Dieter Forte : Das Muster

Das Muster
Das Muster Originalausgabe: S. Fischer Verlag, Frankfurt/M 1992 Brigitte-Edition, erlesen von Elke Heidenreich Gruner und Jahr, Hamburg 2006 ISBN 978-3-570-19523-9, 345 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die italienische Seidenweber-Familie Fontana zieht von Lucca über Florenz, Lyon und Basel ins Ruhrgebiet. Bei den Männern der polnischen Familie Lukacz handelt es sich über viele Generationen hinweg um Bergleute. Einer von ihnen fährt im 19. Jahrhundert ins Ruhrgebiet und lässt sich dort nieder. In Düsseldorf kommt es schließlich zu einer ehelichen Verbindung der beiden grundverschiedenen Familien.
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Kritik

Dieter Forte entwickelt die doppelte Familienchronik in zahlreichen kleinen Geschichten. Groteske Begebenheiten wechseln sich in "Das Muster" mit realistischen Milieuschilderungen, Porträts skurriler Charaktere und politischen Skizzen ab.
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Von Luoyang nach Changang über Lou Zhou und Dun Huang nach Lop-Nor, um die Wüste Takla Makan nach Karashar, nach Khotan und Kasghgar, über das Hochland von Pamir nach Tashkent, Samarkand, Hamadan, Palmyra zum Hafen von Antiochia; lange Karawanen aus fremden Ländern mit alten Geschichten von der Kaiserin Lei Zu, die in ihren Gärten in der Ebene des gelben Flusses von einer Schlange angegriffen auf einen Maulbeerbaum flüchtete, auf dessen Blättern kleine hässliche Raupen durch dünne selbst gesponnene Fäden sich in harte Kokons verwandelten, aus denen erneut verwandelt zarte Schmetterlinge schlüpften; mit der Geschichte des großen Kaisers im Osten, der so kostbare Seidengewänder trug, dass alle Gesandtschaften ehrfürchtig davon berichteten, der bei Strafe des Todes verbot, das Geheimnis des Maulbeerbaumes und der Seidenraupe über die Grenzen seines Reiches zu tragen, und in seiner Hauptstadt auf hohen Stangen die Köpfe derer ausstellte, die das Verbot missachteten. (Seite 9)

Mit diesem Satz beginnt Dieter Forte seinen Roman „Das Muster“.

Die Familie Fontana, die seit dem 12. Jahrhundert in Lucca (Toskana) eine Seidenwerkstatt betreibt, in der schließlich zwanzig Seidenweber an sechs Webstühlen arbeiten, verlässt bei der Machtübernahme von Herzog Castruccio Castracani 1327 die Heimatstadt. Gianni Fontana, seine Ehefrau Anna und sein Bruder Paolo fangen in Florenz neu an.

Nach der Restauration der Herrschaft der Medici in Florenz setzt sich der Junggeselle Jean Paul Fontana mit seinen Angehörigen 1536 nach Lyon ab, wo es bereits eine Filiale der Seidenweberei gibt. Die Fontanas müssen ihre Immobilien, Webstühle, Seidenballen, Bilder und Bücher zurücklassen, denn es ist bei Todesstrafe verboten, das Geheimnis über die Kunst der Seidenherstellung aus der Stadt zu bringen.

1685 wird das Edikt von Nantes aufgehoben, also die Tolerierung der Hugenotten beendet. Da die Fontanas inzwischen Hugenotten geworden sind, dürfen sie in Lyon keine Seidenweberei mehr betreiben. Im Oktober 1685 reisen sie über Lausanne, Bern und Zürich nach Basel, wo sie aber nur einige Monate lang bleiben, bevor sie sich in Iserlohn niederlassen. Dort sind die Bedingungen für tüchtige Handwerker vielversprechend, denn Iserlohn gehört erst seit kurzem zu Brandenburg, und dem Großen Kurfürsten ist sehr daran gelegen, die Wirtschaft in der gerade durch einen Großbrand fast vollständig zerstörten Stadt zu fördern.

Nachdem die Familie Fontana bei der Ausstattung des Rokoko-Schlosses von Benrath bei Düsseldorf mit Lyoner Seide noch einmal viel Geld verdiente, verkauft Johann Fontana die traditionsreiche Seidenweberei 1806 den im Seidenhandel tätigen italienischen Einwanderern Cantador & Ciolina.

Sein 1840 in Iserlohn geborener Nachfahre Gustav Friedrich Fontana, ein Königlich-Preußischer Lokomotivführer, heiratet Henriette Wilhelmine Eichelberg, die Tochter eines Metallwarenfabrikanten in Iserlohn.

Industrianten hießen die Erbauer dieser neuen Welt, die wie vulkanisches Urgestein schnell aufschoss, rotglühende Lava, die sich ausdehnte, Einbrüche überstand, neue Verbindungen einging, sich zusammenschloss und verwandelte, ihr dampfendes Gestein über die alte Erde schob, erkaltete, verkrustete, aus kleinen Werkstätten immer größere Fabriken schuf, aus kleinen Wohnhäusern immer größere Ansiedlungen, sie kamen aus Irland, England, Belgien, Frankreich, Holland, brachten Ingenieure und Facharbeiter mit, ganze Kolonien entstanden um die jeweiligen Fabriken, mit eigener Sprache, eigener Religion, eigener Lebensart, eigenen Feiertagen, eigener Kirche […] holländische Spediteure, böhmische Glasbläser, ungarische Schuhmacher, jüdische Kleiderhändler, bayerische Bierbrauer, Agenten Hamburger Reeder, Bankiers aus Basel, Notare aus Bern, russische Popen, deutsche Nonnen, französische Damen, Religionsverkünder, Unternehmer und Fabrikgründer aller Art […] Mulvany, Piedboeuf, Poensgen, Grillo, Bourdouxhe & Co, Dawans, Orhan & Co, Herlitschka & Gobiet, Regnier-Poncelet & Büttgenbach […] (Seite 216f)

Unter den Fontanas sind jetzt auch skurrile Privatgelehrte wie Gustav Fontana, der über ein enzyklopädisches Wissen verfügt, aber von der Universität relegiert wird, nachdem er ein von seinem Ordinarius geschriebenes Buch mit jeder Menge abfälliger Randnotizen versehen hat. Trotz des abgebrochenen Medizinstudiums lässt sich Gustav Fontana „Professor“ titulieren. Im Ersten Weltkrieg muss er wegen seiner Herzschwäche und seiner Fachausbildung nicht an die Front, sondern wird in Düsseldorf als Sanitäter eingesetzt. Seine aus Basel stammende Ehefrau Yvonne, die einen Sohn namens Jeannot mit in die Ehe brachte und zwei weitere Kinder gebar – Elisabeth und Friedrich – stirbt während des Kriegs an Tuberkulose.

Friedrich Fontana begegnet schließlich in Düsseldorf Maria Lukacz, und die beiden werden ein Paar.

Maria stammt aus einer polnischen Familie. Viele ihrer Vorfahren waren Bergleute. Im 19. Jahrhundert zog der Hauer Joseph Lukacz nach Gelsenkirchen. Einer seiner Nachkommen wurde dort 1914 zum Kriegsdienst eingezogen, und zwei Jahre später erhielt seine in einer Granatenfabrik arbeitende Ehefrau Maria die Nachricht, ihr Mann sei bei Verdun gefallen. Weil sie zwei Töchter zu versorgen hatte – die 1908 geborene Maria und deren zwei Jahre jüngere Schwester Gertrud – heiratete sie einen Arbeitskollegen ihres toten Mannes, der auch Joseph hieß.

Um das Mädchen Maria kümmerte sich schließlich eine Verwandte, die sich als Gräfin ansprechen ließ. Um die Bildung Marias zu vervollkommnen, trug ihr die Gräfin auf, „Krieg und Frieden“ von Tolstoi wiederholt zu lesen, mehrere Aufführungen der Oper „Die Zauberflöte“ von Mozart zu besuchen und je einen Bildband über Leonardo da Vinci und Cézanne zu studieren. Die Gräfin pendelte zwischen Paris, Brüssel, London, Düsseldorf und dem Gut des in Polen verbliebenen Zweigs der Familie Lukacz. Ihr Bruder, der sich Joseph von Lukacz nannte, lebte vorwiegend in Posen, wo er eine Buchhandlung mit –druckerei eröffnete und als Historiker und Bibliothekar der Gräflich Raczynskischen Bibliothek tätig war. Als die Gräfin starb, führte Maria deren Haus in Düsseldorf fort, bis es von den Erben verkauft wurde. Dann wechselte sie als Haushälterin zu dem unverheirateten Medizinalrat Dr. Levi, der in der Altstadt von Düsseldorf eine Arztpraxis betrieb. Als ihm Nationalsozialisten die Fensterscheiben einwarfen, entließ er Maria Lukacz, nicht ohne seinen Kollegen Dr. Christiansen zu bitten, ihr ein hervorragendes Zeugnis ausstellen. Maria, die nichts von Politik verstand, wusste nicht, was das bedeutete. Ein Bett fand sie im St. Anna-Stift, wo stellungslose Mädchen aufgenommen wurden.

Gustav Fontana freut sich über die zukünftige Schwiegertochter Maria Lukacz.

Maria war da eine neue Farbe, ein neuer Zusammenhalt, die lose hängenden Kettfäden an einem alten Webstuhl wurden neu gespannt, von einem frischen starken Schussfaden durchzogen, schien ein neues Muster zu entstehen. (Seite 330)

Die Katholikin kann es nicht fassen, dass weder ihr Bräutigam Friedrich Fontana noch dessen Angehörige wissen, ob sie getauft sind oder nicht. Am Tag vor der Hochzeit in Düsseldorf bemerkt sie, dass Friedrich keinen passenden Anzug besitzt. Sie gibt ihm Geld, damit er sich einen kaufen kann, doch auf dem Weg trifft er Freunde und vertrinkt mit ihnen seine Barschaft. Zur Trauung erscheint er in einer geliehenen SA-Uniform. Weil Maria sich weigert, mit ihm in diesem Aufzug vor den Altar zu treten, muss ein Bekannter namens Hermann schnell mit dem Motorrad nach Hause fahren und seinen schwarzen Anzug holen. In der Sakristei zieht Friedrich sich um.

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In seinem Debütroman „Das Muster“ verfolgt Dieter Forte die fiktive Geschichte einer italienischen und einer polnischen Familie über Jahrhunderte hinweg bis zur ehelichen Verbindung in Düsseldorf. Im ersten Kapitel eilt er wie im Zeitraffer auf 80 Seiten vom 12. bis zum 18. Jahrhundert. Einen etwas größeren Raum – 113 Seiten – nimmt die Zeit von der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (1806) bis zum Ende des Ersten Weltkriegs (1919) ein. Im dritten Kapitel schaltet Dieter Forte noch einmal einen Gang zurück und beschäftigt sich auf 150 Seiten mit der Familiengeschichte während der Weimarer Republik (1919 – 1933). In allen drei Kapiteln entwickelt Dieter Forte beide Handlungsstränge parallel und wechselt jeweils nach wenigen Seiten – mitunter nach einer einzigen Seite – von der Familie Fontana zur Familie Lukacz und dann wieder zurück.

Die Fontanas, bei denen es sich bis 1806 um Seidenweber handelt, ziehen von Lucca über Florenz, Lyon und Basel ins Ruhrgebiet. Bei den Männern der Familie Lukacz handelt es sich über viele Generationen hinweg um Bergleute. Einer von ihnen fährt im 19. Jahrhundert ins Ruhrgebiet und lässt sich dort nieder. Während die Fontanas für Freiheitsdrang und Unternehmergeist stehen, verkörpert die Familie Lukacz Fleiß, Frömmigkeit und Melancholie. In den letzten Jahrzehnten tauchen allerdings in beiden Familien skurrile Gelehrte auf.

[…] gab es Menschen, die vier komplette Lebensläufe hatten, in jeder Kneipe mit einem anderen Namen angeredet wurden, ihre vier Schicksale vermischten sich bei jedem behördlichen Kreuzverhör zu einem undurchdringlichen Lebensdschungel. (Seite 205)

Dieter Forte entwickelt die doppelte Familienchronik in zahlreichen kleinen Geschichten. Groteske Begebenheiten wechseln sich mit realistischen Milieuschilderungen, Porträts skurriler Charaktere und politischen Skizzen ab. Einige dieser Miniaturen sind originell und unterhaltsam, die meisten lesenswert. Da die Figuren jedoch in der ersten Hälfte des Romans „Das Muster“ nach wenigen Seiten jeweils von einer anderen Generation abgelöst werden, Haupt- und Identifikationsfiguren also fehlen, geht das Geschehen dem Leser nicht nah.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007
Textauszüge: © S. Fischer Verlag

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