William Trevor : Seitensprung

Seitensprung
Originalausgabe: A Bit on the Side Viking / Penguin, London 2004 Seitensprung Übersetzung: Brigitte Jakobeit Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2005 dtv, München 2007 ISBN 978-3-423-13558-0, 238 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Erzählungen:
In einem Totenhaus – Traditionen – Justinas Priester – Ein Abend zu zweit – Graillis' Erbschaft – Einsamkeit – Heiligenfiguren – Rose weinte – Das große Geld – Auf den Straßen – Die Musik des Tanzlehrers – Seitensprung
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Kritik

Die unter dem Titel "Seitensprung" zusammengefassten Erzählungen handeln vorwiegend von unglücklichen oder gescheiterten Liebesbeziehungen. Die emotionale Befindlichkeit der Protagonisten schildert William Trevor einfühlsam, aber ohne Pathos.
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Ein Abend zu zweit

Jeffrey, der sich großsprecherisch als Fotograf von Stadtlandschaften ausgibt, in Wirklichkeit aber Lebensmittel fotografiert, hat über eine Heiratsvermittlungsagentur ein Treffen mit der einundfünfzigjährigen Evelyn vereinbart, die an einer Sprachenschule arbeitete.

Sie hat eine enttäuschte Liebe hinter sich und pflegte ihre Mutter bis zu deren Tod. Das kleine Vermögen, das diese ihr hinterließ, erlaubt ihr einen gesicherten Lebensstandard. Wie sich bald herausstellt, ist der heruntergekommene vier Jahre Jüngere lediglich daran interessiert, dass seine neue Bekanntschaft die Rechnungen in der Bar und später im Restaurant übernimmt. Sogar die Garderobenfrau lässt er sie bezahlen. Enttäuscht ist er, als er erfährt, dass Evelyn ihr Auto verkaufte. Da er selbst keines besitzt, hätte er gerne darauf zurückgegriffen, um seine Kameras bequemer transportieren zu können.

Der Abend verläuft recht zäh und für beide Teile unbefriedigend. Evelyn durchschaut die hinterhältigen Absichten Jeffreys, und dieser sieht wohl ein, dass er die Frau nicht beeindrucken kann. Es gibt aber auch eine positive Erfahrung:

Dass sie einander benutzt hatten, war von größerer Würde als alles, was ihrer Begegnung hätte folgen sollen. Dieses Gefühl war noch vorhanden, als sie auf zwei verschiedenen Bahnsteigen warteten und ihre Züge ankamen und wieder abfuhren. Und es klang noch nach, als sie durch die flackernde Dunkelheit getragen wurden, so intim wie gemeinsam erlebte Lust. (Seite 85)


Einsamkeit

Villana ist sieben Jahre alt, als sie ihre Mutter mit einem fremden Mann bei einem Schäferstündchen erwischt und deren Kleid zerknittert auf dem Fußboden liegen sieht. Ihr Vater, ein Ägyptologe, war gerade auf einer längeren Geschäftsreise. Villana liebt ihn und wird von ihm verwöhnt.

Eines Abends sind Gäste eingeladen, unter anderem auch der Freund der Mutter. Er zeigt Villana ein paar Tanzschritte, und sie würde ihm am liebsten sagen, dass sie ihn damals mit ihrer Mutter beobachtet habe. Das tut sie dann doch nicht, obwohl sie tiefen Groll gegen ihn hegt. „Ich hasse ihn so sehr, dass ich ihm den Tod wünsche.“ Zu späterer Stunde – der Mann ist ziemlich betrunken – sieht er Villana oben auf der Treppe stehen und kommt ihr Stufe für Stufe näher, bis er ihr gegenübersteht.

Ich strecke den Arm aus und kann ihn berühren. Meine Fingerspitzen liegen auf dem dunklen Ärmelstoff, und darunter spüre ich seinen Arm, und dann ist plötzlich alles anders.
Da ist sein stürzender Körper, das zersplitterte Geländer. Da ist der dumpfe Schlag und dann noch einer und noch einer. Da ist die Stille […] (Seite 111ff)

Zehn Jahre später: Die Eltern sind aus dem alten Haus in London ausgezogen und bereisen ganz Europa. Sie leben seither mit ihrer Tochter in Hotels. Was anfangs nur provisorisch schien, ist nun ein Dauerzustand. Das Mädchen besuchte keine reguläre Schule, aber die Eltern unterrichteten sie umfassend und lehrten sie mehrere Sprachen. An Villanas siebzehnten Geburtstag arrangieren sie ein Picknick für sie, bei dem ihr auffällt, wie sehr ihre Eltern aneinander hängen und ihr Leben zum Wohlergehen ihrer Tochter eingerichtet haben. Villana kommt es vor, als habe ihr Vater akzeptiert, was er von der Untreue seiner Frau erfuhr – und er scheint alles zu wissen. Die Mutter bereut offenbar nichts. Das alles bleibt jedoch unausgesprochen zwischen ihnen.

Villana ist jetzt zweiundfünfzig. Beide Eltern sind inzwischen tot. Erst starb der Vater, ein knappes Jahr später die Mutter. Die alleinstehende Frau lebt vorwiegend in einem Hotel in Bordighera. Sie hat keine Freunde und ist sich ihrer Einsamkeit bewusst. Oft verspürt sie das Bedürfnis, anderen Menschen von der Großmut ihrer Eltern zu erzählen, aber Fremde haben dafür keine Ohren.

Als sie in Bordighera auf der Promenade spazieren geht, wird sie von einem Engländer angesprochen, der vermutet, dass sie aus seinem Land kommt. Villana geht nun öfter mit Mr d’Arbley auf der Promenade spazieren; auch zum Essen treffen sie sich. Mr d’Arbley hört ihr gerne zu und kann sich entsprechend ihrer Beschreibung das alte Haus in London gut vorstellen. Er hat Fantasie, sagt sie sich, und vertraut ihm den Vorfall an der Treppe an, bei dem in einem Augenblick mehrere Leben für immer verändert wurden.

[Ich] weiß nicht, welche Lügen mein Vater erzählte, aber für die Leute auf der Party waren sie gut genug […]. Meine Mutter weinte und verbarg ihre Tränen. Aber dachte sie – und auch mein Vater – in jener schlaflosen Nacht irgendwann daran, ihre Tochter aufzugeben? Wäre es nicht verständlich gewesen, so zu reagieren und das Geschehene als eine böse Tat anzusehen? (Seite 127)

Mr d’Arbley wird auch verstehen, wie die am Vorfall Beteiligten mit ihrer Erkenntnis umgegangen sind – so malt sie es sich jedenfalls aus, denn Mr d’Arbley ist genauso ein Phantom wie die beiden virtuellen Figuren, die sie bereits mit sieben Jahren als tröstliche Begleiter ihrer Einsamkeit halluzinierte.


Seitensprung

Die Frau war neununddreißig, er Mitte vierzig, als sie ihre „Büroaffäre“ begannen. Sie arbeitet inzwischen in einer Modefirma und er als Steuerberater. Morgens treffen sie sich in einem Café zum Frühstück; die Mittagspause verbringen sie ebenfalls miteinander, und abends sehen sie sich in einer Bar.

Die Frau lässt sich während ihrer außerehelichen Beziehung von ihrem Ehemann scheiden. Ihr Liebhaber ist verheiratet; seine Frau gibt ihm immer nicht besonders liebevoll bereitete Sandwiches als Mittagessen mit. In die Wohnung seiner Geliebten, aus der deren Mann nach der Scheidung auszog, geht er nur selten, und dann nur, um dort kleine Arbeiten für sie zu erledigen. Für ihr Liebesleben halten sie die Wohnung jedoch nicht für den richtigen Ort. Er ist zwar in ihren Lebensbereich einbezogen; über seine Familie oder häusliche Einzelheiten wird hingegen nie gesprochen.

Der Mann ist in letzter Zeit mit seiner Situation nicht mehr zufrieden. Er fühlt, dass seine geschiedene Geliebte von ihm wohl eine Entscheidung für die Zukunft erwartet. Als sie sein schlechtes Gewissen bemerkt, fragt sie ihn nach dem Grund. Mit dem heuchlerischen Argument, er „verschwende ihr Leben“ und dem Vorwand, alle möglichen Leute sähen ihn schief an, so als vermuteten sie, dass „sie für ihn nicht mehr als ein Seitensprung“ sei, versucht er, sich aus der Affäre zu ziehen. Er habe ein schlechtes Gewissen dabei und nehme an, dass auch sie das belasten würde. Sie versichert ihm, ihr mache das nichts aus. Seine Erklärung, dass sie ihm alles bedeutet, akzeptiert sie zwar, aber eigentlich war sie von Anfang an darauf gefasst gewesen, dass ihr Verhältnis nur von vorübergehender Dauer sein würde. Sie wusste ja noch nicht einmal, warum er an seiner Ehe festhielt. Und sie hatte sich immer vorgenommen, „keine Bruchstücke aus den Trümmern zu retten“.

Die unausgesprochenen, aber von beiden verstandenen Regeln ihrer Liebe war nicht verletzt worden im schmerzhaften Bereich dessen, was nicht zu Ende war und nie zu Ende sein würde. Nichts von ihrer Liebe war heute ausgelöscht worden: Das nahmen sie mit, als sie sich trennten und auseinander gingen, nicht ahnend, dass die Zukunft weniger düster war, als sie augenblicklich schien, und ihre zarte Behutsamkeit weiter Bestand haben und sie selbst immer so bleiben würden, wie die Liebe sie für eine Zeit gemacht hatte. (Seite 238)

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Die meisten der zwölf in dem Band „Seitensprung“ zusammengefassten Erzählungen handeln von unglücklichen Liebespaaren, gescheiterten Beziehungen und unerfüllten Lebensentwürfen. William Trevor benötigt oft nicht mehr als zwanzig Seiten, um den Leser mit der emotionalen Befindlichkeit der Personen in angespannten Situationen vertraut zu machen. So trostlos die Umstände oft scheinen mögen; der Autor lässt am Ende häufig einen Lichtblick aufschimmern.

Die Erzählung „Einsamkeit“ umfasst das ganze Leben einer Frau, angefangen bei der Siebenjährigen bis ins reifere Alter. Die Geschichte „Ein Abend zu zweit“ beschränkt sich hingegen auf die Schilderung eines Rendezvous‘ und „Seitensprung“ auf die Entwicklung einer Liebesaffäre über einen längeren Zeitraum hinweg.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2008
Textauszüge: © Hoffmann und Campe

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