Monika Weimar / Monika Böttcher


Zwei Monate nach ihrem 20. Geburtstag heiratete die Krankenschwester Monika Böttcher im Juni 1978 den sechs Jahre älteren Betriebsschlosser Reinhard Weimar. Das Paar lebte in dem hessischen Dorf Nippe bei Philippsthal-Röhrigshof an der Werra und bekam zwei Töchter: Melanie am 22. Juli 1979 und Karola am 8. März 1981.

Am frühen Nachmittag des 4. August 1986 meldete Monika Weimars jüngere, im selben Haus wohnende Schwester Barbara ihre beiden Nichten als vermisst. Nachbarn der Familie Weimar begannen, nach den beiden sieben bzw. fünf Jahre alten Kindern zu suchen. Es fiel auf, dass sich weder Monika Weimar noch deren Schwester daran beteiligten. Schließlich durchkämmten Hundertschaften der Polizei und des Bundesgrenzschutzes die umliegenden Äcker und Felder, Wiesen und Wälder.

Monika Weimar gab an, die Kinder seien gegen 9.30 Uhr aufgestanden und nach einem kurzen Frühstück gegen 10.15 Uhr zum Spielplatz neben dem Wohnhaus gegangen. Mehrere Zeugen wollen Melanie und Karola denn auch gegen 11 Uhr dort gesehen haben. Als sie von ein paar Besorgungen zurückgekommen sei, behauptete Monika Weimar, seien die Kinder nicht mehr auf dem Spielplatz gewesen. Reinhard Weimar, der Urlaub hatte, wie seine Frau, konnte das nicht bestätigen; er habe bis etwa 11.30 Uhr geschlafen, sagte er aus, und dann auf seine Frau gewartet, die mit dem Auto weg gewesen und um 12.15 Uhr zurückgekommen sei.

Einem Polizisten fiel auf, dass Monika Weimar die Hand ihres Mannes wegschob, als dieser sie trösten wollte, und die Kriminalpolizei aus Bad Hersfeld fand heraus, dass Monika Weimar seit Mai 1986 ein Verhältnis mit dem US-amerikanischen Soldaten Kevin Pratt hatte. Stand das Verschwinden der Töchter mit der beabsichtigten Scheidung in Zusammenhang?

Als der Busfahrer Hans-Georg Führer am 7. August auf einem zehn Autominuten vom Wohnort der Weimars entfernten Parkplatz an der am Herfabach entlangführenden Landstraße eine kurze Pause einlegte, entdeckte er zufällig hinter Brennnesseln die Leiche eines siebenjährigen Mädchens. Melanie Weimar. In einem vier Kilometer entfernten Himbeergestrüpp fand die Polizei eineinhalb Stunden später auch deren zwei Jahre jüngere Schwester. Jemand hatte Melanie erstickt und Karola erwürgt.

Da es keine Spuren eines Kampfes oder sexuellen Missbrauchs gab, hielt man es in der am 8. August gebildeten Sonderkommission »Weimar« für unwahrscheinlich, dass die Mädchen von einem Fremden ermordet worden waren. Dazu kam, dass ein Zeuge am 4. August gegen Mittag auf dem Parkplatz neben dem Fundort von Melanies Leiche einen weißen Passat-Kombi gesehen hatte, wie ihn Familie Weimar besaß.

Monika Weimar übergab der Polizei zwei anonyme, mit der Hand geschriebene Briefe, die sie angeblich am 12. und 15. August erhalten hatte. Der erste lautete: »Das ist die Strafe. Es tut mir leid um die Kinder. Aber es musste sein.« Auf dem anderen Blatt stand: »Erst die Kinder die nur zur Qual. Jetzt bist du bald dran. Von wem der Auftrag kannst du dir wohl denken.« Eine Untersuchung ergab, dass Monika Weimar die Briefe selbst geschrieben hatte, vermutlich, um den Verdacht auf ihren Mann zu lenken.

Die Ermittlungen konzentrierten sich jedoch auf sie. Während von Reinhard Weimar lediglich eine Jeans und zwei T-Shirts fasertechnisch untersucht wurden, geschah dies mit siebenundzwanzig Kleidungsstücken seiner Frau. Monika Weimar hatte einen von den Ermittlern festgestellten Sprung in der Windschutzscheibe ihres Autos mit einem Steinschlag erklärt. Bei der kriminaltechnischen Untersuchung stellte sich jedoch heraus, dass das Glas durch einen Stoß aus dem Fahrzeuginneren beschädigt worden war. Mit diesem Ergebnis konfrontiert, behauptete Monika Weimar am 28. August, sie habe sich in der Nacht auf den 4. August mit Kevin Pratt nach einem Diskotheken-Besuch im Auto geliebt und sei dabei mit einer Ferse versehentlich gegen die Scheibe getreten.

Die Polizei behielt Monika Weimar über Nacht da. Bei der Weiterführung der Vernehmung am nächsten Tag änderte sie unvermittelt ihre Darstellung: Als sie in der Nacht auf den 4. August gegen 3.20 Uhr von einem Rendezvous mit Kevin Pratt nach Hause gekommen sei, habe ihr Mann weinend im Kinderzimmer gesessen, behauptete sie nun, und beide Mädchen seien leblos in ihren Betten gelegen. »Jetzt kriegt keiner mehr die Kinder«, soll Reinhard Weimar gesagt haben. Während seine Frau im Schlafzimmer versucht haben will, ihre Gedanken zu ordnen, brachte er angeblich die Leichen fort. Bei Tag sei sie losgefahren, so Monika Weimar weiter, um ihre Töchter noch einmal zu sehen. Sie habe allerdings nur Melanies Leiche an der von ihrem Mann angegebenen Stelle gefunden.

Daraufhin ließ man Monika Weimar frei und verhaftete am 30. August Reinhard Weimar. Als er zu Protokoll gab, er habe die Leichen bestimmt nicht wegbracht, könne sich jedoch nicht erinnern, ob er die Kinder »totgemacht« habe oder nicht, brach der Polizeibeamte die Vernehmung ab. Am 31. August durfte Reinhard Weimar nach Hause zurückkehren. Den von Staatsanwalt Raimund Sauter gegen ihn beantragten Haftbefehl lehnte das Landgericht Fulda am 11. September ab. Stattdessen wurde am 27. Oktober Monika Weimar wegen Mordverdachts in Untersuchungshaft genommen.

Die Hauptverhandlung gegen Monika Böttcher – sie war inzwischen von ihrem Mann geschieden und trug wieder ihren Mädchennamen – begann am 23. März 1987 vor dem Landgericht Fulda. Da die Angeklagte ihre Unschuld beteuerte, stützte sich das Gericht unter dem Vorsitzenden Richter Klaus Bormuth auf Indizien und Zeugenaussagen, die einander zum Teil widersprachen.

Mehrere Zeugen wollten Melanie und Karola am 4. August gegen 11 Uhr auf dem sandigen Spielplatz gesehen haben, doch an den Sandalen und der Kleidung der toten Mädchen befand sich kein Sand, und acht befragte Kinder meinten, Melanie und Karola seien an diesem Tag nicht auf dem Spielplatz gewesen. Die meisten Menschen, die erstickt oder erwürgt werden, nässen sich ein. Die Blasen der Mädchen waren bei der Obduktion denn auch so gut wie leer. Aber die Ermittler hatten protokolliert, dass die Höschen der beiden Mädchen »blütenweiß« waren. Hatte jemand den Toten frische Unterwäsche angezogen? Als entscheidendes Indiz für Monika Weimars Täterschaft galten dreiundsiebzig Fasern einer gelben Bluse von ihr. Sie waren auf dem T-Shirt sichergestellt worden, das die tote Melanie angehabt hatte. Aufgrund fragwürdiger Tests und Schlussfolgerungen schien festzustehen, dass die Fasern nicht schon vor der Nacht auf den 4. August etwa durch eine Umarmung übertragen worden waren, sondern erst bei der Tötung des Mädchens bzw. dem Tragen der Leiche. Das Gericht kam zu der Auffassung, Monika Weimar habe Melanie und Karola aus Sorge, ihr Geliebter werde sie wegen der Kinder verlassen, am 4. August 1986 vom Spielplatz weggeholt und ermordet. Nach vierundvierzig Verhandlungstagen wurde Monika Weimar am 8. Januar 1988 deshalb zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt.

Den Revisionsantrag von Monika Böttcher, die bei der sogenannten »Nachtversion« blieb, wies der Bundesgerichtshof am 17. Februar 1989 zurück, und das Bundesverfassungsgericht verwarf am 2. Mai 1989 ihre Verfassungsbeschwerde dagegen. Zwei Jahre und vier Monate ließ das Landgericht Gießen sich Zeit, einen am 27. November 1992 gestellten Wiederaufnahmeantrag des Rechtsanwaltes Gerhard Strate abzulehnen. Das war niederschmetternd, erinnert dieser sich später, für ihn vielleicht noch mehr als für seine Mandantin: »Ich hatte wirklich das Gefühl, am Ende zu sein.« Neun Jahre saß Monika Böttcher in der Justizvollzugsanstalt Frankfurt-Preungesheim. Dann, am 4. Dezember 1995, hob das Oberlandesgericht Frankfurt das Urteil des Landgerichts Fulda vom 8. Januar 1988 überraschend auf und ordnete die sofortige Freilassung der Inhaftierten an. Gerhard Strate erfuhr davon während einer Dienstreise in Südafrika.

Sensationsreporter hatten sich von Anfang an auf den Fall gestürzt, der ihnen viel Stoff lieferte: eine zerrüttete Ehe, ein labiler Ehemann, eine Ehefrau, die ein Verhältnis mit einen amerikanischen Soldaten hatte, zwei nette Mädchen, die von der eigenen Mutter umgebracht worden sein sollen. Man hatte Monika Böttcher als »Ami-Flittchen« verunglimpft und den Schuldspruch im Januar 1988 wie bei einem Volksfest beklatscht. Mit dessen Aufhebung änderte sich die Darstellung in den Medien um hundertachtzig Grad: Plötzlich galt Monika Böttcher als unschuldiges Opfer einer Männerjustiz. Sowohl die Anklagevertreter als auch die Verteidiger versuchten, die öffentliche Meinung für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Während »Der Spiegel« den Nebenkläger Reinhard Weimar finanziell unterstützte, traf sich Monika Böttchers Verteidiger Gerhard Strate an den »Stern«, als er Geld für ein Gutachten benötigte.

Das neue, von dem Richter Wilfried Weller geleitete Verfahren begann am 5. Juni 1996 vor dem Landgericht Gießen. Eine Patientin, die 1989 gleichzeitig mit Reinhard Weimar in einer psychiatrischen Anstalt gewesen war, sagte aus, er habe ihr gestanden, seine Töchter »totgemacht« zu haben. Ohne die Zuverlässigkeit dieser Zeugin bis ins Letzte geprüft zu haben, sprach das Gericht Monika Böttcher am 24. April 1997 aus Mangel an Beweisen frei. Die beiden Schöffinnen weinten bei der Urteilsverkündung: Der Druck, der aufgrund der widersprüchlichen Indizien und des außergewöhnlichen Medienechos auf ihnen lastete, muss enorm gewesen sein. Das Publikum im Gerichtssaal applaudierte über den Freispruch ebenso begeistert wie neun Jahre zuvor über den Schuldspruch.

Die Staatsanwaltschaft fand sich mit dem Freispruch allerdings nicht ab, sondern beantragte Revision, und der Bundesgerichtshof ordnete daraufhin am 6. November 1998 ein drittes Hauptverfahren gegen Monika Böttcher an. Das begann am 2. September 1999 vor dem Landgericht Frankfurt unter dem Vorsitzender Richter Heinrich Gehrke und endete am 22. Dezember 1999 mit einer erneuten Verurteilung zu lebenslanger Haft.

Monika Böttcher wurde noch im Gerichtssaal festgenommen, aber ihr Anwalt bekam sie am 18. Januar 2000 gegen Kaution vorläufig frei. Erst nachdem der Bundesgerichtshof den Revisionsantrag gegen das neue Urteil verworfen hatte, musste Monika Böttcher am 2. November erneut ins Gefängnis.

Nach insgesamt fünfzehn Jahren Haft wurde die inzwischen Achtundvierzigjährige am 18. August 2006 vorzeitig aus der Justizvollzugsanstalt in Frankfurt-Preungesheim entlassen. Ihr Anwalt Gerhard Strate versicherte, es gebe keine Medienverträge; sein Mandantin habe im Gefängnis eine Ausbildung absolviert, werde in ihrem neuen Beruf arbeiten und im Rhein-Main-Gebiet ein zurückgezogenes Leben führen.

Der »Fall Weimar« gilt als einer der spektakulärsten Kriminalfälle der deutschen Rechtsgeschichte. Es ist ein Skandal, dass Polizei und Staatsanwaltschaft die Ermordung von zwei Kindern nicht aufklären konnten und die Mutter der toten Mädchen aufgrund widersprüchlicher Indizien zweimal als Mörderin verurteilt und einmal freigesprochen wurde.

Erika Kimmel und Bernd Isecke drehten den Dokumentarfilm »Monika Weimar und der Kindermord«.

Literatur über Monika Weimar bzw. Monika Böttcher:

  • Monika Böttcher und Ruth-Esther Geiger: Ich war Monika Weimar (Köln 1997)
  • Gisela Friedrichsen: Der Fall Weimar. Kindsmord in der Provinz (Reinbek 1988)
  • Carmen Gransee: Eine Medienanalyse zum „Fall Monika Weimar“ (Hamburg 1991)
  • Heide Platen: Kindsmord. Der Fall Weimar (Berlin 1988)
Simon Beckett - Schneefall / Ein ganz normaler Tag
Während "Schneefall" verblüffend banal ist, wechselt Simon Beckett in "Ein ganz normaler Tag" immerhin zwischen zwei Ebenen und thematisiert die Tendenz zur Vernachlässigung der Rechte, die auch Menschen am Rand der Gesellschaft zustehen.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.