Jon Fosse : Das ist Alise

Das ist Alise
Originalausgabe: 2003 Das ist Alise Übersetzung: Hinrich Schmidt-Henkel marebuchverlag, Hamburg 2003 Rowohlt Taschenbuch, Reinbek 2005 ISBN 3-499-23874-8, 116 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

In einem alten Holzhaus an einem norwegischen Fjord erinnert sich eine ältere Frau im Jahr 2002 daran, wie ihr Ehemann Asle im November 1979 nach seinem kleinen Ruderboot sehen wollte und fortblieb. Sie kommt nicht darüber hinweg, fühlt sich verlassen, ist traurig, voller Sehnsucht und ohne Hoffnung. War Asle mit dem Boot verunglückt oder hatte er nicht mehr länger mit ihr zusammen sein wollen?
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Kritik

"Das ist Alise" besteht aus einem flow of consciousness, in den innere Monologe anderer Figuren eingebettet sind. Nicht nur die Zeitebenen, sondern auch die Erzählperspektiven wechseln. Jon Fosses Sprache ist betont einfach, monoton und zugleich höchst artifiziell; virtuos lässt er sie wie Musik in ruhigen Wellen an- und abschwellen.
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Ich sehe Signe auf der Bank liegen dort in der Stube und sie blickt auf all das Altgewohnte […] (Seite 7)

So beginnt die Novelle „Das ist Alise“ von Jon Fosse. Der Erzähler sieht die alt gewordene Frau in ihrem Haus auf der Bank liegen, im März 2002, und Signe erinnert sich, wie Ende November 1979 ihr Mann Asle verschwand. Das Holzhaus am Fjord ist älter als hundert Jahre. Asle wohnte darin sein ganzes Leben lang, zuerst mit seinen Eltern und Geschwistern, dann mit seiner Frau Signe. Fünfundzwanzig Jahre lang hatten sie sich gekannt, zwanzig Jahre lang waren sie verheiratet, bis Asle im November 1979 nicht mehr wiederkam. Seither ist Signe allein. Sie sieht Asle am Fenster stehen. Er hat sich verändert, ist still geworden, noch verschlossener und menschenscheuer. Dann sagt er, er wolle mit seinem kleinen Ruderboot ein bisschen auf den Fjord hinaus fahren.

[…] und er zieht die Tür auf sich zu, geht hinaus, und es ist, als ob er sich zu ihr umdrehen und ihr etwas sagen wollte, aber er schließt die Tür wieder hinter sich, denkt sie, und es gibt nichts zu sagen, er hat nur einfach die Tür aufgemacht und ist rausgegangen, denkt sie, aber zwischen ihnen stimmt doch alles, alles ist gut, sie verstehen sich so gut, wie man es nur wünschen kann, sie beide, niemals ein böses Wort zwischen ihnen, er weiß wahrscheinlich nicht, denkt sie, was er ihr Gutes tun könnte, er ist eben unsicher, weiß nicht, was sagen, was tun, aber böse auf sie kann er nicht sein, so was hat sie noch nie gespürt, denkt sie, nur warum will er dann die ganze Zeit auf dem Fjord sein? in seinem kleinen Boot, dem kleinen Holzboot, einem Ruderboot, denkt sie und sie sieht, wie sie da auf der Bank liegt, sich selber mitten in der Stube stehen und dann sieht sie sich selber ans Fenster gehen und hinausschauen und jetzt ist es etwas heller geworden, denkt sie, wie sie da am Fenster steht […] (Seite 18f)

Auf der Landstraße denkt Asle, dass er besser wieder nach Hause gehen und nicht auf den Fjord hinausfahren sollte, denn es ist zu dunkel und zu kalt. Da sieht er eine Frau, die einen kleinen Jungen im Arm hält, während sie einen Schafskopf nach dem anderen mit einem Stecken aufspießt und über ein Feuer hält, sodass die Wolle stinkend verbrennt.

Das ist Alise, denkt er und er sieht es, er weiß es. Das ist Alise. Sie ist Alise, denkt er, seine Ururgroßmutter, das weiß er. Sie ist Alise, nach der er getauft ist, das heißt wohl eher nach ihrem Enkel, Asle, der starb, als er sieben war, der in der Bucht hier ertrank, der Bruder von seinem Opa Olav, und er trägt seinen Namen. Aber sie ist Alise, Anfang zwanzig, denkt er. Und der Junge, der ist gut ein Jahr alt, das ist Kristoffer, sein Ururgroßvater, der später der Vater von Opa Olav war und auch von dem Asle, nach dem er getauft ist, dessen Namen er trägt, er ertrank, als er erst sieben war, denkt er […] (Seite 48)

Alises Sohn Kristoffer und dessen Frau Brita hatten zwei Söhne: Olav und Asle. Asle bekam von seinem Vater zum siebten Geburtstag am 17. November 1897 ein kleines, selbst gebautes Boot geschenkt. Damit spielte der Junge am Fjord: Er stieß das Boot mit einem Stecken ab und warf Steine ins Wasser, damit das Boot von den Wellen weitergetrieben wurde. Dann schleuderte er plötzlich die Holzschuhe von den Füßen, zog die Hose aus und stieg ins Wasser, um das Boot zurückzuholen. Dabei ertrank er. An seinem siebten Geburtstag.

Asle, der Enkel von Olav, dem Bruder des 1897 ertrunkenen Jungen, geht die Landstraße ein Stück entlang und kehrt dann zu Signe ins Haus zurück.

Ich komme jetzt, sagt Asle
und er bleibt stehen
Es ist kalt hier, komm, wir gehen in die Stube, im Ofen brennt ein schönes Feuer, sagt Signe
und dann nimmt sie leicht seine Hand und sie lässt sie sofort wieder los und dann geht sie in die Stube und wie sie da auf der Bank liegt, sieht sie sich selber in die Stube kommen und dann sieht sie ihn hereinkommen und sie sieht, dass hinter ihm auch Alise hereinkommt, und auch sie geht in die Stube und dann sieht sie sich selber zum Ofen gehen und ein Holzscheit nehmen und sie sieht sich selbst, wie sie sich bückt und er schaut zu ihr, wie sie gebückt vor dem Ofen steht, und dann legt sie das Scheit schräg in die Flammen und in diesem Augenblick sieht er, dass jetzt Alise ein Holzscheit in den Ofen steckt, es ist nicht mehr Signe, es ist Alise, seine Ururgroßmutter, jetzt steht sie da vorm Ofen und steckt ein Holzscheit schräg hinein […] (Seite 61f)

Als der Wind auffrischt, will Asle doch noch einmal nach seinem Boot schauen. Er geht hinaus – und kehrt nie mehr zurück. Am Tag darauf taucht das leere Boot auf; es schlägt gegen das steinige Ufer. Fast ein Jahr lang liegt es da, dann bitten zwei Jungen aus dem Nachbardorf darum, es beim Johannisfeuer verbrennen zu dürfen.

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In einem alten Holzhaus an einem norwegischen Fjord erinnert sich eine ältere Frau im Jahr 2002 daran, wie ihr Ehemann Asle im November 1979 nach seinem Boot sehen wollte und fortblieb. Sie kommt nicht darüber hinweg, fühlt sich verlassen, ist traurig, voller Sehnsucht und ohne Hoffnung. War Asle mit dem Boot verunglückt oder hatte er nicht mehr länger mit ihr zusammen sein wollen? – In ihrer Erinnerung sieht Signe nicht nur ihren Mann an dem Abend, als er verschwand, sondern auch dessen Ururgroßmutter Alise und den Tod ihres siebenjährigen Enkels im November 1897. Jon Fosse vermeidet es, Sätze mit einem Punkt abzuschließen, und durch die ständige Wiederholung von „denkt sie“ bzw. „denkt er“ betont er, dass es sich bei der Novelle „Das ist Alise“ um einen flow of consciousness handelt, in den innere Monologe anderer Figuren eingebettet sind. Nicht nur die Zeitebenen, sondern auch die Erzählperspektiven wechseln mitunter durch fließende Übergänge mitten im Satz:

[…] und sie sieht, dass ihr Haar schwarz und lang und dicht ist, wie sie da sitzt, ihr Haar ist ein bisschen gelockt und sie sitzt da und schaut in die Flammen und ihre Finger stricken unentwegt an dem schwarzen Pullover, den er fast immer anhat, und dann schaut sie wieder zur Bank und sieht sich selbst da liegen und ihr Haar ist grau geworden, aber immer noch ist es lang, langes graues Haar hat sie, wie sie da auf der Bank liegt, und sie schaut aus dem Fenster und sie sieht ihn den Hausweg hinuntergehen mit der gelbweißen Mütze, die er seit kurzem immer trägt, und sie denkt, dass diese Mütze grausam hässlich ist, und er denkt, jetzt dreht er sich aber nicht um, denn wenn er sich umdreht, dann sieht er wahrscheinlich nur wieder, dass sie am Fenster steht und hinausschaut […] (Seite 32f)

Jon Fosses Sprache ist betont einfach, monoton und zugleich höchst artifiziell; virtuos lässt er sie in „Das ist Alise“ wie Musik in ruhigen Wellen an- und abschwellen.

Der norwegische Schriftsteller Jon Fosse (*1959) gilt seit der Jahrtausendwende als einer der bedeutendsten europäischen Dramatiker der Gegenwart. 2023 wurde John Fosse mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © marebuchverlag

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