leuchtmann und Leslie Malton).

Es gibt mehrere Bühnenfassungen von „Am Hang“, so von Rainer Hofmann und Anina La Roche (Premiere am 19. Januar 2006 am Stadttheater Bern), Henner Russius, Brigitta Soraperra und Daniel Rohr (Premiere am 27. Januar 2006 am Theater Stadelhofen in Zürich) und von Annette Frier (Premiere am 8. Februar 2008 am Theater im Bauturm in Köln).

Markus Imboden verfilmte den Roman „Am Hang“ von Markus Werner mit Henry Hübchen, Martina Gedeck, Maximilian Simonischek u.a.: „Am Hang“.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2006 / 2012
Textauszüge: © S. Fischer Verlag

Markus Imboden: Am Hang

Markus Werner: Zündels Abgang
Markus Werner: Festland

Urs Widmer - Im Kongo
Der zum Teil höchst komische Roman "Im Kongo" ist eine Farce auf die Heuchelei der Gesellschaft und auf sinnlos gewordene Rituale des Alltags sowie eine Anklage gegen Rassismus; außerdem eine liebevolle Hommage des Autors an Joseph Conrads "Herz der Finsternis".
Im Kongo