Thomas Hettche : Pfaueninsel

Pfaueninsel
Pfaueninsel Originalausgabe: Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014 ISBN: 978-3-462-04599-4, 350 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

1806 wird das kleinwüchsige verwaiste Geschwisterpaar Marie und Christian Strakon auf die Pfaueninsel gebracht. Sie wachsen dort zusammen mit den drei Neffen des Königlichen Hofgärtners Ferdinand Fintelmann auf. Marie liebt Gustav Fintelmann, der 1834 seinen Onkel in der Leitung der inzwischen geschaffenen Park- und Gartenanlagen, des Palmenhauses und der Menagerie ablösen wird. Er schwängert Marie, hält es jedoch für ausgeschlossen, eine "Zwergin" zu heiraten und lässt das Kind zu Pflegeeltern bringen ...
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Kritik

In dem Roman "Pfaueninsel" be­schäf­tigt sich Thomas Hettche mit dem Gegensatz zwischen Natur und Zivilisation. In der spröden, histori­sie­renden Darstellung verbindet er eine fiktive, teilweise märchenhafte Geschichte mit historischen Figuren und Fakten.
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Im Mai 1810 spielt Königin Luise von Preußen mit ihren Kindern Kricket auf der Pfaueninsel. Als ihre siebenjährige Tochter Alexandrine einen Ball verschlägt, läuft sie ein Stück weit in den Wald, um ihn zu suchen. Dort trifft die schöne Königin auf einen Zwerg und schreit entsetzt: „Monster!“

Acht Wochen später, am 19. Juli 1810, stirbt die 34 Jährige auf Schloss Hohenzieritz.

Aber der Schrei „Monster!“ hallt in den Ohren des zwölfjährigen, aus Rixdorf stammenden Waisenknaben Christian Friedrich Strakon nach, der seit 1806 mit seiner zwei Jahre jüngeren, ebenfalls kleinwüchsigen Schwester Maria („Marie“) Dorothea auf der Pfaueninsel lebt. Das Geschwisterpaar wohnt beim Königlichen Hofgärtner Ferdinand Fintelmann im Kastellanshaus, wo auch dessen Schwägerin Luise Philippine nach der Scheidung von seinem Bruder mit ihren drei zwischen fünf und sieben Jahre alten Söhnen Ludwig, Carl Julius Theodor und Gustav Zuflucht gefunden hat. Ein Hauslehrer namens Mahlke unterrichtet die Kinder.

Joachim Anton Ferdinand Fintelmann wurde 1804, im Alter von 30 Jahren, von König Friedrich Wilhelm III. als Hofgärtner auf die Pfaueninsel berufen.

Friedrich Wilhelm II., der Neffe und Nachfolger Friedrichs des Großen, hatte die Pfaueninsel als verschwiegenen Ort seiner Rendezvous mit Wilhelmine Encke entdeckt. Die Tochter des aus Dessau stammenden Hofhornisten Johann Elias Enke war 1769, zu Beginn der Liebesbeziehung, erst 13 Jahre alt. Zwei Jahre später gebar sie das erste von sechs Kindern. Ende 1793 kaufte König Friedrich Wilhelm II. die Insel, die damals Caninchenwerder hieß, dem Militärwaisenhaus in Potsdam ab, und ein paar Monate später wurde mit der Anlage eines Parks begonnen. Das Lustschloss ließ er 1794 bis 1797 von Hofzimmermeister Johann Gottlieb Brendel errichten. Zur Versorgung der Bewohner entstand parallel dazu (1794/95) die Meierei im Stil einer gotischen Klosterruine. Kurz nach der Fertigstellung des Schlosses Pfaueninsel starb König Friedrich Wilhelm II. am 16. November 1797 im Marmorpalais am Ufer des Heiligen Sees.

Seine frühere Mätresse Wilhelmine Enke, die er noch zur Gräfin von Lichtenau erhoben hatte, durfte das für sie gebaute Schloss auch nicht mehr bewohnen. Der neue König, Friedrich Wilhelm III., ließ sie festnehmen, verbannte sie nach Glogau und konfiszierte ihr Vermögen. Erst auf Intervention Napoleons wird die Gräfin von Lichtenau 1811 rehabilitiert.

Im selben Jahr stirbt Carl Friedrich Simon Fintelmann, der Vater des Königlichen Hofgärtners auf der Pfaueninsel, der bis 1810 als Königlicher Hofgärtner im Küchengarten von Charlottenburg tätig gewesen war. Während er das letzte Lebensjahr bei seinem Sohn im Kastellanshaus verbrachte, erzählte er Marie und Christian von dem Alchimisten Johannes Kunckel. Dem war die Pfaueninsel 1685 vom Großen Kurfürsten übereignet worden. Seine Glashütte und sein Laboratorium brannten jedoch 1689 nieder, und 1692 zog er nach Schweden. Marie und Christian finden noch einen von ihm hergestellten Scherben Rubinglas.

Marie hebt das Rubinglas auf. Sie hält sich auch selbst für „ein Ding“.

Sie war ein Ding. Ein Ding, das man benutzte, selbst dann, wenn man es vergaß. Denn auch dann war es da. Sie gehörte ihrem König wie die Insel, auf der sie waren.

Als Marie 15 Jahre alt ist, ertappt der drei Jahre jüngere Gustav Fintelmann sie und ihren Bruder Christian nackt in einem Versteck am Ufer. Die Geschwister haben unbekümmert ein inzestuöses Verhältnis. Die Tage verbringt Christian meistens im Freien, aber nachts schlüpft er zu seiner Schwester ins Bett.

Im Jahr darauf geraten Marie und Gustav in ein Gewitter und suchen Schutz in einer Scheune. Marie, die seit Jahren in den Neffen des Königlichen Hofgärtners verliebt ist, versucht ihn zu verführen und zieht sich aus. Seine Unsicherheit führt sie auf sexuelle Unerfahrenheit zurück. Er weigert sich, sie anzusehen und schluchzt. Ob er ihren Anblick ekelhaft finde, fragt Marie, und er antwortet mit einer Liebeserklärung.

Von diesem Augenblick an meidet Gustav die Nähe des Mädchens. Erst vier Jahre später kann Marie ihn fragen, warum er ihr aus dem Weg gehe.

„Aber warum? Gustav!“
„Weil du ein Tier bist. Und ich bin eine Pflanze.“

Gustav kommt es in Maries Nähe so vor, „als müsste er etwas loswerden, einen üblen Geruch, ein klebriges Gefühl an der Hand“.

Etwa zur selben Zeit zeigt Gustav seinem Onkel blaue Hortensienblüten und berichtet stolz, dass er herausgefunden habe, welche Bestandteile die Erde enthalten muss, damit die Pflanze blau statt rosa blüht. Gustav erwartet ein Lob, aber stattdessen tadelt ihn der Hofgärtner:

„Man soll nicht zaubern mit der Natur. Die Sphären nicht vermischen.“

Als der Naturforscher Peter Schlemihl mit dem Altertumswissenschaftler Abel Parthey aus Heidelberg und dessen Schwester Lili die Pfaueninsel besucht, fertigt der Mann, der seinen Schatten verkauft hat, von Marie einen Scherenschnitt an und schenkt ihr den Schattenriss.

Nachdem König Friedrich Wilhelm III. 1815 den Jardin des Plantes in Paris gesehen hat, beauftragt er Ferdinand Fintelmann mit einer Umgestaltung der Pfaueninsel und stellt ihm Peter Joseph Lenné zur Seite, der im Februar 1816 von Koblenz nach Potsdam kam und Mitglied der Preußischen Gartendirektion wurde. Eine Menagerie wie in Paris will der König auf der Pfaueninsel haben, dazu ein Palmenhaus und einen Rosengarten.

Peter Joseph Lenné, der Frauen ohnehin nicht besonders attraktiv findet, verabscheut die kleinwüchsige Marie ebenso wie jeden Wildwuchs in der Natur. Sein Ideal sind künstliche Parkanlagen mit Sichtachsen. Der König weiß das – und hat ihn deshalb ausgesucht:

Es ging ihm keineswegs um einen Plan zur Verschönerung der Pfaueninsel. Alle, die meinten, er liebe diese Insel, täuschten sich. Es war die Abneigung gegen seinen Vater und all das, was er hier von ihm vorgefunden hatte, die ihn antrieb. Das war auch der Grund seiner Begeisterung für den zwergenhaften Lenné. Letztlich war Schönheit ihm ganz gleichgültig und nur ein probates Mittel, die Fortpflanzungskraft des Vaters, der er seine verhassten Geschwister verdankte, auch hier zum Versiegen zu bringen, indem er Lenné aus dem zwar spielerischen, doch produktiven landwirtschaftlichen Betrieb der Insel einen sterilen Garten machen ließ, der nichts hervorbrachte als eben Schönheit. Und in den er Tiere aus aller Welt setzen würde, die hier so wenig zu Hause waren wie er selbst.

Von 1821 an dürfen Ausflügler die Pfaueninsel besuchen. Allerdings ist es ausdrücklich verboten, mitgebrachte Speisen und Getränke zu verzehren, und eine Gaststätte gibt es auch nicht auf der Insel.

Für die Bewässerung des 1821 von Peter Joseph Lenné angelegten ersten Rosengartens in Preußen und der übrigen Anlagen lässt der König eigens ein Pumpwerk am Südufer bauen. Die Dampfmaschine der Firma James & John Cockerill wird im September 1824 geliefert. Sie pumpt Havelwasser zu einem Reservoir am höchsten Punkt der Pfaueninsel hinauf, und von dort wird es durch Tonröhren verteilt.

Gustav Fintelmann, der inzwischen eine Ausbildung zum Gärtner absolviert hat, verabschiedet sich 1824 von Marie: Er werde die Pfaueninsel noch am selben Tag verlassen, mit einem königlichen Stipendium auf Wanderschaft gehen und studieren, erklärt er ihr. Christian ist auch nicht mehr da: Er macht eine Lehre bei einem Schneider in Klein Glienicke.

Marie wird schließlich ein letztes Mal von König Friedrich Wilhelm III. von Preußen ins Schloss Pfaueninsel gerufen. Seit 1824 ist er mit der 30 Jahre jüngeren, von ihm später zur Fürstin von Liegnitz erhobenen Auguste Gräfin von Harrach verheiratet. Als Marie das königliche Schlafgemach betritt, erschrickt sie, denn die Fürstin von Liegnitz liegt nackt auf dem Bett, stöhnt, klammert sich mit einer Hand am Eisengestell fest und fährt mit einem Gerät, das sie in der anderen Hand hält, wie mit einem Pinsel zwischen ihren Beinen herum. Es ist über Drähte mit einem Apparat verbunden, an dem eine am Boden kniende Zofe kurbelt.

Marie sah: Ließ das Mädchen in ihrer Anstrengung nach, wurden die blauen Blitze um die wohl kupferne, jedenfalls spiegelglatt polierte Kugel schwächer, strengte die Zofe sich aber an, zuckte und blitzte es, illuminierte den ganzen Raum, und die Fürstin warf sich in diesem Lichtgewitter stöhnend von einer Seite des Bettes auf die andere.

Der König nimmt Marie mit ins Arbeitskabinett.

Marie wusste nicht, was tun, wagte es aber auch nicht, ihn nach seinen Wünschen zu fragen. Sein Blick war so starr und ernst. Schließlich aber trat sie an ihn heran und schlug den Nachtrock zur Seite. Als bemerkte er nicht, was sie tat, ließ er den Blick auch dann noch nicht von der Tür, als sie begann, sein Glied zu reiben. In den Mund, wie Christians, nahm sie es nicht. Doch als er kam, fing sie alles in der hohlen Hand auf, machte einen Knicks und huschte hinaus.

1829 wird in der Nähe der Meierei auf der Pfaueninsel ein aus dem Charlottenburger Schlosspark stammender Portikus aus Sandstein zur Erinnerung an Königin Luise aufgestellt und mit dem Bau eines beheizbaren, knapp 35 Meter langen, 14 Meter breiten und ebenso hohen Palmenhauses begonnen. Die Entwürfe stammen von Karl Friedrich Schinkel. Johann Gottfried Schadow leitet die bis 1831 dauernden Bauarbeiten.

Im Palmenhaus trifft sich Gustav Fintelmann, der 1828 auf die Pfaueninsel zurückgekehrt ist, heimlich mit Marie, die ihren Körper eigens für ihn enthaart. Sie ist nun seine Geliebte, und als sie schwanger wird, hofft sie auf eine Hochzeit. Aber für Gustav ist eine Ehe mit Marie ausgeschlossen, denn er hält die Kleinwüchsige noch immer für animalisch, also ungeeignet, ihn zu einem besseren Menschen zu erziehen.

Die Gattin sei das edle Reis, das dem stumpfen Trieb, der Unmoral und der Gewalttätigkeit des Mannes aufgepfropft gehörte. Dass die Frau den Mann zur Sittlichkeit bringe, das sei das Ziel der Ehe.

Männer waren von Geburt an unmoralisch, gewalttätig, unersättlich in jeder Hinsicht, es hatte lange gedauert, bis er das begriff. Er brauchte eine Frau, um sich selbst zu erziehen.

Bei einer Berührung Gustavs und Christians, der wegen der 1830 ausgebrochenen Cholera-Seuche auf die für den Besucherverkehr gesperrte Pfaueninsel zurückgekehrt ist, erkennt Marie das unterdrückte homosexuelle Begehren in den Augen des Gärtners.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel stirbt am 14. November 1831 an der Cholera. Gleichzeitig mit der Nachricht vom Tod des Philosophen erhält Marie eine Einladung des Hofmarschalls zu einem für Anfang Dezember geplanten Diner der Fürstin von Liegnitz im Palmenhaus auf der Pfaueninsel. Auch der „Zwerg“ Christian wird eingeladen, ebenso wie der „Riese“ Carl Ehrenreich Licht, ein Veteran des 1. Garderegiments, der „Mohr“ Theobald Itissa und der seit dem Vorjahr als Assistent des Maschinenmeisters Franciscus Joseph Friedrich auf der Pfaueninsel lebende dunkelhäutige Sandwich-Insulaner, dem die Preußen den Namen Harry Maitey gaben, nachdem sie ihn 1823/24 aus Honolulu mitgebracht hatten.

Christian reißt sich bei der Veranstaltung auf dem Balkon des Palmenhauses sogleich die Kleidung vom Leib, schlüpft in eine der bereitliegenden orientalischen Pumphosen, zieht eine goldene Weste an und setzt sich einen Turban auf. Dann tanzt er übermütig auf die Fürstin zu.

Die Fürstin klatsche vor Vergnügen in die Hände und winkte einen Lakaien herbei, ihren Stuhl vom Tisch abzurücken, denn sie erwartete offenbar eine Vorführung.

Christian hebt ihre Röcke hoch und kriecht darunter. Die Tischgesellschaft erstarrt. Die Fürstin von Liegnitz steht mit vor Überraschung aufgerissenen Augen auf, seufzt laut und sinkt mit gespreizten Beinen auf ihren Stuhl zurück. Als Christian wieder auftaucht, ist seine Hose offen. Als Nächstes lässt er seinen roten Penis vor dem Gesicht eines rothaarigen Mädchens wippen, nimmt ihren Kopf und presst ihn gegen sein Geschlecht. Die Fürstin klatscht, während Christian nun auf seine Schwester zutanzt. Aber bevor er Marie erreicht, stürzt Gustav sich brüllend auf ihn, packt ihn unter den Achseln und schleudert ihn über die Brüstung.

Ferdinand Fintelmann erreicht, dass Christians Tod als Unfall deklariert wird und seinem Neffen nichts geschieht.

Ein Potsdamer Mediziner, der sich um die Tiere in der Menagerie kümmert, sieht auch nach der schwangeren Marie, bis diese zwei Tage nach dem Tod des einzigen Löwen auf der Pfaueninsel einen Sohn zur Welt bringt. Zwei Wochen, bevor Gustav Fintelmann am 1. April 1834 seinen Onkel als Königlicher Hofgärtner der Pfaueninsel ablöst, nimmt er Marie den Sohn weg und lässt ihn fortbringen.

1837 wird die im Auftrag Friedrich Wilhelms III. von Friedrich August Stüler und Albert Dietrich Schadow auf Nikolskoje gebaute evangelische Kirche St. Peter und Paul geweiht.

König Friedrich Wilhelm III. stirbt am 7. Juni 1840. Sein Sohn Friedrich Wilhelm IV., der ihm auf den Thron folgt, kommt nur selten auf die Pfaueninsel und bleibt kein einziges Mal über Nacht. 1842 lässt er die letzten der noch auf der Pfaueninsel lebenden exotischen Tiere nach Berlin in den Zoo bringen. Die Menagerie auf der Pfaueninsel wird aufgelöst. Experten wie der Berater Hermann van Aken und der 1832 berufene Menagerie-Aufseher August Sieber konnten das Sterben der exotischen Tiere auf der Pfaueninsel nicht beenden.

Als der Berliner Leihkoch Jon Froelich einen Ausflug auf die Pfaueninsel unternimmt, begegnet er der inzwischen 60 Jahre alten Marie und lässt sie einige der mitgebrachten Rafiolen kosten. Am 12. Juni 1860 verlässt Marie erstmals seit 54 Jahren die Pfaueninsel und überrascht ihren neuen Freund mit einem Besuch in Berlin.

Feuerland, so nannten die Berliner damals die Gegend nordöstlich des Oranienburger Tors, in der sich in den letzten Jahrzehnten Betriebe angesiedelt hatten, wie es sie noch niemals gegeben hatte, Eisen- und Walzwerke, rauchende Schlote, feurige Essen, die Königlich Preußische Eisengießerei am Ufer der Panke, die berühmte Lokomotivenfabrik von Borsig, die Pflugsche Waggonfabrik, dann Wöhlerts Maschinenbauanstalt.

Obwohl sie sich nach Zärtlichkeit sehnt, empfindet sie es als Qual, als Jon Froelich mit ihr kopuliert. Marie begreift, dass es für sie keinen Neuanfang geben wird; ihr Leben ist zu Ende. Resigniert kehrt sie auf die Pfaueninsel zurück.

Obwohl Marie inzwischen bereits am Stock geht, führt sie Besucher auf der Pfaueninsel herum, darunter den Ingenieur Maximilian Nietner aus Ceylon mit seiner tamilischen Ehefrau Ananthi. Er war als Kleinkind 1833 zu seinem als Gärtner der Royal Botanical Gardens in Petadeniya unweit der alten Königsstadt Kandy beschäftigten Onkel gekommen, hatte aber später nicht dessen Beruf erlernt, sondern Ingenieurwissenschaften studiert. Marie hält es für möglich, dass es sich bei ihm um ihren Sohn handelt.

Ferdinand Fintelmann stirbt am 24. Dezember 1863, einige Wochen vor seinem 90. Geburtstag, in Charlottenburg. Peter Joseph Lenné folgt ihm 1866 ins Grab, im selben Jahr wie Eulalia Fintelmann. Der Witwer Gustav lebt noch bis 1. März 1871. Harry Maitey, der 1833 die Tierwärter-Tochter Dorothea („Doro“) Charlotte Becker geheiratet hatte, stirbt am 26. Februar 1872. Der Afrikaner Theobald Itissa war schon vor längerer Zeit versehentlich von einem Jäger auf der Pfaueninsel erschossen worden. Und Carl Ehrenreich Licht ist ebenfalls tot.

Am 18. Mai 1880 zieht Marie erstmals das Kleid an, das Christian als eine Art Hochzeitskleid für sie angefertigt hatte, und geht damit ins Palmenhaus, dessen Zugang sie Besuchern der Insel seit Jahren verwehrt hat. Peter Schlemihl gesellt sich dort zu ihr, und mit seinem neuartigen Benzinfeuerzeug zünden sie sich Cigarren an.

Drei Tage später berichtet die Vossesche Zeitung, dass das Palmenhaus auf der Pfaueninsel in der Nacht vom 18./19. Mai aus ungeklärter Ursache bis auf die Grundmauern abbrannte. Dabei kam Maria Dorothea Strakon ums Leben und alle verbliebenen Pflanzen wurden zerstört.

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In seinem Roman „Pfaueninsel“ beschäftigt sich Thomas Hettche mit dem Gegensatz zwischen Natürlichkeit und Kunst bzw. Natur und Künstlichkeit. Am Beispiel der Pfaueninsel im 19. Jahrhundert zeigt er, wie Aufklärung und Rationalismus, Wissenschaft, Technik und Industrialisierung den natürlichen, romantisch-märchenhaft verklärten Lebensraum verdrängen. Wildwuchs wird von Gartenbaumeistern beseitigt. Sonderfälle und Normabweichungen betrachtet man jetzt als Kuriositäten bzw. Monströsitäten. Triebhaftigkeit gilt als Rückfall ins Animalische, und man glaubt, vor allem die Sexualität unterdrücken zu müssen.

Die Handlung beginnt 1806 bzw. 1810 und endet 1880. Thomas Hettche erzählt in „Pfaueninsel“ von Maria Dorothea Strakon. Die chondrodystrophe Frau hat wirklich gelebt, aber wir wissen so gut wie nichts von ihr. Da setzt Thomas Hettche seine Fantasie ein und kombiniert die Fiktion mit historischen Persönlichkeiten wie den Königlichen Hofgärtnern Ferdinand und Gustav Fintelmann, aber auch vielen Informationen über die Pfaueninsel aus dem Geschichtsbuch, die des Öfteren in schiere Erläuterungen abgleiten. Nicht einmal vor seitenlangen Aufzählungen scheut Thomas Hettche zurück. Zu dieser offenbar bewusst angestrebten Sprödheit passen die Figuren, deren Charaktere der auktoriale Erzähler nicht tiefer ausleuchtet.

Die Sprache wirkt altertümlich bzw. historisierend. Seltsam wirken Passagen, in denen Thomas Hettche von „wir“ oder im Konjunktiv schreibt:

Eine Königin? Was ist das? Eine Märchengestalt, denken wir, und doch: dieser hier pulste das Leben am Hals und flackerte über die Wangen, hier, in der schwülen Enge der Bäume, eng um die junge Frau herumgelegt wie jenes Wort sie zu bezeichnen. […] Eine Königin, eine Königin. Gar nicht verschämt glotzen wir, und ebenso indiskret betastet unsere Fantasie ihre Gestalt.

Eine unheimliche Stille umfinge einen, wenn man von der Anlegestelle hinaufstiege und das Schwappen der Wellen leiser würde und schließlich verschwände, der Wind auf dem Wasser vergessen, die Luft unter dem Blätterdach heiß und stickig. Traubeneichen und Stieleichen, Ulmen und Erlen. Zitterpappeln, deren Propellerblätter an ihren langen Stielen sachte aufhörten, zu kreiseln, immer langsamer würden, erschlafften, einschliefen unter dem Blick zurück zum Steg an der Havel.

Dass Thomas Hettche nicht zwischen einem Stuhl und einem Sessel unterscheidet, ist verwunderlich. Verwirrend sind Unstimmigkeiten in den Zeitangaben. Marie ist wohl vor dem Diner der Fürstin von Liegnitz im Palmenhaus Anfang Dezember 1831 bereits schwanger, gebiert ihren Sohn aber erst zwei Tage nach dem Tod des Löwen, also 1834, während es an anderer Stelle heißt, Gustav Fintelmann habe ihr das Kind im März 1834 weggenommen, und da sei es bereits acht Monate alt gewesen.

„Pfaueninsel“ stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2014, und Thomas Hettche gewann dafür den Bayerischen Buchpreis 2014. Die Jury begründete das folgendermaßen:

Thomas Hettches Roman Pfaueninsel ist ein Musterbeispiel für den Roman als Zeitmaschine. Aus der Perspektive des kleinwüchsigen preußischen Hoffräuleins Maria Strakon erleben wir die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüche in einem Mikrokosmos auf der Berliner Pfaueninsel. Gleichzeitig adressiert Thomas Hettche in seinem Roman drängende Fragen der Gegenwart: Was macht einen Menschen zum Monster, es geht um die Konstruktion des Außenseiters und die enger werdenden Toleranzräume in einer zunehmend dem Schönheitsdiktat unterliegenden Gesellschaft.

Den Roman „Pfaueninsel“ von Thomas Hettche gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Dagmar Manzel (Bearbeitung: Kathrin Ackermann, Regie: Vera Teichmann, ISBN 978-3-8398-1361-4).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © Verlag Kiepenheuer & Witsch

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