Balzac und die kleine chinesische Schneiderin

Balzac und die kleine chinesische Schneiderin

Balzac und die kleine chinesische Schneiderin

Balzac und die kleine chinesische Schneiderin - Originaltitel: Balzac et la petite tailleuse chinoise - Regie: Dai Sijie - Drehbuch: Dai Sijie und Nadine Perront, nach einem Roman von Dai Sijie - Kamera: Jean-Marie Dreujou - Schnitt: Julia Gregory - Musik: Wang Pujian - Darsteller: Zhou Xun, Chen Kun, Liu Ye, Wang Shuangbao u.a. - 2002; 115 Minuten

Inhaltsangabe

Zwei befreundete Gymnasiasten, die während der "Großen Proletarischen Kulturrevolution" in einem abgelegenen Bergdorf umerzogen werden sollen, verlieben sich in die Enkelin des Schneiders aus dem Nachbardorf und lesen der Analphabetin aus verbotenen Büchern beispielsweise von Balzac vor. So widerstehen sie selbst der Gehirnwäsche, aber das Mädchen verändert sich durch die aufgenommenen Gedanken ...
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Kritik

In der poetischen, rührenden und wehmütigen Liebesgeschichte "Balzac und die kleine chinesische Schneiderin" geht es um die Sprengkraft der Literatur und drei schelmische junge Menschen, die sich inmitten einer repressiv-doktrinären Gesellschaft ihre Freiheit bewahren.
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Handlung:

1971, in der Spätphase der offiziell eigentlich bereits beendeten Kulturrevolution in der Volksrepublik China, werden der achtzehnjährige Gymnasiat Luo Ming (Chen Kun) und sein ein Jahr jüngerer Freund Ma Jianling (Liu Ye) für unbestimmte Zeit in ein abgelegenes Bergdorf im südchinesischen Distrikt Yong Jing verbannt. Dort sollen die beiden den Bauern bei ihrer harten Arbeit helfen und dabei umerzogen werden, denn bei ihren Vätern handelt es sich um studierte Ärzte, also Intellektuelle und Angehörige der reaktionären Bourgoisie. Gleich nach ihrer Ankunft durchsucht der kommunistische Dorfvorsteher Laoban ihr Gepäck. Das mitgebrachte Kochbuch zerreißt der Analphabet auf der Stelle, doch als er auch Luos Violine zerbrechen will, weil er sie für ein dekadentes Spielzeug hält, fordert Ma seinen Freund auf, darauf etwas aus einer Sonate von Wolfgang Amadeus Mozart zu spielen, und als Laoban misstrauisch fragt, ob es sich bei „Mozart“ um ein Volkslied handele, behaupten die beiden Jungen, der vollständige Titel des Stücks laute „Mozart sehnt sich immer nach dem großen Vorsitzenden Mao„.

Luo und Ma müssen in der Kupfermine arbeiten und Jauchefässer über die Bergpfade tragen, damit die Felder gedüngt werden können.

Eines Tages kommt der alte Schneider mit seiner Nähmaschine und seiner Enkelin (Zhou Xun) aus dem eine Stunde entfernten Nachbardorf, um auch hier Kleider zu verkaufen. Luo und Ma verlieben sich in das bezaubernd lächelnde Mädchen mit dem dicken schwarzen Zopf, das von allen nur „die kleine Schneiderin“ genannt wird. Weil ihre Mutter – die einzige Lehrerin in dieser einsamen Gegend – früh gestorben war, hat die kleine Schneiderin trotz ihrer Wissbegier weder schreiben noch lesen gelernt, aber sie hört gern zu, wenn Luo und Ma Geschichten erzählen.

Weil Laoban mit den beiden Jungen zufrieden ist, schickt er sie nach einiger Zeit in die zwei Tagesreisen entfernte Stadt. Dort sollen sie sich einen Film anschauen und den Dorfbewohnern dann darüber berichten. In ihrer sogar mit künstlichem Schnee aus Spreu untermalten Erzählung machen sie aus dem langweiligen nordkoreanischen Propagandastreifen eine rührende Geschichte.

Bei einer Parteiversammlung stellt ein Funktionär einen Jungen, der im Nachbardorf umerzogen wird, als vorbildlich dar. Die kleine Schneiderin verrät ihren beiden Freunden, dass der Junge – der wegen seiner starken Brille „Vier-Auge“ gerufen wird – einen Koffer voll verbotener Bücher besitzen soll. Sie suchen ihn auf, aber Vier-Auge, der bald in die Stadt zurückkehren darf, behauptet, er habe die reaktionären Bücher längst in eine unzugängliche Schlucht geworfen. Daraufhin brechen Luo und Ma in seine Hütte ein und rauben ihm die dort versteckten Bücher von Honoré de Balzac, Stendhal, Flaubert, Gogol, Dostojewski und Alexandre Dumas dem Älteren. Endlich verfügen sie über Geschichten, die sie noch nicht kennen. Sie verstecken die Bücher in einer Höhle und nehmen aus Vorsicht nur jeweils einen Roman mit. Damit holen sie sich eine freie, abenteuerliche Fantasiewelt in das stupide Dorfleben, und die verbotene Lektüre hilft Luo und Ma, der Gehirnwäsche zu widerstehen. Auch der kleinen Schneiderin lesen sie jeden Tag ein paar Seiten vor.

Der alte Schneider, dem auffällt, dass seine Enkelin sich verändert, macht sich Sorgen und er stellt Luo und Ma deshalb zur Rede. Am Ende lässt er sich selbst von ihnen in neun Nächten die Geschichte des Grafen von Monte Christo erzählen – und wird dadurch zu neuen Kleiderschnitten und Stickmustern inspiriert.

Traurig beobachtet Ma, wie sich zwischen seinem Freund und der kleinen Schneiderin allmählich eine zarte Liebesbeziehung entwickelt. Gerade als Luo wegen der ernsten Erkrankung eines nahen Verwandten zwei Monate Urlaub bekommt, merkt die kleine Schneiderin, dass sie schwanger ist. Wenn das bekannt wird, muss sie mit einer ernsten Bestrafung rechnen. Heiraten darf sie mit achtzehn Jahren noch nicht, und Abtreibungen sind nur Ehefrauen gestattet. Ma verhilft der Verzweifelten während der Abwesenheit Luos zu einer heimlichen Abtreibung.

Als Luo zurückkommt, findet er die kleine Schneiderin verändert vor. Kurz darauf schneidet sie sich den Zopf ab und geht fort. Aus den Büchern hat sie gelernt, dass die Schönheit der Frau ein unbezahlbarer Schatz ist, und sie will nun ihren Traum von Emanzipation, Selbstverwirklichung und individueller Freiheit in den Städten verwirklichen.

Fünfzehn Jahre später ist Luo ein gefeierter Geiger in Paris. Zufällig sieht er im Fernsehen einen Bericht über den Bau des gigantischen Drei-Schluchten-Staudamms am Yangze, dessen Stausee auch das Bergdorf, in dem man ihn umerziehen wollte, überschwemmen wird. Da fliegt er noch einmal nach China und sucht in den Bergen nach der kleinen Schneiderin, aber ihr Großvater ist längst gestorben und niemand erinnert sich an das Mädchen. Wehmütig fliegt er nach Shanghai, wo Ma verheiratet ist und Karriere gemacht hat. Während sie zusammen Luos Videoaufnahmen aus den Bergen ansehen, erinnern sie sich an ihre damaligen Erlebnisse. Von der kleinen Schneiderin hat auch Ma nie wieder etwas gehört.

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Mit der 1966 in der Volksrepublik China eingeleiteten „Großen Proletarischen Kulturrevolution“ wollte die von Mao Zedong (1893 – 1976) geführte Kommunistische Partei traditionelle Denk- und Verhaltensweisen ausmerzen. Die Ideologie sollte die herkömmliche Bildung ablösen. Eigens aufgestellte „Rote Garden“ sorgten dafür, dass Millionen vorwiegend Intellektueller aus ihren Ämtern gejagt, misshandelt und gedemütigt wurden. Vermutlich kamen dabei Hunderttausende ums Leben. Formell wurde die Große Kulturrevolution 1969 beendet, faktisch jedoch erst Mitte der Siebzigerjahre.

Dai Sijie kam 1954 in der Provinz Fujian als Sohn eines Arztes zur Welt. Als er zwölf Jahre alt war, wurden seine Eltern von den Roten Garden festgenommen, und von 1971 bis 1974 sollte er in einem Bergdorf umerzogen werden. Nach Maos Tod begann Dai Sijie Kunstgeschichte zu studieren.

1984 emigrierte er nach Paris. Dort verarbeitete er seine Erlebnisse in dem 2000 veröffentlichten französischsprachigen Roman „Balzac et la petite tailleuse chinoise“. Die deutsche Übersetzung von Gió Waeckerlin Induni – „Balzac und die kleine chinesische Schneiderin“ – erschien 2001 im Piper-Verlag. Am 25. Dezember 2003 kam die von Dai Sijie selbst wunderbar leicht inszenierte Verfilmung des Romans in die deutschen Kinos.

Die Große Kulturrevolution bildet lediglich den Hintergrund der in einer großartigen Berglandschaft spielenden Geschichte. Im Zentrum steht die rührende Begegnung von zwei zur Umerziehung in ein abgelegenes Bergdorf verbannten Gymnasiasten mit der analphabetischen Enkelin des Schneiders aus dem Nachbardorf. Traurig beobachtet Ma, der sich selbst in die kleine Schneiderin verliebt hat, wie sich zwischen ihr und seinem Freund Luo eine zarte Liebesbeziehung entwickelt. Heimlich lesen ihr die beiden Jungen aus verbotenen Büchern beispielsweise von Honoré de Balzac vor. Das hilft ihnen, der Gehirnwäsche zu widerstehen, aber in dem ungebildeten Mädchen wecken die abenteuerlichen Geschichten den Wunsch nach Emanzipation, Selbstverwirklichung und individueller Freiheit: Sie geht allein in die Städte, um dort ihren Traum von einem anderen Leben zu verwirklichen.

„Balzac und die kleine chinesische Schneiderin“ ist eine rührende, wehmütige Liebesgeschichte, handelt aber auch von der Sprengkraft der Literatur und in vielen komischen Szenen von drei schelmischen jungen Menschen, die sich inmitten einer repressiv-doktrinären Gesellschaft ihre Freiheit bewahren. In einer Kinowelt, die immer greller und bunter zu werden scheint, bildet dieser sanfte poetische Film eine gelungene Ausnahme.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004

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