Fleur Jaeggy : Die seligen Jahre der Züchtigung

Die seligen Jahre der Züchtigung
Originalausgabe: I beati anni del castigo Adelphi edizioni, Mailand 1989 Die seligen Jahre der Züchtigung Übersetzung: Barbara Schaden Berlin Verlag, Berlin 1996
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die namenlose Ich-Erzählerin erinnert sich an die Zeit, die sie in wechselnden Internaten in der Schweiz verbrachte und vor allem an eine gut ein Jahr ältere Freundin, die sie dort hatte, eine Respekt einflößende, ordnungsliebende, disziplinierte und ausgezeichnete Schülerin.
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Kritik

"Ich wollte eine Heranwachsende zeigen, die einem Wahn erliegt", schrieb Fleur Jaeggy über "Die seligen Jahre der Züchtigung". Es handelt sich um eine ebenso spröde wie eindrucksvolle Novelle in einer lapidaren, nüchternen Sprache.
Jaeggy wurde in Zürich geboren, lebt aber seit 1968 in Mailand und schreibt in italienischer Sprache.

Die Ich-Erzählerin – sie ersetzt ihren Namen durch ein X –, lebte als Kind bei einer ihrer beiden Großmütter, bis diese ihre Wildheit nicht mehr ertrug und sie vom achten Lebensjahr an in Internaten erzogen wurde. Die Ferien verbrachte sie reihum bei Familienmitgliedern, hin und wieder auch bei ihrem Vater in einem Hotel in der Schweiz. Ihre Mutter schickte den Internatsleiterinnen von Brasilien aus Briefe, in denen sie darum bat, X mit deutschen Mädchen zusammenzubringen, denn sie sollte diese Sprache üben.

Eine gute Schülerin war die Erzählerin nicht; sie hatte keine Lust, zu lernen, ging lieber morgens um fünf allein spazieren, wenn die anderen noch schliefen, hob Reproduktionen deutscher Expressionisten auf und schnitt Zeitungsartikel über Verbrechen aus.

Mit vierzehn war sie in einem Internat im Appenzell, im Bausler-Institut, dessen Schülerinnen aus verschiedenen Ländern stammten. Auch eine Afrikanerin war darunter, die Tochter eines Staatspräsidenten.

Eines Tages kam eine neue Schülerin ins Internat. Frédérique war fast sechzehn und zum ersten Mal in einem Internat. Ihr Vater arbeitete als Bankier in Genf. Das schöne, intelligente Mädchen gab nie einer Laune nach; sie verhielt sich disziplinert und ordnungsliebend. Den Mitschülerinnen begegnete sie zwar freundlich, aber sie blieb distanziert. Sympathie erweckte sie keine; man ging ihr respektvoll aus dem Weg. Im Unterricht erwies sie sich rasch als Beste.

Die Erzählerin wollte Frédérique erobern, und es gelang ihr auch, von ihr beachtet zu werden, mit ihr lange Gespräche zu führen, bei denen sie sich allerdings anstrengen musste, um Frédériques Ausführungen folgen zu können. Obwohl die beiden auch von Frau Hofstetter, der Institutsleiterin, für Freundinnen gehalten wurden, wechselten sie nie ein Wort der Zuneigung; zur Begrüßung oder zum Abschied gaben sie sich weder die Hand, noch umarmten oder küssten sie sich.

Dann kam wieder eine Neue: Eine rothaarige Belgierin namens Micheline, ein fröhliches und kontaktfreudiges Mädchen, das vom Leben vor allem Kurzweil erwartete und sich mit der Erzählerin befreundete.

Micheline war in ihre eigene Schönheit verliebt, sie trug sie zur Schau wie ein exotischer Vogel. (Seite 73)

Aufgrund ihrer neuen Freundschaft vernachlässigte die Erzählerin Frédérique. Immer wieder nahm sie sich vor, das zu ändern. Dann war es plötzlich zu spät: Frédériques Vater war gestorben, und sie verließ das Internat. X begleitete sie und ihre Mutter zum Bahnhof von Teufen und verabschiedete sich dort. Sie ahnte, dass Frédérique ihr nie schreiben würde. Aber bei der Postverteilung im Internat passte sie jedes Mal auf, ob nicht doch ein Brief von ihr dabei war.

Ich wusste, dass Frédérique nicht schreiben würde. Aber ich beharrte darauf, die Traurigkeit ganz auszukosten, wie zum Trotz. Die Lust der Enttäuschung. Sie war mir nicht neu. Ich schätzte sie, seitdem ich acht gewesen war und zum erstenmal Internatsschülerin, im Kloster. Und vielleicht waren das die schönsten Jahre, dachte ich. Die Jahre der Züchtigung. Eine Spur von Exaltiertheit, leicht, aber beständig, liegt darin, in diesen Jahren, den seligen Jahren der Züchtigung. (Seite 86)

Schließlich war die Zeit in dem Appenzeller Internat zu Ende. Die Erzählerin fuhr mit der Bahn zu ihrem Vater, der sie in Zürich vom Zug abholte und mit ins Hotel nahm, wo er wohnte. Im Jahr darauf erfuhr sie, dass Frau Hofstetter, ihr Mann und einer ihrer Söhne bei einem Autounfall im Appenzell umgekommen waren.

Sie besuchte noch eine Haushaltsschule in einem Klosterinternat. Erst als sie achtzehn wurde, endete das Internatsleben für sie. Micheline lud ihre fünfzehn früheren Schulfreundinnen aus dem Bausler-Institut anlässlich ihres achtzehnten Geburtstags zu einem Ball ein. Da tanzten sie alle mit Michelines Vater, und er machte ihnen den Hof, wie seine Tochter angekündigt hatte. Auch Marion kam zu dem Ball, obwohl sie Trauerkleidung trug, weil ihre Eltern bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen waren.

Ungefähr ein Jahr später trafen sich Frédérique und die Erzählerin zufällig in einem Kino wieder. X begleitete ihre frühere Freundin nach Hause. Sie wohnte ganz oben in einem Bürogebäude und war nachts völlig allein in dem Haus. Toilette und Waschbecken befanden sich im Korridor, und das Zimmer war spartanisch.

Ich befinde mich in einem in die Leere gemeißelten Zimmer. Ich spüre die Eiseskälte. Es ist ein Rechteck mit einem Fenster am Ende und vergilbten Wänden. […] Von der Decke hing eine Glühbirne herab. Sie bot mir den einzigen Stuhl an. Unter der Birne. […] Sie sitzt auf einer Couch, auf einem Bett, das genauso gut aus Stein sein könnte, ohne Falten.(Seite 106f)

Einmal besuchte die Erzählerin Frédériques etwa siebzig Jahre alte Mutter in Genf und erfuhr, dass ihre frühere Freundin versucht hatte, das Haus anzuzünden, obwohl ihre Mutter im Salon gelesen hatte.

Zwanzig Jahre später erhielt die Erzählerin unvermittelt einen Brief von Frédérique.

Nach zwanzig Jahren schrieb sie mir einen Brief. Ihre Mutter habe ihr etwas hinterlassen, wovon sie leben könne. Aber im Irrenhaus sei sie lange genug Gast gewesen, wenn es so weitergehe, werde sie den Friedhof vorziehen. (Seite 119)

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Textauszüge: © Berlin Verlag

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