Heinrich Mann : Professor Unrat

Professor Unrat
Professor Unrat Erstausgabe: Albert Langen Verlag, München 1905
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der verschrobene 57-jährige Gymnasiallehrer Raat redet sich ein, es sei seine Pflicht, die Schüler vor dem Umgang mit der "Barfußtänzerin" Rosa Fröhlich zu bewahren – und gerät dabei selbst in den Bann der erregenden Frau ...
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Kritik

Mit der 1905 veröffentlichten gesellschaftskritischen Satire "Professor Unrat" wurde Heinrich Mann berühmt. In dem – 1930 unter dem Titel "Der Blaue Engel" verfilmten – Roman wird der Anarchist hinter der Fassade des Tyrannen entlarvt.
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Der siebenundfünfzigjährige Gymnasiallehrer Raat ist Witwer. Nachdem sein Sohn viermal durchs Examen gefallen war und sich mit zwielichtigen Damen auf dem Marktplatz der Kleinstadt gezeigt hatte, trennte sich der spießige Vater von ihm. Seit 26 Jahren unterrichtet er am örtlichen Gymnasium, und seit mehreren Schülergenerationen kennt man den verschrobenen Professor unter dem Spitznamen „Unrat“. Er überspielt seine Verklemmtheit und Unsicherheit, indem er seine Schüler wie Erzfeinde behandelt; im Unterricht stellt er ihnen Fragen, die sie nicht beantworten können, und er ist ständig darauf aus, dem einen oder anderen ein Fehlverhalten nachzuweisen. Am liebsten würde der Gymnasiastenschreck seine autoritäre Herrschaft auch außerhalb des Klassenzimmers durchsetzen, zumal die Stadt voll ist von seinen ehemaligen Schülern.

Was in der Schule vorging, hatte für Unrat Ernst und Wirklichkeit des Lebens. Trägheit kam der Verderblichkeit eines unnützen Bürgers gleich, Unachtsamkeit und Lachen waren Widerstand gegen die Staatsgewalt, eine Knallerbse leitete Revolution ein, „versuchter Betrug“ entehrte für alle Zukunft.

Als seinen gefährlichsten Gegner in der Untersekunda, die er zur Zeit unterrichtet, identifiziert er den 17-jährigen Sohn des Konsuls Lohmann, der trotz seiner Intelligenz und Belesenheit zwei Klassen wiederholen musste, weil er sich gegen jede Unterdrückung auflehnt und lieber Gedichte schreibt, als für die Schule zu arbeiten. Lohmann schwärmt für Dora, die Frau des Konsuls Breetpoot, und es trifft ihn hart, als er erfährt, dass sie schwanger ist. Er fragt sich, wer der Vater ist. Konsul Breetpoot, Assessor Knust oder Leutnant von Gierschke? Während die Klasse eine Arbeit schreibt, meldet sich Lohmann: „Ich kann hier nicht mehr arbeiten, Herr Professor. Es riecht auffallend nach Unrat.“ Bevor Raat etwas erwidern kann, beschwert sich der Schüler Kieselack, der Sohn eines nachts arbeitenden Hafenbeamten: „Lohmann lässt einen nicht ruhig nachdenken, er sagt immer, hier riecht es nach Unrat.“ Außer sich vor Zorn packt Raat die beiden und zerrt sie in die Garderobe. „Ins Kabuff!“, schreit er.

In Lohmanns Aufsatzheft findet er eine „Huldigung an die hehre Künstlerin Fräulein Rosa Fröhlich“, ein Gedicht mit den Zeilen „Du bist verderbt bis in die Knochen, doch bist du ’ne große Künstlerin.“

Beim Krämer Dröge entdeckt Raat eine Ankündigung des Stadttheaters: Schillers „Wilhelm Tell“ wird aufgeführt. Raat setzt gerade zu der Frage an, ob eine Künstlerin namens Rosa Fröhlich zu den Mitwirkenden gehöre. Da zuckt er zurück: „Nach einer Schauspielerin fragen, in seiner eigenen Straße!“ Stattdessen geht er zum Stadttheater und wendet sich an den Kassierer. Der gesteht ihm, dass man mit Klassikern nichts verdienen könne, aber aufgrund des Pachtvertrags mit der Stadtverwaltung verpflichtet sei, sie hin und wieder zu spielen. Raat heuchelt, er sei daran interessiert, mit seiner Schulklasse „Die Jungfrau von Orléans“ zu besuchen, aber es komme auf die Hauptdarstellerin an, das müsse schon eine hervorragende Künstlerin wie Rosa Fröhlich sein. Den Namen hat der Kassierer noch nie gehört.

Eine Künstlerin Rosa Fröhlich, die sich Raats Macht entzieht, stellt für ihn eine Herausforderung dar. Plötzlich fällt ihm ein, dass ein Kollege neulich im Lehrerzimmer eine Tänzerin erwähnte, die mit bloßen Füßen auftritt. Sagte er nicht, sie heiße Rosa Fröhlich? Abends – Raats Haushälterin hat schon die Sperrkette vorgelegt – hält es ihn nicht mehr in seinem Zimmer: Er greift nach seinem Mantel und stürmt aus der Wohnung. Einige Straßen weiter folgt er zwei Arbeitern, die im „Blauen Engel“ verschwinden. Am Eingang hängt ein bunter Zettel, auf dem eine Abendunterhaltung mit Rosa Fröhlich angekündigt wird. Raat stürzt sich in die Gaststätte wie in einen Abgrund. Im Saal beschlägt seine Brille. Hilflos wendet er sich an den Wirt, er suche einen Schüler. Die jungen Herren sind im Hinterzimmer, erfährt er, aber er scheut sich, den vollen Saal zu durchqueren und fordert den Wirt auf, ihm den Gesuchten herauszubringen. Der hat wegen der vielen Gäste alle Hände voll zu tun und lehnt es ab. Raat landet auf einem freien Stuhl, der Wirt stellt ihm ein Glas Bier hin, und der Schultyrann, der glaubt, in eine Welt verschlagen zu sein, „die die Verneinung seiner selbst“ ist, starrt die aufreizend angezogene Sängerin an. Ob das die Künstlerin Rosa Fröhlich sei? Der Wirt bestätigt es. Da entdeckt Raat den Schüler Kieselack, der sich halbtot lacht über seinen kauzigen Lehrer in dieser Umgebung. Raat springt auf, stürzt nach vorne, wirft einem Matrosen den Grog um, soll das Getränk bezahlen, prallt gegen den Sammelteller einer korpulenten, „ungenügend bekleideten“ Frau, Münzen springen auf den Boden, und Raat bückt sich, um sie aufzuheben.

Da sind auch die Schüler Lohmann und Graf von Ertzum! Unversehens landet Raat in der Künstlergarderobe und wird von Rosa Fröhlich angesprochen. Er wirft ihr sogleich vor, seine Schüler zu verführen, rät ihr, die Stadt zu verlassen und droht mit der Polizei. Rosa lässt sich nicht einschüchtern und fragt zornig: „Sie haben sich woll vorhin noch nich lächerlich genug gemacht?“ Als die Dicke, mit der Raat vorhin zusammenstieß, nach ihrem Auftritt mit ihrem Mann in die Garderobe kommt, sagt Rosa zu dem Kollegenpaar: „Da sehn Sie sich man ’nen Herrn an, der uns bei der Polizei will verklagen.“ Guste Kiepert misst ihn von oben bis unten, und ihr Mann schimpft: „Radau hat hier doch woll bloß einer gemacht, was?“ Rosa beruhigt die beiden: „Er tut ja keinem was.“ Sie schenkt Raat ein Glas Wein aus einer von Lohmann spendierten Flasche ein.

Nachdem Raat den „Blauen Engel“ verlassen hat, kommen die Schüler Lohmann, Kieselack und von Ertzum wieder in die Künstlergarderobe. Der Graf, ein dummer 17-jähriger Junge, himmelt Rosa an, und als ihr ein Taschentuch auf den Boden fällt, läuft er auf allen vieren hin wie ein Hund und hebt es mit den Zähnen auf. Später erklärt er Lohmann: „Du musst nicht denken, dass ich so was ohne Absicht tue. Ich will ihr gradezu zeigen, dass sie trotz ihrer niedrigen Abkunft über mir steht, und dass ich sie ernstlich zu mir emporziehen will.“

Am nächsten Morgen in der Klasse macht sich Raat eifrig über Ovid her. Er befürchtet, die drei Schüler könnten die Klasse gegen ihn aufgewiegelt haben, aber Lohmann, von Ertzum und Kieselack verhalten sich ganz ruhig, denn sie rechnen damit, jeden Augenblick zum Schuldirektor gerufen zu werden.

Abends ist Raat vor den Schülern im „Blauen Engel“.

Lohmann durfte nicht bei ihr sitzen und Wein trinken: das war Aufruhr, Unrat ertrug es nicht. Weiter war ihm nichts bewusst.

Als Rosa in ihre Garderobe kommt und ihn dort sitzen sieht, neckt sie ihn: „Vielleicht kommen Sie nur wegen den ekligen Bengels …“ Raat stammelt: „In erster Linie – eigentlich nun wohl zwar – – ursprünglich …“ Guste fordert Raat auf, Rosa beim Umziehen zu helfen, und er tut, was sie ihm sagt, aber er weiß nicht, wie man ein Korsett richtig zuschnürt. Auf der Bühne singt Rosa Verse des Schülers Lohmann, aber die Leute wollen lieber etwas anderes hören. Zurück in der Garderobe möchte sie etwas trinken. „Wein?“, fragt Raat. Ja, so etwas Ähnliches: Sekt. Später macht sie ihn darauf aufmerksam, dass sie die beiden Blumensträuße, die ihr die Schüler geschenkt hatten, weggeworfen hat, und Raat sagt: „Liebes Fräulein, falls Sie der Blumensträuße und des Sektes nicht entraten mögen, sollen Sie sie von mir bekommen. Es ist nicht zulässig, dass Sie dieser Dinge durch Schüler teilhaftig werden.“

Von da an betrachtet Unrat es als seine Pflicht, jeden Abend im „Blauen Engel“ zu sein und vor Rosas Eintreffen in der Künstlergarderobe die Toilettengegenstände zu ordnen, die saubersten Unterröcke und Höschen herauszusuchen und die Flickwäsche beiseite zu legen.

Als er einmal auf dem Heimweg Lohmann, Kieselack und von Ertzum begegnet, begleitet er jeden von ihnen nach Hause, um sicher zu sein, dass sie sich nicht während seiner Abwesenheit mit Rosa treffen.

Zwei Lehrerkollegen, die Gerüchten nachgegangen sind und sich vergewissert haben, dass sich Raat mit Rosa Fröhlich in deren Garderobe trifft, sprechen ihn darauf an, aber er weist sie darauf hin, dass das nicht ihre Angelegenheit sei.

Als Kiepert einen finnischen Schiffskapitän in die Künstlergarderobe mitbringt, der Rosa kennen lernen möchte, wirft Raat ihn hinaus: „– merken Sie sich – denn also –, dass die Künstlerin Fröhlich unter meinem Schutz steht …“

Raat triumphiert: Er hat die Schüler besiegt und von Rosas Seite verdrängt. Die Sängerin möchte in einem guten Hotel speisen, in einem möblierten Apartment wohnen und hätte gern neue Kleider. Raat geht auf alle ihre Wünsche ein; von selbst fällt ihm allerdings nichts ein.

Der Schuldirektor stellt ihn zur Rede. Vergeblich. Und als Raats Wirtschafterin an Rosas Besuchen Anstoß nimmt, wirft er sie hinaus und stellt eine Magd aus dem „Blauen Engel“ ein, die „den Fleischerburschen, den Schornsteinfeger, den Gasmenschen und die ganze Straße“ in ihrem Zimmer empfängt. Die Schneiderin, die für Rosa arbeitet, weist Raat auf das Gerede der Leute hin, aber er kümmert sich nicht darum.

Der Flurhüter erstattet Anzeige, weil das Hünengrab im Wald mutwillig beschädigt wurde. Bei einer Gegenüberstellung identifiziert er Lohmann, Kieselack und von Ertzum als Übeltäter, und ein Gericht befasst sich mit der Angelegenheit. Als Raat aufgefordert wird, sich über die drei angeklagten Schüler zu äußern, lässt er sich zu einer Hasstirade hinreißen. Kieselack sagt aus, dass auch Rosa Fröhlich dabei war. Als Raat die Ehre der Künstlerin Rosa Fröhlich verteidigt, lacht das Publikum schallend. Sie wird in den Zeugenstand gerufen und gibt zu, die drei Schüler bei ihrem Ausflug begleitet zu haben.

Tagelang vermeidet Raat jeden Kontakt mit seiner Geliebten. Aus dem Schuldienst wird er entlassen. Aber als der Pastor ihm ins Gewissen redet, giftet er: „Sie haben die Künstlerin Fröhlich beleidigt. Die Dame steht unter meinem Schutz.“ Er wirft den Pastor hinaus und macht sich auf den Weg zu ihr. Er wolle sich keine Stunde mehr von ihr trennen, beteuert er und macht ihr einen Heiratsantrag.

Jetzt erst erfährt er, dass Rosa eine kleine Tochter hat. Aber es bleibt dabei: Das leichte Mädchen wird Frau Professor Raat.

Nach ein, zwei Jahren sind Raats Ersparnisse aufgebraucht und er weiß nicht mehr, wie er die eingehenden Rechnungen bezahlen soll. Rosas zwielichtige Freundin Pielemann meint, dann müsse der pensionierte Lehrer eben Unterrichtsstunden geben, und sie schickt ihm gleich ihren Freund vorbei, den Weinhändler Lorenzen: der verkaufe griechische Weine, also solle er auch Griechisch lernen. Die Unterrichtsstunden entwickeln sich bald zu Trink- und Spielstunden, zu denen nach und nach auch Konsul Breetpoot und andere angesehene Bürger der Stadt erscheinen. Mit einigen der Herren lässt Rosa sich ein, aber so vorsichtig, dass niemand etwas Genaues sagen kann. Sie betreibt den Ehebruch „mit all der Umsicht und dem ganzen Zeremoniell der im Ernst verheirateten Frau …“

Vor einem Schaufenster wird sie eines Tages von Lohmann angesprochen, der zwei Jahre lang fort war, auf der Handelsschule in Brüssel und als Volontär bei einem Geschäftsfreund seines Vaters in England. Sie lädt den jungen Mann in ihre Wohnung ein, und er wird bei seinem Besuch Zeuge, wie ein Gläubiger sein Geld verlangt. Generös bezahlt Lohmann die Rechnung und bietet Rosa an, auch die übrigen Schulden zu übernehmen. Er versichert: „Ich bezahle keine Frauen, weil ich mich nicht selber demütigen möchte.“ Aber er legt seine aufgeklappte Brieftasche auf den Tisch, um ihr die Wahl zu lassen. Rosa erinnert sich an Lohmanns Gedicht, das sie damals mit wenig Erfolg im „Blauen Engel“ vortrug, und singt es ihrem Besucher vor. Da stößt ihr Mann keuchend die Tür auf, packt sie und drückt ihr die Kehle zu. Dann greift er sich die herumliegende Brieftasche und stürzt hinaus.

Eine Stunde später wird das Ehepaar Raat verhaftet. Der Krämer Dröge bespritzt Raat mit einem Gartenschlauch, und der Bierkutscher Kieselack ruft: „Eine Fuhre Unrat!“

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Der verschrobene siebenundfünfzigjährige Gymnasiallehrer Raat, ein Repräsentant des wilhelminischen Obrigkeitsstaates, redet sich ein, es sei seine Pflicht, die Schüler vor dem Umgang mit der „Künstlerin“ Rosa Fröhlich zu bewahren – und gerät selbst in den Bann der Frau, deren Lebenseinstellung seiner eigenen diametral widerspricht. Die Verstrickung bringt den Anarchisten hinter der Fassade des Tyrannen zum Vorschein. Die Affäre sorgt für Gerede in der Kleinstadt; aber einige der Heuchler widerstehen der Verlockung nicht und beteiligen sich an den freizügigen Gesellschaften des ungleichen Paares. Am Ende dient ihnen Professor Unrat als Sündenbock.

Mit dieser 1905 veröffentlichten gesellschaftskritischen Satire wurde Heinrich Mann berühmt. Während des Ersten Weltkrieges meinte er: „Ein Reich, das einzig auf Gewalt bestanden hat und nicht auf Freiheit, Gerechtigkeit und Wahrheit, ein Reich, in dem nur befohlen und gehortet, verdient und ausgebeutet, der Mensch aber nicht geachtet wird, kann nicht siegen.“ Gut zwei Jahrzehnte später schrieb ihm sein Bruder Thomas Mann: „Vor einem Menschenalter, lieber Bruder, gabst du uns den Mythos vom Professor Unrat. Hitler ist kein Professor – weit davon. Aber Unrat ist er, nichts als Unrat, und wird bald ein Kehricht der Geschichte sein. Wenn du, wie ich vertraue, die organische Geduld hast, auszuharren, so werden deine alten Augen sehen, was du in kühner Jugend beschriebst: das Ende eines Tyrannen.“

Josef von Sternberg verfilmte den Roman „Professor Unrat“ mit Marlene Dietrich unter dem Titel „Der blaue Engel“.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002
Textauszüge: © Claasen Verlag, Hamburg

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