Marie Luise Kaschnitz : Der Strohhalm

Der Strohhalm
Der Strohhalm Erstveröffentlichung: 1959 In: "Lange Schatten" Claassen Verlag, Hamburg 1960 Erzählungen ausgewählt von Ulla Hahn Bibliothek des 20. Jahrhunderts Hg.: Walter Jens und Marcel Reich-Ranicki Deutscher Bücherbund, Stuttgart / München, o. J.
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Durch Zufall findet die Ich-Erzählerin in einem Buch ihres Mannes einen Liebesbrief. Offenbar betrügt er sie. Die junge Frau will sich nichts anmerken lassen, aber sie kann ihre Verstimmung nicht verbergen ...
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Kritik

Marie Luise Kaschnitz veranschaulicht die subtilen psychologischen Vorgänge auf sehr prägnante Weise und verzichtet in der eindringlichen Erzählung "Der Strohhalm" auf jedes überflüssige Wort.
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Kurz vor zwölf Uhr mittags habe ich den Brief gefunden. Ich habe ihn wirklich gefunden, nicht danach gesucht, ihn nicht beim Anzugbürsten aus der Tasche geholt. Er hat aus einem Buch hervorgeschaut, und das Buch hat nicht auf Felix‘ Nachttisch gelegen, sondern auf dem Tisch im Wohnzimmer, auf dem immer die Zeitungen liegen und der jedermann zugänglich ist. Ich habe auch nicht den ganzen Brief gelesen, sondern nur die ersten paar Worte: So große Sehnsucht hab‘ ich nach dir, geliebtes Herz. Diese Worte habe ich zuerst gar nicht verstanden, ich habe überhaupt nur die Schrift ansehen wollen, eine freie Schrift mit großen, schönen Unterlängen und manchmal Abständen zwischen den Buchstaben, kontaktscheu bedeutet das, habe ich gedacht, und dann habe ich überhaupt erst begriffen, was da stand, und ich habe lachen müssen, obwohl es natürlich gar nichts zu lachen gab. Auf den Gedanken, dass der Brief an den Felix gerichtet sein könnte, bin ich erst nach einigen Augenblicken gekommen. Ich habe danach nicht weitergelesen, nur noch bis zum Ende der Seite […]

Die Ich-Erzählerin geht in die Küche und beginnt, das Mittagessen vorzubereiten, aber sie kommt in ihren Gedanken nicht von dem Brief los und überlegt, wie sie sich verhalten soll, wenn ihr Ehemann Felix gleich zum Essen nach Hause kommt. Sie beschließt, nichts zu sagen und „glückliche junge Frau“ zu spielen. Ausnahmsweise verspätet er sich.

Vielleicht […] weil er noch mit ihr zusammen in einer Bar saß und etwas trank, und gerade jetzt vielleicht schaute er auf die Uhr und sagte: Es ist halb zwei vorbei, sie wartet, ich muss nach Hause.
Sie wartet, habe ich gedacht. Sie, das bin ich. […] Ich bin die dritte Person. […]

Felix ruft an: Er könne nicht zum Mittagessen kommen. Obwohl sie sich vorgenommen hat, „glückliche junge Frau“ zu spielen, gelingt es ihr nicht, ihre Verstimmung zu verbergen, aber seinen besorgten Fragen weicht sie aus.

Als sie den Brief nochmals liest, diesmal bis zum Ende, stellt sie fest, dass er gar nicht an ihren Mann gerichtet ist, sondern an einen gewissen Franz Kopf, der den Brief offenbar in einem an Felix ausgeliehenen Buch über Betriebswirtschaftslehre vergessen hat.

[…] und eigentlich hätte ich jetzt doch herumspringen und lachen und singen müssen, aber keineswegs. Ich habe dagesessen und gestiert, und es ist mir gewesen, als sei ich in einen tiefen Brunnen gefallen und sei nun im Begriff, wieder herauszuklettern, aber komisch, ich komme nicht ganz bis oben hin, und es wird nicht wieder ganz hell.

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Mitten im Alltag wird eine junge Frau damit konfrontiert, dass sie ihrem Mann misstraut. Auch als sich herausstellt, dass sie es zu Unrecht tut, bleibt etwas zurück: Ihr Verhältnis wird nie wieder so sein, wie es einmal war.

Marie Luise Kaschnitz veranschaulicht die psychologischen Vorgänge nuanciert, prägnant und nachvollziehbar. Sie verzichtet in der eindringlichen Erzählung auf jedes überflüssige Wort.

Marie Luise von Holzing-Berstett wurde am 31. Januar 1901 als Tochter eines Offiziers in Karlsruhe geboren. Im Alter von dreiundzwanzig Jahren fing sie in Rom als Buchhändlerin zu arbeiten an und lernte dort den zehn Jahre älteren österreichischen Archäologen Guido Freiherr von Kaschnitz-Weinberg kennen. Sie heirateten im Jahr darauf. Ihre einzige Tochter kam 1928 zur Welt. Als ihr Mann 1958 nach zweijähriger Krankheit an einem Gehirntumor starb, fiel es Marie Luise Kaschnitz schwer, über den Verlust hinwegzukommen.

Seit Ende der Zwanzigerjahre schrieb sie Lyrik und Prosa. 1955 erhielt sie den Georg-Büchner-Preis und zwölf Jahre später den Orden Pour le Mérite, um nur zwei ihrer Auszeichnungen zu erwähnen.

Marie Luise Kaschnitz starb am 10. Oktober 1974, während eines Besuchs bei ihrer Tochter Iris Constanza in Rom.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2003
Textauszüge: © Claassen Verlag

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