Aravind Adiga : Der weiße Tiger

Der weiße Tiger
Originalausgabe: The White Tiger Free Press, New York 2008 Der weiße Tiger Übersetzung: Ingo Herzke Verlag C. H. Beck, München 2008 ISBN: 978-3-406-57691-1, 319 Seiten dtv, München 2010 ISBN: 978-3-423-13939-7, 319 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Durch Eigeninitiative, Ehrgeiz und Unabhängigkeitsstreben brachte es der Sohn eines Rikschafahrers aus einem kleinen Dorf im Herzen Indiens zu einem erfolgreichen Unternehmer. Er verschweigt auch nicht, dass er sich dabei nicht immer legaler Mittel bediente und sogar ein Verbrechen beging. Sein Erfolg ist auf Zufälle, aber auch auf kalkuliertes Vorgehen und Bauernschläue zurückzuführen. Auf dem Höhepunkt seiner Karriere ist er davon überzeugt, richtig gehandelt zu haben ...
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Kritik

In dem Schelmenroman "Der weiße Tiger" schildert Aravind Adiga anschaulich den Werdegang eines gewitzten Aufsteigers und nimmt dabei die indische Gesellschaft satirisch aufs Korn.
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Eigentlich heißt der indische Junge Munna. Als er in seinem Geburtsort Laxmangarh in die Schule kommt, bemängelt sein Lehrer, Munna sei kein richtiger Name, denn der bedeute einfach „Junge“. Deshalb bestimmt er, dass Munna sich ab jetzt Balram Halwai nennen soll. Halwai ist die Bezeichnung für die Kaste der Zuckerbäcker (Balrams Vater ist allerdings Rikschafahrer), und Balram heißt „weißer Tiger“. Dass der Name gut gewählt ist, bestätigt sich, als ein paar Schulklassen später ein Inspektor die Buben nach ihrem Wissen ausfragt und nur Balram seine Fragen beantworten kann. Unter anderem auch diese: „Welches Tier ist das seltenste in jedem Dschungel – ein Lebewesen, das in jeder Generation nur einmal auftaucht?“

Ich dachte nach und sagte:
„Der Weiße Tiger.“
„Genau das bist du in diesem Dschungel hier.“

Der Schulinspektor stellt Balram in Aussicht, ein Stipendium für ihn zu beantragen.

Weniger erfreulich ist die Angelegenheit mit Balrams Cousine. Sie soll demnächst verheiratet werden, und traditionsgemäß muss für die Mitgift und die Ausrichtung der Hochzeitsfeier die Sippe des Mädchens aufkommen. Weil so ein Fest viel Geld kostet, musste die Familie bei einem Großgrundbesitzer, der „Storch“ genannt wird, einen großen Kredit aufnehmen. Doch nun verlangt der „Storch“, dass alle Familienmitglieder, auch Balram, für ihn arbeiten, bis sie den Kredit auf diese Weise getilgt haben.

Das bedeutet, dass Balram nicht mehr zur Schule gehen kann. Zusammen mit seinem älteren Bruder Kishan soll er sich in „Storchs“ Teehaus nützlich machen. Die Aufgabe, große Kohlebrocken in kleine Stücke zu schlagen, hasst er ebenso wie das Putzen unter den Tischen. Er befolgt jedoch sein Motto „aus dem Unerfreulichen etwas Erfreuliches machen“ und nutzt die Zeit im Teehaus dafür, Gespräche der Gäste zu belauschen. Während er unter den Tischen mit seinem Wischlappen herumrutscht, lässt er sich kein Wort entgehen.

Der Ladeninhaber bemerkt Balrams Heimlichtuerei und schickt ihn weg. In Laxmangarh will den Jungen keiner mehr haben, nicht einmal als Erntehelfer.

Kishan, der in die reiche Bergwerkstadt Dhanbad gezogen war, holt seinen Bruder nun in sein dortiges Teehaus. Auch hier belauscht Balram die Gäste und erfährt, dass die Bergarbeiter mit der schweren Arbeit unzufrieden sind. Weil sich so viele Leute Autos kaufen, sollte man Chauffeur werden, überlegen sie, da würden sie auch mehr verdienen. Dies bringt Balram auf die Idee, bei den Betreibern von Taxiständen nachzufragen, ob sie ihm nicht das Fahren beibringen wollten. Die dafür benötigten dreihundert Rupien hat er aber nicht. Er wird auch nicht als Hilfsarbeiter genommen. Da kommt endlich die rettende Nachricht seiner Großmutter, sie werde ihm das Geld für den Fahrkurs unter der Bedingung geben, dass er seinen Verdienst nach Hause schickt.

Auch wenn er jetzt Autofahren kann, bemüht er sich erfolglos darum, als Chauffeur beschäftigt zu werden. Als er auf gut Glück bei einer Villa klingelt, kommt ihm der „Storch“ entgegen. Balram darf sogleich eine Runde zur Probe fahren. Auch Mukesh und Ashok, die Söhne des „Storchs“, sollen mitkommen. Ashok kehrte am Tag zuvor aus Amerika zurück, und man hatte ein Auto für ihn gekauft.

Balram wird als Chauffeur und Diener von Mr Ashok und seiner Frau Pinky eingestellt. Pinky Madam wäre lieber in Amerika geblieben, denn ihr ist das alles hier nicht nobel genug. Deshalb verlegt das Ehepaar seinen Wohnsitz nach Delhi. Im vornehmen Bezirk Gurgaon beziehen sie im dreizehnten Stock eines riesigen Wohnblocks ein Apartment. Weniger vornehm ist der Gesindetrakt im Keller des Gebäudes, wo sämtliches Personal der Herrschaften untergebracht ist und mit einem elektrischen Summer in die entsprechende Wohnung gerufen werden kann. Die Nacht im Schlafsaal behagt Balram nicht. Er ist lieber allein in einem Zimmer, das sonst keiner will – und das aus guten Gründen: Der Raum ist verdreckt, das Bett zu kurz und ebenfalls schmutzig. Das herumliegende Moskitonetz kann Balram als Schutz vor zahllosen Kakerlaken gut gebrauchen.

Balram muss seinen Chef immer wieder zu Behörden fahren, auch zum Präsidentenpalast. Aus Mr Ashoks Bemerkungen schließt er, dass dort heimliche Absprachen stattfinden. Meistens hebt Mr Ashok anschließend bei verschiedenen Bankautomaten größere Summen Geld ab. Die Tasche, in die er die Geldbündel steckt, ist am anderen Tag leer.

Nach einem Streit mit seiner Frau überredet Mr Ashok sie, zur Versöhnung spät nachts noch mit ihm auszugehen. Balram soll während des Restaurantbesuchs im Auto warten. Weit nach Mitternacht kommt das Ehepaar torkelnd aus dem Lokal. Balram wird Zeuge, wie die beiden im Auto sogleich übereinander herfallen. Das macht ihn verlegen. Mr Ashok bemerkt das und weist seine Frau darauf hin, dass sie nicht allein seien. Pinky ist über die Bemerkung verärgert. Sie will ans Steuer, aber Ashok versucht ihr das auszureden, weil sie betrunken ist. Dass Balram die roten Ampeln beachtet, hält sie für unnötig. Bei einem Stopp werden sie von einem Kind angebettelt. Sie ist wütend darüber und befiehlt Balram auszusteigen.

Auf einer Verkehrsinsel setzt er sich unter einen Baum. Nach einer Weile kommt ein Auto auf ihn zugerast. Pinky ist am Steuer und bremst knapp vor ihm mit quietschenden Reifen. Nachdem sie ihn einsteigen ließ, rast sie, alle roten Ampeln missachtend, weiter, bis ihr etwas kleines Dunkles vor das Auto läuft. Sie ist zu betrunken, um sogleich zu bremsen und fährt noch ein paar hundert Meter weiter. Mr Ashok vermutet, sie habe einen Hund überfahren. Ohne sich weiter darum zu kümmern, verlangt er von Balram, nach Hause gefahren zu werden. Pinky will jedoch umkehren, „weil wir etwas überfahren haben“. Ihr Mann hält das nicht für erforderlich.

Daheim in der Garage putzt Balram den Wagen gründlich, damit die Blutspritzer nicht mehr zu sehen sind. An einem Reifen klebt ein Fetzen Stoff, der vermutlich von billiger Kinderkleidung stammt. Als er seinen Dienstherrn darauf aufmerksam macht, ist dieser zuerst betroffen – „was müssen solche Kinder aber auch morgens um eins durch Delhi rennen, ohne dass irgendwer auf sie aufpasst“ –, dann aber erleichtert, weil es wahrscheinlich eines der Kinder ist, die unter Brücken leben und deshalb wohl von niemand vermisst wird.

Weil Balram zur Familie gehöre, schmeichelt ihm Mr Mukesh, solle er aus Sicherheitsgründen die nächsten Tage den Wohnblock nicht verlassen. Und er bringt ihn dazu, eine „Erklärung“ zu unterschreiben, derzufolge Balram in der betreffenden Nacht allein mit dem Auto unterwegs war, „eine nicht identifizierte Person“ anfuhr, in Panik geriet und den Verletzten nicht zur Notaufnahme brachte.

Der „Storch“ bringt in Erfahrung, dass bei der Polizei keine Vermisstenmeldung vorliegt. Pinky Madam besteht jedoch darauf, die Familie des Kindes ausfindig zu machen, um eine Entschädigung zu zahlen. Seine Schwiegertochter müsse verrückt geworden sein, schimpft „Storch“, Ashok solle seine Frau besser unter Kontrolle haben.

Ein paar Tage später lässt sich Pinky Madam von ihrem Chauffeur mitten in der Nacht zum Flughafen fahren. Beim Aussteigen gibt sie Balram ein Kuvert mit Geld.

Als Mr Ashok von der Flucht seiner Frau erfährt, beschimpft er seinen Diener und ist so wütend, dass er ihn beinahe vom Balkon gestoßen hätte. Aber dann zeigt sich Mr Ashok wieder versöhnlich und schüttet seinem Bediensteten sogar sein Herz aus.

„Mein Leben läuft völlig falsch, Balram. Ich weiß es, aber ich habe nicht den Mut, es zu ändern.“

Während einer Autofahrt überlegt er, seinem Fahrer mehr Lohn zu zahlen. Balram arbeitet nun schon acht Monate für ihn und hat noch nie mehr Geld verlangt. Mr Ashok gibt ihm eine Banknote. Dass Balram auf die bisweilen auf dem Rücksitz abgestellte Tasche immer begierige Blicke warf, scheint ihm entgangen zu sein.

Unangekündigt steht eines Tages Balrams Neffe Dharam in seinem Zimmer. Er wurde von der Familie hergeschickt und hat einen Brief von Kusum dabei. Die Großmutter schreibt, Balram müsse endlich Geld schicken und solle sich fürsorglich um Dharam kümmern. Außerdem werde sie für ihn eine Hochzeit in Laxmangarh arrangieren, und wenn er nicht komme, würde sie die Braut mit dem Bus zu ihm schicken.

Dharam ist ein stiller, folgsamer Junge. Mr Ashok hat wider Erwarten nichts gegen seine Anwesenheit. Er ist jetzt überhaupt recht umgänglich. Das mag wohl auch daran liegen, dass er sich während der Zeit bis zu seiner Scheidung häufig mit Miss Uma, einer früheren Freundin, trifft.

Balram chauffiert wieder einmal zwei Beauftragte der Regierung zu seinem Dienstherrn. Da es Unstimmigkeiten darüber gibt, wie die bevorstehende Geldübergabe gehandhabt werden soll, diskutieren die beiden während der Autofahrt die Vorgehensweise – und trinken dabei eine ganze Flasche Whisky.

Als Balram in der Nacht zurück zur Wohnung fährt, schlägt er der leeren Whiskyflasche den Hals ab. Die zersplitterte Flasche legt er in das Handschuhfach; die Scherben kehrt er sorgfältig zusammen.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Am nächsten Morgen verlangt Mr Ashok, in die Stadt gefahren zu werden. Bei mehreren Banken nacheinander hebt er Geld vom Automaten ab. Die Tasche wird immer voller:

Siebenhunderttausend Rupien.
Das reichte für ein Haus. Ein Motorrad. Und einen kleinen Laden. Ein neues Leben.

Mr Ashok will weiter zum Hotel Sheraton. Balram hält unvermittelt an und gibt vor, im Schlamm stecken geblieben zu sein. Nachdem er nach einem Rad gesehen hat, bittet er seinen Dienstherrn auszusteigen, um ihm zu helfen. Dieser hätte lieber Hilfe geholt, statt in den Regen hinauszugehen. Aber sein Fahrer meint, zu zweit würden sie das schon schaffen. Balram stellt sich hinter Ashok, der sich vor das Rad gekniet hat, und rammt ihm die zersplitterte Flasche in den Schädel. Damit nicht genug, schneidet er ihm auch noch die Kehle durch.

Das Blut strömte ihm sehr rasch aus dem Hals – ich glaube, so töten die Moslems ihre Hühner.

Nachdem er die Leiche ins Gebüsch gezerrt hat, fährt er zum Bahnhof. Er hatte sich Tage vorher schon umgesehen, welcher Zug für ihn günstig wäre. Dann fällt ihm Dharam ein. Obwohl damit sein Zeitplan durcheinander kommt, bringt er es doch nicht über sich, seinen Neffen zurückzulassen.

Er holt ihn aus dem Bett mit der Neuigkeit, sie würden jetzt zusammen in Urlaub fahren. In der einen Hand trägt er die schwere Tasche, mit der anderen hält er Dharam fest. „So ein Bahnhof ist nämlich gefährlich für kleine Jungen – jede Menge zwielichtiger Gestalten.“

Balram hat sich vorgenommen, mehrmals den Zug zu wechseln und sein Ziel im Zickzack zu erreichen. Als sie am dritten Tag im Bahnhof von Hyderabad umsteigen, entdeckt er ein Fahndungsplakat mit seinem Foto, Namen, ausführlicher Personenbeschreibung, Ort und Zeitpunkt der Tat etc. Ein Mann, der sich ebenfalls das Plakat ansieht, bittet ihn, ihm vorzulesen, was darauf steht, er sei nämlich Analphabet. Balram flunkert ihm etwas von Terroristen vor.

Onkel und Neffe beenden die Flucht in Bangalore. Balram mietet sich in einer schmuddeligen Absteige ein. Jeden Tag läuft er mit Dharam vier Stunden durch die Stadt. Die Tasche voller Bargeld hat er stets dabei, weil ihm das Hotelzimmer nicht sicher genug ist. Vier Wochen lang dauert es, bis sich seine Nerven beruhigen. Er sei ja keiner, behauptet er von sich, „die einfach morden und zur Tagesordnung übergehen können, als sei nichts gewesen.“

Schließlich gibt er das schmutzige Hotelzimmer auf und zieht in eine Mietwohnung. Er überlegt sich, auf welche Art er seinen Lebensunterhalt verdienen könnte. Ihm fällt ein Gebäude auf, in dem ein Call-Center seine Büros hat. Die Angestellte telefonieren vorwiegend mit Kunden in Amerika und beenden deshalb erst um vier oder fünf Uhr morgens ihre Arbeit. Wie kommen die jungen Männer und Frauen nachts nach Hause? Busse gibt es nicht um diese Zeit und wären für die Mädchen ohnehin nicht sicher.

Das bringt Balram auf die Idee, einen Fahrservice anzubieten, der die Angestellten abends zu Hause abholt und frühmorgens zurückbringt. Er spricht bei einem Autohändler vor, dessen Autos er mieten möchte. Da er abgewiesen wird, bietet er nacheinander allen Outsourcing-Firmen in Bangalore seine Dienste an und erhält wieder nur Absagen. Bei einer Firma erfährt er, dass alle Unternehmen bereits über derartige Fahrgelegenheiten verfügten.

„Was hätte Mr Ashok in dieser Situation getan?“, fragt sich Balram. Er hätte sich wohl an die Polizei gewandt, vermutet er – und genau das hat er jetzt vor. Weil die Sprachen im Norden und Süden des Landes unterschiedlich sind, heuert er einen Dolmetscher an. Den nimmt er zu einem Polizeirevier mit und verlangt den Inspektor zu sprechen – immer auffällig seine rote Tasche schwenkend. Er möchte dem Herrn Inspektor ein kleines Zeichen seiner Dankbarkeit anbieten für all die Wohltaten, die dieser ihm erweisen werde, lässt er den Dolmetscher übersetzen und hält ihm die Tasche unter die Nase. Nachdem sich der Inspektor das Anliegen angehört und das Geld gezählt hat, verlangt er das Doppelte. Balram legt nur noch ein wenig drauf; das wird aber auch akzeptiert. Dass hinter dem Inspektor an der Wand das Fahndungsplakat mit Balrams Foto hängt, nimmt dieser schmunzelnd zur Kenntnis.

Zwei Tage später wird er von der Internetfirma angerufen, die kürzlich sein Fahrdienst-Angebot ablehnte. Eine Mitarbeiterin teilt ihm mit, dass ihr Fahrdienst-Service bedauerlicherweise nicht mehr aufrechterhalten werden könne, da sich bei einer Polizeirazzia herausgestellt habe, dass die meisten Fahrer keinen Führerschein besitzen. Für Balram ist das die Gelegenheit, mit seinen White Tiger Drivers in das Geschäft einzusteigen. Sein Auftritt bei der Polizei war offenbar hilfreich. „Und so bekam ich mein eigenes – wie heißt es auf Englisch – Start-up„, freut sich Balram. Er ist jetzt vierundzwanzig Jahre alt.

Zuerst arbeitet er selbst noch als Fahrer, aber das macht ihm bald keinen Spaß mehr. Inzwischen beschäftigt die Firma sechzehn Fahrer, die in Schichten mit sechsundzwanzig Wagen unterwegs sind. Mittlerweile besitzt er Immobilien, und wenn er seine Bankkonten mitzählt, ergibt sein Vermögen eine Summe, die fünfzehnmal so hoch ist, wie das Startkapital. Auf seine Visitenkarten lässt er seinen neuen Namen drucken: Ashok Sharma.

Eine Meldung im Radio, dass der chinesische Ministerpräsident Wen Jiabao demnächst nach Bangalore kommen werde, weil er „die Wahrheit über Bangalore erfahren“ wolle, veranlasst Balram, sich dem Politiker mit seinem Insiderwissen anzudienen. Da dieser sich außerdem mit indischen Unternehmern treffen und ihre Erfolgsgeschichten von ihnen persönlich hören möchte, fühlt Balram sich als Experte dafür berufen. Damit er „Seine Exzellenz“ von seiner diesbezüglichen Befähigung überzeugen kann, schreibt er für ihn in sieben Tagen seinen Werdegang auf.

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Der Roman „Der weiße Tiger“ beteht aus einer Abfolge von sieben E-Mails, die der Ich-Erzähler dem chinesischen Ministerpräsidenten schickt. Balrams Mitteilungen sind mit folgendem Absender versehen: „Der weiße Tiger“, ein Denker und Unternehmer, wohnhaft in der Welthauptstadt von Computertechnologie und Outsourcing, […] Bangalore, Indien.“ Das deutet schon darauf hin, dass wir es mit einem von sich überzeugten Mann zu tun haben. Durch Eigeninitiative, Ehrgeiz und dem Streben nach Unabhängigkeit brachte es der Sohn eines Rikschafahrers aus einem kleinen Dorf im Herzen Indiens zu einem erfolgreichen Unternehmer. Er verschweigt auch nicht, dass er sich dabei nicht immer legaler Mittel bediente und sogar ein Verbrechen beging. Sein Erfolg ist auf Zufälle, aber auch auf kalkuliertes Vorgehen und Bauernschläue zurückzuführen. Am Höhepunkt seiner Karriere ist er davon überzeugt, richtig gehandelt zu haben. „[…] so werde ich doch nie sagen, dass ich in jener Nacht in Delhi einen Fehler gemacht habe, als ich meinem Herrn die Kehle durchschnitt.“ Es kommt ihm darauf an, kein Diener mehr zu sein.

Aravind Adiga schildert den Werdegangs seines Protagonisten anschaulich mit den Worten eines einfachen Mannes. Dementsprechend ist der Stil häufig umgangssprachlich, und in den Dialogen wird teilweise Gassenjargon gesprochen. Da Aravind Adiga in „Der weiße Tiger“ oft die direkte Rede verwendet, stehen dem Leser die Personen lebhaft vor Augen. Überdies erfährt man einiges über die Sitten und die Lebensweise der Bevölkerung auf dem Land und den zunehmenden Einfluss des Westens auf Gesellschaft und Industrie in Indien. Deutlich herausgestellt wird die allseits praktizierte Korruption.

Gott brauchte sieben Tage, um die Welt zu erschaffen, dieser Schreiberling nimmt sich sieben Nächte, und danach liegt die schöne neue Welt Indiens in Scherben. Er schreibt Zeile um Zeile, sie fluten, wie es die Mails von Irren tun, über Hunderte von Seiten, entfalten sich als ausufernde Erzählung eines Lebens, des eigenen natürlich. […]
Eine Mordsgeschichte also. Die Umkehrung eines Bildungsromans. Balram hat keine Bildung. Er gehört zu jenen »Halbgaren«, zu den vielen jungen Indern mit rudimentärer Bildung, er schlingert sprachlich wie moralisch durchs Leben. Balram Halwai gibt allerdings die Herstellung dessen, was man den perfekten Marktmenschen nennen könnte. Der Sohn eines tuberkulösen Rikschafahrers erkennt den Eigennutz als Motor für Fortschritt. Er streift die klettende Umarmung einer Großfamilie ab, scheißt auf die Götter, stutzt die Figur Gandhi zurecht auf das, was sie noch ist, eine lächerlich kitschige Raumdekoration. Yoga dient zur Konzentration auf den nächsten bösen Schritt. Eine grimmige Satire. […]
Adiga spielt auf einer Klaviatur, die vom Slapstick über die harsche Sozialreportage bis zu Hegels Philosophie reicht.
(Susanne Mayer, „Die Zeit“, 13. November 2008)

Den Roman „Der weiße Tiger“ von Aravind Adiga gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Jens Wawrczeck (Regie: Felicitas Ott, Berlin 2009, 5 CDs, ISBN 978-3-89813-829-1).

Lebensgeschichten vor dem Hintergrund der indischen Politik und Gesellschaft erzählt auch Rohinton Mistry in dem Roman „Das Gleichgewicht der Welt“.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2012
Textauszüge: © Verlag C. H. Beck

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