Stanley Milgram : Das Milgram-Experiment

Das Milgram-Experiment
Originaltitel: Obedience to Authority. An Experimental View, 1974 Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität Übersetzung: Roland Fleissner Rowohlt Verlag, Reinbek 1974 Rowohlt Taschenbuch, Reinbek 1982
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Stanley Milgram erregte mit seinen 1960 bis 1963 in Yale durchgeführten Experimenten großes Aufsehen. Seine Probanden sollten einen angeblichen "Schüler" für Lernfehler mit Stromschlägen zunehmender Stärke bestrafen. Die meisten Probanden orientierten sich in dem Konflikt nicht an den Schmerzensschreien der vermeintlich von ihnen Gequälten, sondern an den Anordnungen des Versuchsleiters.
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Kritik

"Gewöhnliche Bürger erhalten den Befehl, andere Menschen zu vernichten – und sie tun es, weil sie es als ihre Pflicht ansehen, Befehlen zu gehorchen." (Stanley Milgram: Das Milgram-Experiment)

Unter dem Titel „Behavioral Study of Obedience“ veröffentlichte der amerikanische Sozialpsychologe Stanley Milgram 1963 im „Journal of Abnormal and Social Psychology“ die Ergebnisse eines Experiments. Sein Buch darüber („Obedience to Authority. An Experimental View“) wurde auch ins Deutsche übersetzt: „Das Milgram-Experiment. Zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität“ (1974).

Stanley Milgram (1933 – 1984) prüfte 1960 – 1963 in Yale, ob und wie weit Versuchspersonen den Anweisungen einer Autorität folgen, obwohl ihr Gewissen dies nicht zulassen dürfte.

Teilnehmer waren jeweils ein Versuchsleiter, ein Proband und ein Schauspieler, der vorgab, ebenfalls Versuchsperson zu sein. Um eine Beeinflussung der Ergebnisse durch gesellschaftliche Vorurteile zu vermeiden, wurde darauf geachtet, dass der Schauspieler – ein weißer Amerikaner – „normal“ aussah und unauffällig gekleidet war.

Zu Beginn wurde der Schauspieler durch eine manipulierte Losziehung für die Rolle eines Schülers ausgewählt, und die echte Versuchsperson als „Lehrer“ eingeteilt. Der „Schüler“ lernte Wortpaare auswendig und sollte im Rahmen eines angeblichen Lernexperimentes für jeden Fehler vom „Lehrer“ mit einem Stromschlag bestraft werden. Der Versuchsleiter führte die technische Einrichtung vor und erklärte, dass die Spannung von Schlag zu Schlag automatisch um 15 Volt steigen werde. In Wirklichkeit wurden durch die Betätigung der Apparatur keine Stromschläge ausgelöst, aber der Schauspieler reagierte je nach der angeblich eingestellten Spannung mit Stöhnen, Schmerzensschreien, gellenden Hilferufen.

Äußerte der „Lehrer“ Zweifel, ob er weitermachen sollte, forderte der Versuchsleiter ihn mit standardisierten Sätzen auf, das Experiment fortzusetzen. Erkundigte sich der „Lehrer“ danach, ob der „Schüler“ durch die Stromschläge einen bleibenden Schaden erleiden könne, antwortete der Versuchsleiter: „Auch wenn die Schocks schmerzvoll sein mögen: Das Gehirn wird keinen dauerhaften Schaden davontragen. Also machen Sie bitte weiter!“

In den ersten Versuchen waren zwei Drittel der Probanden bereit, den vermeintlichen Schüler mit Stromschlägen bis zu 450 Volt zu bestrafen, obwohl man sie zu Beginn auf die Lebensgefährlichkeit hingewiesen hatte.

Vier Hauptvarianten gab es in der Versuchsanordnung: (1) Der „Lehrer“ presste dem „Schüler“ die Hand auf den Stromkontakt (und glaubte, dabei durch einen isolierenden Handschuh vor den Stromschlägen geschützt zu sein); (2) „Lehrer“ und „Schüler“ saßen ohne Körperkontakt im selben Raum; (3) Der „Lehrer“ hörte den „Schüler“ im Raum nebenan, hatte aber keinen Sichtkontakt zu ihm; (4) „Lehrer“ und „Schüler“ befanden sich in zwei getrennten Räumen. Außerdem variierte die Präsenz des Versuchsleiters: (a) im Raum, (b) über Telefon erreichbar, (c) abwesend (Instruktionen vom Tonband). Ergebnis: Der Gehorsam der Probanden nahm von (1) nach (4) zu und von (a) nach (c) ab.

Das Ausmaß des Gehorsams hing auch davon ab, welche Autorität der Versuchsleiter in den Augen der Probanden darstellte: Gab er sich nicht als Wissenschaftler der Yale University aus, sondern als Angestellter eines in einem heruntergekommenen Bürogebäude untergebrachten fiktiven kommerziellen Forschungsinstituts („Research Institute of Bridgeport“), reduzierte sich die Zahl der Versuchspersonen, die vermeintlich starke Stromschläge austeilten.

Nahmen an dem Experiment zwei zusätzliche – vorher eingeweihte – „Lehrer“ teil, richteten die Probanden sich stark nach deren Verhalten: Protestierten die entsprechend instruierten „Lehrer“ gegen eine Fortsetzung der „Bestrafung“, nahm der Gehorsam der Probanden gegenüber dem Versuchsleiter ab; befürworteten sie die „Bestrafung“, folgten die Versuchspersonen ihrem Beispiel.

Die meisten Probanden orientierten sich in dem Konflikt nicht an den Schmerzensschreien der vermeintlich von ihnen Gequälten, sondern an den Anordnungen einer Autorität, in diesem Fall des Versuchsleiters. Stanley Milgram bewies mit seinen Versuchsreihen, dass normale Amerikaner bereit sind, andere mit lebensgefährlichen Stromstößen zu „bestrafen“, wenn eine respektierte Person behauptet, dies sei zu experimentellen Zwecken erforderlich: „Gewöhnliche Bürger erhalten den Befehl, andere Menschen zu vernichten – und sie tun es, weil sie es als ihre Pflicht ansehen, Befehlen zu gehorchen.“ (Stanley Milgram: Das Milgram-Experiment)

Das Milgram-Experiment erregte großes Aufsehen. „The New York Times“ wurde am 26. Oktober 1963 mit einem Artikel darüber aufgemacht: „Sixty-five Percent in Test Blindly Obey Order to Inflict Pain“.

Im Sommer 1971 wollte Philip G. Zimbardo an der Stanford University in Palo Alto in einem sozialpsychologischen Versuch der Frage nachgehen, ob Humanität über Aggression siegt oder umgekehrt. Zu diesem Zweck ließ er auf dem Campus ein Gefängnis nachbauen und engagierte vierundzwanzig freiwillige Männer für das Experiment, das zwei Wochen lang laufen sollte (Stanford Prison Experiment). Doch es musste bereits in der Nacht auf den sechsten Tag abgebrochen werden, weil es aufgrund von Realitätsverlusten, psychischen Zusammenbrüchen, sadistischen und sexuellen Übergriffen außer Kontrolle geriet. Mario Giordano wurde dadurch zu seinem Roman „Das Experiment Black Box“ inspiriert, der 2001 von Oliver Hirschbiegel verfilmt wurde:
„Das Experiment“.

2009 wiederholte der Sozialpsychologe Jerry M. Burger von der Santa Clara University in Kalifornien das Milgram-Experiment. Seine Ergebnisse bestätigen Stanley Milgram.

Im März 2010 wandelte Christophe Nick das Milgram-Experiment fürs Fernsehen ab: Bei France 2 forderte die Moderatorin Tania Young Freiwillige im Rahmen einer fiktiven Show dazu auf, einen Quiz-Kandidaten bei falschen Antworten mit Stromstößen zu bestrafen. Das Publikum im Saal wusste ebenso wenig wie die Testpersonen, dass der vermeintliche Kandidat von einem Schauspieler dargestellt wurde. Nur 16 von 80 Probanden, die den angeblichen Kandidaten zwar nicht sehen konnten, aber seine Schmerzensschreie hörten, brachen ihre Teilnahme vorzeitig ab. Die anderen 64 erhöhten die angezeigte Stromstärke selbst dann noch, wenn die Schmerzensschreie aufhörten und von dem „Kandidaten“ kein Lebenszeichen mehr zu hören war.

Literatur über das Milgram-Experiment

  • Hans B. Lüttke: Gehorsam und Gewissen. Die moralische Handlungskompetenz des Menschen aus Sicht des Milgram-Experimentes (Dissertation, Hagen 2002; Frankfurt/M 2003, 299 Seiten)
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005 / 2009 / 2010

Oliver Hirschbiegel: Das Experiment

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Javier Marías ist ein Klangvirtuose. "Dein Gesicht morgen" besteht wie ein Musikstück aus Themen, Wiederholungen, Variationen, Drehungen und Verschiebungen, weit ausgreifenden Figuren und Miniaturen.
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