Karl und Theo Albrecht


Karl Albrecht wurde am 20. Februar 1920 geboren, sein Bruder Theodor Paul (»Theo«) Albrecht am 13. oder 28. März 1922, vermutlich in Essen, wo ihre Mutter seit 1913 einen 35 Quadratmeter kleinen Lebensmittelladen im Arbeiterviertel Schonnebeck führte. Der Vater der beiden Jungen hatte als Ruhrkumpel gearbeitet, bis er wegen seiner Staublunge nicht mehr konnte und stattdessen Hilfsarbeiten in einer Brotfabrik übernahm. Während Karl nach der Mittelschule eine kaufmännische Ausbildung in einem Feinkostgeschäft in Essen absolvierte, half sein zwei Jahre jüngerer Bruder Theo der Mutter im Laden und lernte dabei, wie man ein Geschäft führt.

Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs mussten beide Brüder zur Wehrmacht. Karl Albrecht wurde an der Ostfront verwundet; Theo Albrecht kam zu einer Nachschubeinheit in Nordafrika und geriet in amerikanische Kriegsgefangenschaft.

1946 übernahmen Karl und Theo Albrecht den »Tante-Emma-Laden« der Mutter, in dem die Kunden vor der Ladentheke standen, während die gewünschten Mengen beispielsweise von Zucker oder Rosinen für sie abgewogen wurden. (Abgepackte Ware gab es damals noch nicht.) Als nach der Währungsreform am 21. Juni 1948 die Wirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland aufblühte, gründeten die Brüder das Unternehmen »Albrecht Discount« und eröffneten bis 1950 im Ruhrgebiet dreizehn Läden. Fünf Jahre später überschritt die Anzahl ihrer Geschäfte die Marke 100, und 1960 waren es bereits 300.

Der Erfolg beruhte auf der riskanten Umsetzung einer radikalen Idee: Während Bernhard Müller am 4. Juni 1949 in Augsburg das erste Lebensmittelgeschäft mit Selbstbedienung einführte, gingen Karl und Theo Albrecht gleich einen Schritt weiter und präsentierten ihr Warenangebot nicht nach verkaufspsychologischen Erkenntnissen in Regalen, sondern stellten die angelieferten Paletten einfach auf den Fußboden und schnitten gerade einmal die Umkartons auf, damit die Kunden die abgepackte Ware – beispielsweise 1 Kilogramm Mehl – herausnehmen konnten.

Dekorationen gab es ebensowenig wie Verkäufer. Unverkleidete Neonröhren an der Decke sorgten für ausreichend Licht. Da die Albrechts kein Geld für Kühltruhen ausgeben wollten, verzichteten sie auf Frischfleisch und andere Lebensmittel, die sich nicht ohne Kühlung aufbewahren ließen – mit Ausnahme von Butter, die sie angeblich unter dem Einstandspreis anboten, um Kunden anzulocken. Dabei musste die Butter zumindest im Sommer jeden Tag nach Geschäftsschluss in den Keller und jeden Morgen wieder in den Laden getragen werden. Karl und Theo Albrecht beschränkten das Sortiment auf verhältnismäßig wenige Artikel und wählten dafür die mit dem größten Umsatzpotenzial aus (so genannte »Schnelldreher«). Aufgrund der großen Mengen, die sie abnahmen, konnten sie besonders günstig einkaufen. Die Kostenvorteile, die sich daraus ergaben, ermöglichten es ihnen, die Lebensmittel das ganze Jahr über zu Preisen anzubieten, die von der Konkurrenz allenfalls bei Aktionen unterboten werden konnten. Mit diesem Konzept hatten Theo und Karl Albrecht den so genannten Discounter erfunden.

Auf einer Tagung des Lebensmittelverbandes hielt Karl Albrecht 1953 ein Referat unter dem Titel »Unsere ganze Werbung liegt im billigen Preis«. Damit setzten die Albrechts sich vor allem gegen die Konsumgenossenschaften durch. Dabei handelte es sich um Zusammenschlüsse, die ihre in Produktionsbetrieben und Einzelhandelsgeschäften erzielten Gewinne in Form von nachträglichen Rabatten für die Mitglieder ausschütteten, aufgrund des 1933 erlassenen Rabattgesetzes allerdings höchstens 3 Prozent. Bei »Albrecht Discount« brauchten die Kunden keine Rabattmarken zu sammeln, sondern sie erhielten den Preisnachlass – den Discount – gleich beim Einkauf.

Zu Beginn der Sechzigerjahre wurde aus »Albrecht Discount« »ALDI«, und die Brüder teilten das Gesamtunternehmen auf: Karl Albrecht kümmerte sich um das Geschäft in Süddeutschland, Theo Albrecht übernahm die Geschäfte im Norden. Die Grenze zwischen ALDI Süd und ALDI Nord – der »ALDI-Äquator« – verläuft von der Ruhrmündung nach Fulda, und die Filialen in den neuen Bundesländern gehören fast ausnahmslos zu ALDI Nord.

Als Theo Albrecht am 29. November 1971 gegen 18.15 Uhr sein Büro verließ, wurde er auf dem Parkplatz von zwei Männern überfallen und entführt. Sie waren durch das Buch »Die Reichen und die Superreichen in Deutschland« von Michael Jungblut (Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1971) auf ihn aufmerksam geworden, aber er soll einen so billigen Anzug getragen haben, dass die Kidnapper zunächst bezweifelten, ob sie den Richtigen in ihre Gewalt gebracht hatten und sich deshalb seinen Personalausweis zeigen ließen.

Nachdem der als Vermittler eingeschaltete Ruhrbischof Franz Hengsbach (1910 – 1991) den Verbrechern auf einem Parkplatz 7 Millionen D-Mark Lösegeld übergeben hatte – die bis dahin höchste Lösegeldsumme in Deutschland –, kam Theo Albrecht am 16. Dezember wieder frei. Aus diesem Anlass entstand eines der zwei oder drei von ihm jemals veröffentlichten Fotos. Es wurde aufgenommen, als er den Reportern nach seiner Freilassung zurief: »Ich hoffe, dass der Rummel beendet ist.«

Die Täter – der Rechtsanwalt Hans Joachim Ollenburg und dessen Komplize Paul Kron (»Diamantenpaule«) – wurden bald darauf gefasst und 1973 vom Landgericht Essen zu je achteinhalb Jahren Haft verurteilt. Aber fast die Hälfte des Lösegelds blieb verschwunden.

In den ersten Jahrzehnten mieden Hausfrauen, die es sich leisten konnten, die spartanischen Läden. In den Achtzigerjahren gelang es jedoch nicht nur der japanischen Kamera- und Autoindustrie, das Image eines Billiganbieters minderwertiger Waren loszuwerden; auch die Einstellung gegenüber ALDI änderte sich von Grund auf, nicht zuletzt, weil die Stiftung Warentest von ALDI angebotene Produkte als gut oder sehr gut beurteilte und Artikel, die weniger gut abschnitten, ausgelistet wurden. Gute Qualität für wenig Geld erwartet man seither von ALDI, und das Unternehmen verspricht: »Qualität ganz oben – Preis ganz unten«. Umso erstaunlicher ist, dass ALDI eine Umsatzrendite von schätzungweise 3,5 bis 5 Prozent erwirtschaftet – fünfmal so viel wie durchschnittlich im deutschen Lebensmitteleinzelhandel verdient wird. Das kann nur bedeuten, dass ALDI die Kosten minimiert hat.

Zum bei ALDI Süd aus 600, bei ALDI Nord aus 750 Artikeln bestehenden Sortiment gehören inzwischen auch Obst, Gemüse und Tiefkühlprodukte. Mit dem Ziel, weitere Kunden zu gewinnen, begann ALDI Anfang der Neunzigerjahre, so genannte Smart Shoppers mit Sonderangeboten von Nonfood-Produkten anzulocken. Für diesen Zweck ließ das Unternehmen 1997 erstmals einen »ALDI-PC« herstellen und bot die Geräte in einer Aktion weit unter den üblichen Preisen an. Die Nachfrage war so enorm, dass die Interessenten ab 6 Uhr morgens anstanden und sich mitunter um die Computer prügelten. Im November 1997 zwang ein Kunde in Rielasingen-Worblingen am Bodensee einen anderen, der im Gegensatz zu ihm noch einen PC ergattert hatte, mit vorgehaltener Pistole, ihm das Gerät zu überlassen. Zwölf mit schusssicheren Westen ausgerüstete Polizisten rückten an und überwältigten den Mann, wobei sich herausstellte, dass es sich bei der Waffe nur um eine Schreckschusspistole handelte.

Weder Karl noch Theo Albrecht nahm je eine Werbeagentur unter Vertrag, sondern sie beschränkten sich auf im Haus gestaltete Handzettel und Zeitungsanzeigen, in denen sie ohne Slogans und »Eye Catcher« auf Produkte und Preise hinwiesen (»ALDI informiert«). Ebenso wenig wie von Werbeagenturen hielten die Albrechts von externen Marktforschern und Unternehmensberatern. »Die Ideen der Menschen, die an der Front die Arbeit leisten, gehören auf den Tisch und müssen sortiert und kanalisiert werden«, erläutert Dieter Brandes, ein ehemaliger Geschäftsführer von ALDI Nord. »Da kann ein Berater vielleicht nützlich sein, indem er mal Salz in die Wunde streut oder einen Konflikt moderiert. Aber das braucht keine Armeen von dreißigjährigen Harvard-Absolventen, die erst die Komplexität ins Unternehmen bringen, um sie nachher bewältigen zu helfen.« Karl und Theo Albrecht kam es darauf an, nicht nur das Warenangebot, sondern auch die Organisation und die Abläufe konsequent einfach zu halten und alles Überflüssige zu unterlassen. »ALDI ist ein Meister des Verzichts« (Dieter Brandes). Es gibt weder eine PR- noch eine Presseabteilung, kein Marketing und kein Controlling, überhaupt kaum Stabsfunktionen. Während das weltgrößte Handelsunternehmen – Wal*Mart – gigantische Computersysteme aufbaute, um jede irgendwo in der Welt über die Scanner-Kasse einer Filiale gezogene Dose Cola registrieren und die Datenflut analysieren zu können, minimierte ALDI von Anfang von den Einsatz von EDV (Elektronische Datenverarbeitung) bzw. IT (Informationstechnologie) und vermied jeden Zahlenfriedhof. »Mit der EDV erleichtert man bei ALDI alle notwendigen Abläufe. Man verzichtet aber darauf, die EDV zu nutzen, um massenhaft Informationen zu sammeln, die den Wald vor lauter Bäumen unsichtbar machen.« (Dieter Brandes)

Die Kassiererinnen und Kassierer bei ALDI Nord mussten eine dreistellige PLU-Nummer (Price Look Up) eingeben, und ihre Kolleginnen und Kollegen im Süden tippten mit einer unglaublichen Geschwindigkeit auswendig die Preise ein. Erst im 21. Jahrhundert führte ALDI Scanner-Kassen ein – und verlangte von den Lieferanten zugleich, die EAN-Barcodes auf alle Seiten zu drucken, damit an der Kasse nicht danach gesucht werden musste. Die Bezahlung mit der EC-Karte ist bei ALDI seit 2005 möglich.

Das Wort »Aldisierung« wurde 2005 in der deutschsprachigen Schweiz zum Wort des Jahres gewählt. Einkaufen bei ALDI bekam Kultcharakter: Fan-Klubs entstanden, die Band »Till und Obel« nahm das »Lied für ALDI-Versessene« auf, und mehrere Bücher erschienen über das Unternehmen, das inzwischen weltweit tausende von Filialen betreibt, die Hälfte davon in Deutschland, wo einer McKinsey-Studie zufolge stärker als in England oder Frankreich auf die Preise geachtet wird.

Aufgrund des Erfolgs wurde die Idee der Gebrüder Albrecht nicht nur im Lebensmitteleinzelhandel nachgeahmt (Lidl, Plus, Penny), sondern auch auf andere Branchen übertragen, beispielsweise auf Drogerieketten (Schlecker, DM, Rossmann). Als die Bevölkerung in Deutschland in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre anfing, sich Sorgen über die Zukunft zu machen – Stichworte: Arbeitslosigkeit, Renten, Gesundheitssystem, sinkende Realeinkommen –, wurde beim Einkaufen noch mehr als zuvor auf den Preis geachtet. Das war die Stunde der Discounter, die ihren Marktanteil auf Kosten vor allem kleiner Supermärkte bis 2006 auf 41 Prozent ausbauten.

Andere Händler überlegten, was Discounter nicht bieten und zogen in Einkaufszentren, wo Kaufhäuser, Fachgeschäfte, Cafés, Eisdielen, Restaurants und Kinos das Einkaufen – anders als beim Discounter – zum Erlebnis machen. Die Kunden sind häufig dieselben: Nachdem sie bei ALDI ein paar Lebensmittel und einen preiswerten Riesling fürs Abendessen gekauft haben, fahren sie mit ihrem BMW ins Einkaufszentrum, buchen dort in einem Reisebüro eine luxuriöse Kreuzfahrt, entspannen sich in einem Straßencafé der »Shopping Mall« bei einem Latte macchiatto und nehmen zum Schluss im Delikatessengeschäft zwei Steinbuttfilets mit.

Theo Albrecht überließ die operative Führung von ALDI Nord ab 1993 Managern wie Hartmuth Wiesemann. (Seine im Unternehmen tätigen Söhne Theo und Berthold kamen nicht an die Spitze.) Ein paar Monate später zog sich auch Karl Albrecht aus dem Verwaltungsrat von ALDI Süd zurück, aber aus gesundheitlichen Gründen übernahm nicht sein gleichnamiger Sohn die Geschäftsleitung, sondern sie wurde den beiden Managern Ulrich Wolters und Horst Steinfeld anvertraut.

Die Albrechts hatten sich von Anfang an mit öffentlichen Auftritten zurückgehalten, aber die Entführung Theos bestärkte sie darin, keine Interviews zu geben, sich nicht fotografieren zu lassen und das Privatleben rigoros abzuschirmen. So kommt es, dass nicht einmal bekannt ist, wo die beiden Geheimniskrämer wohnen. Im Ruhrgebiet, behaupten die einen, sind sich aber nicht sicher, ob in Essen oder in Mülheim, andere vermuten Theo Albrecht auf Föhr und Karl Albrecht in der Schweiz. Sicher ist, dass der begeisterte Golfspieler Karl Albrecht in der zweiten Hälfte der Siebzigerjahre den »Öschberghof« in Donaueschingen errichten ließ, ein Luxushotel mit dem damals größten Golfplatz Deutschlands. Auch wenn die Höhe der Vermögen von Theo und Karl Albrecht nur geschätzt werden kann – es sind ungefähr 15 Milliarden Dollar pro Person – und das Geld längst in zwei Familienstiftungen geflossen ist, gehören die Brüder gewiss zu den Reichsten der Welt. Trotzdem sollen sie noch sparsamer als ihre Kunden sein. Man erzählt sich, dass Theo Albrecht auch die Rückseite von Papierblättern beschreibt und nach der Umstellung von vier- auf fünfstellige Postleitzahlen am 1. Juli 1993 noch jahrelang seinen Bestand an alten Briefkuverts aufbrauchte.

Theo Albrecht starb am 24. Juli 2010 in Essen nach monatelanger Krankheit im Alter von 88 Jahren.

Karl Albrecht junior, ein Neffe des Verstorbenen, soll mit Unterstützung seines Vaters an einer Biografie über ihn arbeiten, die zugleich eine Firmenchronik beinhaltet. Außerdem heißt es, dass zumindest ALDI Nord dabei sei, die jahrzehntelange Skepsis gegenüber Public Relations zu überdenken.

Karl Albrecht starb am 16. Juli 2014 in Essen. Er wurde 94 Jahre alt.

Literatur über ALDI (Auswahl)

  • Dieter Brandes: Konsequent einfach. Die ALDI-Erfolgsstory (Frankfurt/M 1998)
  • Dieter Brandes: Die 11 Geheimnisse des ALDI-Erfolgs (Frankfurt/M 2003)
  • Sonja Carlsson, Wolfgang Elsner und Gerhard Hörner: Das große ALDI-Diät-Buch. Schlank und fit auf preiswerte Art (Berlin 2004)
  • Walter A. Drössler: Aldikatessen. 100 leckere Rezepte für den kleinen Geldbeutel (Bindlach 2005)
  • Wolfgang Fritz: Die Aldisierung der Gesellschaft. Eine ökonomische Perspektive (Braunschweig 2005)
  • Hannes Hintermeier: Die ALDI-Welt. Nachforschungen im Reich der Discount-Milliardäre (München1998)
  • Franz Kotteder: Die Billig-Lüge. Die Tricks und Machenschaften der Discounter
    (München 2005)
  • Franz Kotteder: Die ALDI-Lüge (München 2005)
  • Christine und Harald Lüders: Im Armani zum Aldi. Das Sparbuch für Lebenskünstler und Genießer (Frankfurt 2003)
  • Astrid Paprotta und Regina Schneider: Aldidente. 30 Tage preiswert schlemmen (Frankfurt/M 1996; unter dem Titel „Aldidente“ veröffentlichte der Eichborn Verlag eine ganze Buchreihe)
  • Martina Schneider: Aldi. Welche Marke steckt dahinter? 100 Aldi-Top-Artikel und ihre prominenten Hersteller (München, 2005)
  • Barbara Voll-Peters: Gesundheit mit ALDI. Rezeptfreie Produkte aus dem Supermarkt (2005)

© Dieter Wunderlich 2006 / 2014

Marta Karlweis - Schwindel
Marta Karlweis verzichtet auf eine Identifikationsperson und entwickelt die figurenreiche Geschichte nicht kontinuierlich fließend, sondern in 22 Skizzen. Obwohl sie sich am Verismus orientiert und ihre Sprache knapp ist, blitzen groteske Überzeichnungen auf.
Schwindel