Bernard Ostersiek : In der Kälte des Schattens

In der Kälte des Schattens
In der Kälte des Schattens Originalausgabe: Grube Verlag, Lemgo 2013 ISBN: 978-3-9813593-2-9, 332 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Werner wird von seinen Eltern fortwährend ungerecht behandelt und bei jedem Anlass verprügelt. Als seine jüngere Schwester die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium nicht besteht, werfen die Eltern Werner vor, sich nicht intensiver um seine Schwester gekümmert zu haben. Dass sie ihn aufs Gymnasium schickten, halten sie für einen Fehler, denn sie glauben nicht, dass er das Abitur schaffen wird. Trotz seiner hervor­ragenden Zeugnisse sind sie von seiner Dummheit ebenso überzeugt wie von seiner charakterlichen Minderwertigkeit ...
mehr erfahren

Kritik

Bernard Ostersiek erzählt in seinem Roman "In der Kälte des Schattens" eine erschütternde Geschichte. Aber es fehlt unter anderem an Licht­blicken, die mit den vielen Ungerech­tig­keiten kontrastieren würden.
mehr erfahren

Als Kind wird Werner Märker von seinen Eltern fortwährend ungerecht behandelt und bei jedem Anlass verprügelt. Nach der Einschulung im Jahr 1951 zwingt ihn die Klassenlehrerin – eine „alte Jungfer“ – statt mit der linken mit der rechten Hand zu schreiben. Seine vier Jahre jüngere Schwester Christine entwickelt sich „zu einer hemmungslosen und vor allem hinterhältigen kleinen Tyrannin“.

Obwohl sich später herausstellt, dass Christina im Gegensatz zu ihrem Bruder nicht nur mit dem Rechnen, sondern auch mit dem Schreiben und Lesen Schwierigkeiten hat, behandeln Regina und Pitter Märker ihre Tochter mit viel Nachsicht. Und dass sie die Aufnahmeprüfung nicht besteht, lasten die Eltern nicht ihr, sondern Werner an, der sich intensiver um seine Schwester hätte kümmern sollen. Immer wieder versuchen sie ihm einzureden, dass er nichts tauge. Als er bei einem Intelligenztest nur auf einen IQ von 80 kommt, ignoriert Regina seine hervorragenden Schulzeugnisse und schimpft:

Der Test hat ergeben, dass du einen Intelligenzquotienten von 80 hast. Ist dir klar, was das bedeutet? Das ist an der unteren Grenze der Skala, du Blödmann, denn bei 75 fängt der Schwachsinn an!

Ihre Sorge ist vor allem, dass Bekannte von dem Testergebnis erfahren. Wie stehen sie und Pitter dann da?!

Die wenigen Versprechungen, die Pitter Märker seinem Sohn macht, hält er nicht. Er meint, es sei ein Fehler gewesen, den Jungen aufs Gymnasium zu schicken, denn es sei nicht zu erwarten, dass er das Abitur schaffe. Er selbst, fügt Pitter hinzu, habe keine höhere Schule besuchen können, weil die Eltern nicht genug Geld hatten. Er absolvierte stattdessen eine Maurerlehre. Aus dem Zweiten Weltkrieg kehrte Pitter verwundet zurück. Später arbeitete er beim Rheinisch-Westfälischen Baukontor, bis er dort kündigte und sich selbstständig machte. Damit scheiterte er allerdings. Infolgedessen studierte er Architektur, obwohl er eine Familie zu ernähren hatte. Nach dem Studium begann er zwar beim Landratsamt des Nachbarkreises zu arbeiten, wurde aber nicht in ein festes Anstellungsverhältnis übernommen und absolvierte daraufhin die Zweite Technische Staatsprüfung. Mit diesem Abschluss wurde er dann in Siegburg Beamter.

Wie ihr Mann hält es auch Regina für einen Fehler, dass Werner aufs Gymnasium geht. Sie stammt aus Oberschlesien. Ihr Vater und ihr Bruder waren gefallen. Die Mutter floh mit ihr und ihren sieben jüngeren Schwestern vor der Roten Armee nach Westen. Die meisten von ihnen strandeten in Ostdeutschland, aber nach und nach setzen sich Reginas Schwestern in den Westen ab, und am Ende kommt auch die Mutter nach.

Als Regina einige Jahre nach Christina Zwillinge zur Welt bringt und Werner sie im Krankenhaus besucht, erlebt er mit, wie sie weint und eine Krankenschwester versucht, die Wöchnerin zu trösten.

„Aber, was haben Sie denn, Frau Märker? Nicht weinen! Freuen sollten Sie sich! Es ist doch alles gut gegangen! Sie sind gesund, und ihren Kinderchen geht es auch gut, was wollen Sie mehr?“ Da raffte sich Regina auf und schleuderte der Schwester entgegen: „Was verstehen Sie denn schon davon, Sie Rotznase? Sie haben wohl keine Kinder, wie? Dann können Sie sich auch nicht vorstellen, wie viel Arbeit so ein Kleines macht, und ich habe hier gleich zwei auf einmal! Mir graut jetzt schon davor, dass ich vor lauter Haushalt und Kinderpflege kaum noch aus den Augen gucken kann! Und da kommen Sie daher und sagen mir in Ihrer grenzenlosen Dämlichkeit, dass ich mich freuen soll!“

Zusätzlich zu den Arbeiten im Haushalt, die Regina ihrem Sohn schon vor Jahren aufgezwungen hat, muss er jetzt auch noch die Zwillinge wickeln.

Einmal schlägt Regina so zu, dass er mit einem gebrochenen Nasenbein ins Krankenhaus muss. Sie schärft ihm ein, dass er nicht sagen dürfe, wie es zu der Verletzung kam, und Pitter erzählt sie am Abend, der dämliche Sohn sei mit dem Mülleimer über eine Treppenstufe gestolpert.

In Anerkennung seiner schulischen Leistungen erhält Werner ein Stipendium für einen dreiwöchigen Aufenthalt in Caen, wo er von dem Ehepaar Flottemanville aufgenommen wird. Die beiden behandeln ihn wie einen eigenen Sohn und freuen sich, wenn er sie in den nächsten Jahren so oft wie möglich in den Ferien besucht.

Der Sportlehrer besucht Werners Eltern, um sie zu überreden, dem Sohn die Mitgliedschaft im Sportverein zu erlauben. Am nächsten Morgen jagt Pitter seinen Sohn früher als sonst aus dem Bett, wirft ihm vor, den Lehrer zu dem lästigen Besuch angestiftet zu haben und äußert den Verdacht, dass der Pädagoge homosexuell sei. Mit so einem hätte man im „Dritten Reich“ kurzen Prozess gemacht, schimpft er. Pitter verheimlicht nicht, dass er in der NSDAP war; im Gegenteil: er ist stolz auf seine Gesinnung.

Auf Anraten des Klassenlehrers bewirbt Werner sich um ein Stipendium des deutschen pädagogischen Austauschdienstes. Als Regina, die alle an ihn gerichtete Post öffnet, das Antwortschreiben liest, schlägt sie ihm ein blaues Auge und keift am Abend, als Pitter nach Hause kommt:

„Stell dir vor, was für eine Unverschämtheit er sich jetzt schon wieder geleistet hat. Hinter unserem Rücken hat er sich um ein Sommertrimester an einer englischen Schule beworben, und heute ist tatsächlich die Bestätigung gekommen, dass die ihn angenommen haben! Wenn er hier das Sommerhalbjahr schwänzt, wird er nächste Ostern sitzenbleiben, und dann haben wir ihn noch ein Jahr länger auf der Tasche liegen!“

Tatsächlich denkt sie vor allem daran, dass ihr während seiner Abwesenheit seine Arbeitskraft fehlen würde. Wider Erwarten duldet Pitter jedoch, dass Werner nach England reist.

Dort wohnt er bei der Familie Tilmanstone, zu der die 15-jährigen Zwillinge Terry und Valerie gehören. Werner und Valerie verlieben sich, aber als Regina einen Brief des Mädchens entdeckt, untersagt sie Werner ein „Verhältnis“ mit der „dreckigen Engländerin“ und schreibt Familie Tilmanstone einen geharnischten Brief.

Während Werner mit seinen Zwillingsschwestern Ingrid und Sigrid im Freibad ist und sie trägt, wird Sigrid am Hinterkopf von einem Ball getroffen und Werner dadurch aus dem Arm gerissen. Sie stürzt so unglücklich zu Boden, dass sie sich das Genick bricht. Pitter und Regina geben Werner die Schuld am Tod seiner kleinen Schwester, und Pitter droht, ihn totzuschlagen. Weil er von der Polizei vernommen wird, verdächtigt er Werner, etwas gegen ihn unternommen zu haben. Deshalb schreit er:

„Reicht es nicht, dass unser kleines Kind durch deine Schuld zu Tode gekommen ist? Nein, du altes Dreckschwein hast mir auch noch die Polizei auf den Buckel gehetzt, und dafür wirst du mir bis zum Ende deines erbärmlichen Lebens büßen, das sage ich dir! Wer so unbarmherzig wie du das Leben seiner Mitmenschen aufs Spiel setzt, der gehört auf dieselbe unmenschliche Weise dafür bestraft! Der hat sein eigenes Recht auf Leben unwiderruflich verwirkt und gehört ausradiert! Jawohl, ausradiert!“

Während dieser Auseinandersetzung fällt Werner erstmals auf, dass er inzwischen größer als Pitter ist.

In diesem Moment fiel alle Angst, die mich bisher in solchen Situationen gelähmt hatte, von mir ab, und plötzlich spürte ich nur noch Verachtung für ihn.

Und als Pitter auf ihn losgeht, packt Werner seine Handgelenke und drückt ihm die Arme auseinander: Er lässt sich nicht mehr prügeln, weder von Pitter noch von Regina.

Wegen eines längeren Krankenhausaufenthalts versäumt Werner so viel vom Unterricht, dass er eine Klasse wiederholen muss. Die Eltern drohen zwar, ihn von der Schule zu nehmen, tun es jedoch nicht.

Bevor er in die Unterprima kommt, wird seine Schwester Marlene geboren.

Zwei Jahre lang ist Gerlind Kellermeier seine Freundin. Mit ihr zusammen besucht er eine Verwandte. Als er wieder zu Hause ist, behauptet Regina, die Verwandte habe angerufen und sich über den Diebstahl eines Rings beschwert. Einige Zeit später erfährt Werner, dass Regina sowohl bezüglich des Telefongesprächs als auch der Anschuldigung log.

Nachdem Gerlind und Werner sich getrennt haben, wird Gerlinds jüngere Schwester Hannelore seine neue Freundin.

Mit 18 macht er ohne Wissen seiner Eltern den Führerschein. Das dafür erforderliche Geld verdiente er durch Nachhilfestunden, und nun arbeitet er nebenbei als Aushilfsfahrer.

Als er seinen Einberufungsbescheid bekommt, überlegt er, den Wehrdienst zu verweigern. Aber davon will Pitter nichts wissen. Ein anständiger Deutscher habe seinen Wehrdienst abzuleisten, meint er. Und vielleicht werde man Werner bei der Bundeswehr endlich Manieren beibringen. Der Gymnasiast fährt also zur Musterung nach Bonn, kommt aber mit der Einstufung „beschränkt tauglich“ zurück. Regina kommentiert das folgendermaßen:

„Da kannst du mal sehen, was du wert bist, du Hornvieh! Nicht einmal für den Barras bist du gut genug!“

Pitter will den Bescheid zunächst anfechten, sieht dann aber die Aussichtslosigkeit eines solchen Versuchs ein.

Werner will Journalist werden. Damit ist Pitter nicht einverstanden:

„Ein Journalist ist ein Mensch, der seinen Beruf verfehlt hat. Das hat schon der alte Bismarck gesagt, und sowas kommt mir nicht ins Haus! Wenn du Glück hast und dein Abitur bestehst, dann wirst du etwas Ordentliches.“

Seinen 20. Geburtstag feiert Werner mit dem Ehepaar Flottemanville in Caen, denn er hat ein Stipendium für ein Studienjahr an der Universität in Caen bekommen. Die Eltern schicken nicht einmal eine Glückwunschkarte.

Pitter findet sich schließlich mit dem Berufswunsch seines Sohnes ab. Kurz vor dem 21. Geburtstag beginnt Werner ein Volontariat bei einer Bonner Tageszeitung. Obwohl es laut Vertrag untersagt ist, studiert er parallel dazu in Bonn Französisch, Geschichte und Kunstgeschichte.

Monsieur Flottemanville stirbt. Werner reist zur Beerdigung und erfährt von der Witwe, dass er der Erbe des Ehepaars ist. Von nun an steht ihm ein monatlicher Geldbetrag zur Verfügung. Endlich kann Werner zu Hause ausziehen und sich ein Zimmer in Bonn nehmen.

Bei einer Party in Köln trifft er zufällig Valerie Tilmanstone wieder, von der er acht Jahre lang nichts mehr gehört hat. Inzwischen studierte sie in Cambridge Germanistik und Philologie. Ein Stipendium ermöglicht es ihr, sich in Köln auf die Magisterprüfung vorzubereiten.

Schon bald nach dem Wiedersehen verloben sich die beiden. Regina und Pitter reagieren auf die Verlobungsanzeige nicht.

Valerie bleibt nach dem Studienabschluss in Deutschland und fängt als Nachrichtensprecherin bei der Deutschen Welle an. Nachdem sie eine Wohnung in Köln gemietet hat, heiraten sie und Werner.

Als Valerie schwanger wird, stellt sich heraus, dass sich ihr Blut nicht mit dem des Kindes verträgt. Deshalb fragt der Arzt nach den Blutgruppen sowohl von Valeries als auch von Werners Eltern. Dann erklärt er dem werdenden Vater, entweder liege ein Irrtum vor oder Pitter und Regina Märker seien nicht seine Eltern.

Noch während Valeries Schwangerschaft erkrankt Pitter. Werner besucht ihn in der Klinik, aber der Todkranke schickt ihn weg: „Geh, ich will in Ruhe sterben!“ Und die Nachricht vom Tod seines Vaters erhält Werner nicht von Regina, sondern von einer Tante.

Nach der Beerdigung stellt er Regina zur Rede. Sie gibt zu, dass sie nicht leiblich verwandt sind. Kurz vor Kriegsende lebten Regina und Pitter in Oberschlesien. Ihr erstes Kind war bei der Geburt gestorben. Das zweite gebar Regina am 10. Mai 1945 auf der Flucht in Leitmeritz. Am Tag danach musste sie das Krankenhaus verlassen, und zwar mit einem Neugeborenen, das ihr eine Schwester in die Arme drückte. Erst als es zu spät war und sie nicht mehr zurück konnte, entdeckte Regina am Körper des Säuglings ein Muttermal, das ihr eigenes Kind nicht hatte. Notgedrungen nahmen sie und Pitter das Baby mit in den Westen, aber sie argwöhnten, dass es sich bei dem Kuckuckskind um einen „slawischen Untermenschen“ handeln könnte.

„Da war natürlich äußerste Strenge vonnöten, denn dieses Ostpack war doch so was von verkommen!“

Werner nimmt den Kochlöffel in die Hand, mit dem er als Kind so oft geschlagen wurde. Regina befürchtet, dass er gewalttätig wird, aber er drückt ihr den Kochlöffel nur gegen die Kehle und versichert ihr, dass er nicht vorhabe, sich für die vielen Prügel zu rächen. Dennoch will Regina zur Terrassentür laufen. Dabei stolpert sie und schlägt mit dem Hinterkopf auf die Kante der Küchenarbeitsplatte. Als Werner begreift, dass sie tot ist, murmelt er: „Der Schatten ist tot.“

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Die Lektüre des Romans „In der Kälte des Schattens“ von Bernard Ostersiek ist erschütternd, denn es geht um einen Schüler bzw. Studenten, der nach einer freudlosen Kindheit von den Eltern auch weiterhin ungerecht behandelt wird. Sie geben ihm die Schuld am Tod einer seiner Schwestern, halten ihn trotz seiner hervorragenden schulischen Leistungen für debil und sind von seiner charakterlichen Minderwertigkeit überzeugt.

Bernard Ostersiek wurde wie der Ich-Erzähler in seinem Roman „In der Kälte des Schattens“ 1945 geboren und wuchs im Rheinland auf. Nach einem Zeitungsvolontariat studierte er in Köln, Glasgow, Kanada und in den USA Geschichte, Kunstgeschichte, Theaterwissenschaften, Englische Literatur und Philosophie. 1972 promovierte er. Was an „In der Kälte des Schattens“ autobiografisch ist und ob Bernard Ostersiek sich ein Trauma von der Seele geschrieben hat, bleibt offen.

Schuljahr für Schuljahr wird abgehakt, und die chronologisch erzählte Handlung setzt sich aus einer eintönigen Reihe von Ungerechtigkeiten zusammen. Lichtblicke gibt es so gut wie keine. „In der Kälte des Schattens“ fehlt es an Veränderungen, und vor allem den Eltern mangelt es an Shadowing, also an widersprüchlichen Charakterzügen bzw. Verhaltensweisen: Sie werden durchgängig als widerliche Altnazis dargestellt. Der Text steht im Imperfekt. Der Ich-Erzähler nimmt allerdings nicht durchgängig die Position eines rückblickenden Erwachsenen ein, sondern schildert das Geschehen mitunter auch aus der naiven Sicht eines Kindes.

 

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2014
Textauszüge: © Grube Verlag

Sylvia Richard-Färber - Tagebuch einer Närrin
Mit ihrer geschulten Stimme wechselt "die Färberin" nicht nur zwischen laut und leise, schnell und langsam, sondern artikuliert auch überdeutlich. Unterhaltsam ist "Tagebuch einer Närrin" v. a. aufgrund ihrer Selbstironie.
Tagebuch einer Närrin