Halt auf freier Strecke

Halt auf freier Strecke

Halt auf freier Strecke

Originaltitel: Halt auf freier Strecke – Regie: Andreas Dresen – Drehbuch: Andreas Dresen, Cooky Ziesche – Kamera: Michael Hammon – Schnitt: Jörg Hauschild – Darsteller: Steffi Kühnert, Milan Peschel, Talisa Lilli Lemke, Mika Seidel u.a. – 2011; 110 Minuten

Inhaltsangabe

Im Alter von 44 Jahren erfährt Frank Lange, dass seine Kopfschmerzen von einem Hirnturmor verursacht werden. Weil eine operative Entfernung unmöglich ist, hat der Patient nur noch wenige Monate zu leben. Andreas Dresen und Cooky Ziesche beschränken sich in dem beklemmenden Drama "Halt auf freier Strecke" nicht darauf, das Sterben eines noch verhältnismäßig jungen Menschen darzustellen, sondern beschäftigten sich mindestens ebenso intensiv mit der Frage, was es für die Ehefrau und die Kinder bedeutet ...
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Kritik

"Halt auf freier Strecke" wirkt beinahe wie eine nüchterne Dokumentation. Dazu passen der Verzicht auf eine Musikuntermalung und die Dialoge, die zum Teil improvisiert sind und sich auch deshalb authentisch anhören.
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Frank Lange (Milan Peschel) ist 44 Jahre alt. Er arbeitet als Packer in einem Logistikzentrum. Kurz nachdem er und seine Ehefrau Simone (Steffi Kühnert), die als Straßenbahnfahrerin tätig ist, mit der 14-jährigen Tochter Lili (Talisa Lilli Lemke) und dem neunjährigen Sohn Mika (Mika Seidel) in ein neu gebautes Reihenhaus am Stadtrand von Berlin gezogen sind, erfahren sie von dem Arzt Dr. Träger (Uwe Träger), dass Franks Kopfschmerzen von einem Gehirntumor verursacht werden. Unverblümt erklärt der Mediziner dem Ehepaar, dass es sich um eine bösartige Geschwulst handelt, die bereits ins Nachbargewebe eingedrungen ist und nicht entfernt werden kann. Zwischendurch redet er am Telefon mit einem Kollegen über die Belegung der OP-Säle. Dann wendet er sich wieder dem vor Schreck erstarrten Ehepaar Lange zu. Als Therapie für Frank kommen nur Bestrahlungen in Frage, und ob damit das Wachstum des Tumors gebremst werden kann, ist mehr als fraglich. Der Patient wird voraussichtlich innerhalb weniger Monate sterben.

Die Eltern wissen noch nicht, wie sie es den Kindern vermitteln sollen, als Frank eines Abends beim gemeinsamen Essen in Tränen ausbricht. Simone bleibt nichts anderes übrig, als Lili und Mika zu sagen, dass der Vater schwer krank sei.

Kurz nacheinander kommen Simones Schwester (Marie Rosa Tietjen) und Franks Eltern (Otto Mellies, Christine Schorn) zu Besuch, um das neue Haus anzuschauen. Sie haben zwar von Franks Krankheit gehört, erfahren aber erst jetzt, dass er bald sterben wird. Vor allem den Eltern fällt es schwer, damit umzugehen.

Frank hört sich eine CD an, die seine Mutter ihm mitbrachte, was aber sein Vater nicht wissen soll. Die Aufnahme ist dafür gedacht, Selbstheilungskräfte zu stärken. Außerdem konsultieren Frank und Simone alternative Heiler.

Auf seinem Smartphone führt Frank in diesen Tagen eine Art Video-Tagebuch.

Als er für Mika ein Ikea-Bett aufbauen will, kommt er mit der einfachen Bauanleitung nicht zurecht, verzweifelt darüber und schreit seinen Sohn an. Sein Kollege Stefan (Bernhard Schütz) setzt schließlich die Holzteile zusammen.

In seinen Tagträumen glaubt Frank, seinen Tumor (Thorsten Merten) personifiziert zu sehen, einmal sogar als Gast bei Harald Schmidt (Harald Schmidt), der ihn fragt, ob er sich bösartig vorkomme.

Allmählich verliert Frank Gedächtnis und Orientierung. Als er die Toilette nicht mehr findet, uriniert er im Zimmer seiner abwesenden Tochter auf den Boden. Daraufhin kleben Simone und die Kinder an alle möglichen Gegenstände Hinweisschilder.

Frank kann nur noch mit Krücken gehen. Aber er schimpft unflätig, als Simone ihm einen Rollstuhl besorgt. Der Tumor droht nicht nur Frank zu töten, sondern vorher schon die Familie zu zerstören. Während Frank die Angst vor den Schmerzen und dem Sterben zu bewältigen versucht, müssen Simone und die Kinder sich nicht nur auf seinen bevorstehenden Tod einstellen, sondern auch verkraften, dass sich seine Persönlichkeit verändert und er mitunter aggressiv reagiert.

An einem Tag, an dem es ihm besser geht, sucht Simone mit ihm einen Bestatter (Michael Gröbler) auf, und sie regeln den Ablauf der Trauerfeier.

Sie beschließen, sich und den Kindern einen schönen Tag in einem Erlebnisbad zu machen. Lili fühlt sich hier besonders wohl, zumal sie Turmspringerin im Sportverein ist. Aber die Langes haben vergessen, Franks Tabletten mitzunehmen, und nach ein paar Stunden bricht er zusammen. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als vorzeitig nach Hause zu fahren. Vor allem Mika und Lili sind enttäuscht.

Bald darauf findet Simone ihren Mann zu Hause am Boden liegend und unter Krämpfen zuckend vor. Sie ruft eine Palliativmedizinerin (Petra Anwar), die Hausbesuche durchführt. Die Ärztin hält nichts davon, den Sterbenden in ein Hospiz zu bringen. Besser wäre es, wenn die Kinder das Sterben des Vaters zu Hause miterleben und auf diese Weise ein Verhältnis zum Tod entwickeln können. Also schafft Simone ein Pflegebett an und beauftragt einen Pflegedienst.

Trotz seiner Inkontinenz und Pflegebedürftigkeit hat Frank noch einmal Sex mit seiner Frau.

An Weihnachten kommen seine Eltern und Simones Mutter (Ursula Werner) zu Besuch.

Ina (Inka Friedrich), die früher einmal eine Liebesbeziehung mit Frank hatte und mit ihm in Mexiko war, kommt aus Greifswald und schaut noch einmal nach ihm.

Zu Beginn des Neuen Jahrs kommen Franks Eltern erneut vorbei, aber die Mutter bringt es nicht mehr fertig, zu ihrem sterbenden Sohn hinaufzugehen.

Simone und Lili sitzen am Bett, als Frank stirbt. Danach holen sie Mika ins Zimmer und lassen ihn noch einmal das Gesicht des toten Vaters streicheln. Ruhig und gefasst sagt Lili: „Ich muss zum Training.“

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Andreas Dresen und Cooky Ziesche beschränken sich in dem beklemmenden Drama „Halt auf freier Strecke“ nicht darauf, das Sterben eines noch verhältnismäßig jungen Menschen darzustellen, sondern beschäftigten sich mindestens ebenso intensiv mit der Frage, was es für die Ehefrau und die Kinder bedeutet.

Dresen scheut sich nun nicht, alles zu zeigen, was eben passiert – vom ersten tropfenden Speichelfaden bis zum letzten Sex und zur letzten Inkontinenzwindel. Das müde alte Stilmittel des Realismus treibt er auch in den Dialogen (nach Stunden von Interviews mit Betroffenen von allen Beteiligten improvisiert) und in der Besetzung (alle Schwestern und Ärzte sind echte Schwestern und Ärzte) zu eindrucksvollen Höhepunkten. (Tobias Kniebe, Süddeutsche Zeitung, 16. Mai 2011)

„Halt auf freier Strecke“ wirkt beinahe wie eine nüchterne Dokumentation. Andreas Dresen macht da weiter, wo die Repräsentanten von Dogma 95 aufhörten. Dabei betont er den Anspruch des Realistischen nicht zum Beispiel durch verwackelte Aufnahmen einer Handkamera, sondern achtet einfach darauf, dass die Kamera die Perspektive eines unbeteiligten Beobachters nicht verlässt (Kameraführung: Michael Hammon). Dazu passen der Verzicht auf eine Musikuntermalung und die Dialoge, die zum Teil improvisiert sind und sich auch deshalb authentisch anhören. Darüber hinaus handelt es sich bei einigen Nebendarstellern um Laien, und Talisa Lilli Lemke (* 1996) ist wirklich Turmspringerin.

Die schauspielerischen Leistungen in „Halt auf freier Strecke“ sind überzeugend, und Andreas Dresen stellt immer wieder seinen Blick für aussagekräftige Details unter Beweis. Ob die komödiantischen Einfälle in das Sterbedrama passen? Darüber wird es unterschiedliche Meinungen geben. Markant ist vor allem die Personifizierung des Tumors, der dann sogar bei Harald Schmidt in der Late Night Show sitzt. Aber auch wer die komödiantischen Einsprengsel goutiert, wird sich bei „Halt auf freier Strecke“ nicht amüsieren – und das soll gewiss auch so sein.

Andreas Dresens Vater, der Theater- und Opernregisseur Adolf Dresen, erlag am 11. Juli 2001 wie der Protagonist in „Halt auf freier Strecke“ einem Hirntumor, aber er wurde immerhin 66 Jahre alt (nicht nur 44 wie die Filmfigur).

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2013

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