Raymond Kennedy : Am Rand der Welt
Inhaltsangabe
Kritik
Die Begegnung
Jack, ein zweiundsiebzigjähriger Witwer, hat sich mit einem alten namenlosen Hund in eine abgelegene Hütte in den verschneiten Wäldern Nordamerikas zurückgezogen. Dort verfügt er weder über eine Uhr noch über ein Telefon. Sein einziger Luxus ist eine abgegriffene Zeitschrift; die darin abgedruckten Geschichten hat er schon mehrmals gelesen. Besonders lustig findet er die über Julia, deren Mann Dan eines Tages unvermittelt in Frauenkleidern über die Treppe herunterstöckelt. Warum Jack die Einsamkeit gesucht hat, erfahren wir nicht, aber vielleicht hängt es damit zusammen, dass er Angst hat, seit er vor einiger Zeit von einem Schlägertypen getreten wurde, obwohl er wehrlos am Boden lag.
Eines Nachts schreckt er auf, weil er etwas gehört hat, weckt den Hund auf, bewaffnet sich mit einem Hammer und geht hinaus. Furchtsam folgt ihm der Hund. Sie stapfen durch den Schnee zur Straße.
Es war keine normale Straße. Es war keine Straße von hier nach da. Sie kam vom Berg. (Seite 19)
Ein Auto hat Jack zwar nicht gehört, aber im Straßengraben findet er einen bewusstlosen Mann mit Glatze, der bis auf einen Schuh nackt ist und offensichtlich am ganzen Körper geschlagen und getreten worden war. Jack packt ihn unter den Achseln, schleift ihn zu seiner Hütte und legt ihn in sein Bett.
Als ein, zwei Stunden später der Morgen anbricht, erwacht der Fremde, beschwert sich rüde darüber, in welchem „Dreckloch“ er gelandet ist und verlangt ein Frühstück und ein Bad.
„Ich will baden! Ist das zu viel verlangt? Ich will Kaffee und eine Wanne mit Wasser!“ (Seite 25)
Wenn er einen ansah, duckte man sich innerlich. (Seite 41)
Wie er herkam und was passierte, weiß er nicht.
„Also, ich heiße Dick, aber ich will nicht, dass du mich so nennst. Ich will keine Vertraulichkeiten von dir.“ (Seite 27f)
Während Jack auf dem Ofen Wasser für den Kaffee und die Wanne erhitzt, Spiegeleier brät und dem Fremden etwas zum Anziehen hinlegt, erzählt dieser ihm, er sei mal ganz oben, mal ganz unten gewesen und habe beides genossen. Dann fragt Dick: „Wo willst du von hier aus hin?“ Jack versteht die Frage nicht.
Aufbruch
Nachdem er Jacks Sachen angezogen hat – die Eier weist er zurück, weil sie ihm nicht schmecken –, verlangt Dick, dass Jack ihm zeigt, in welcher Richtung es zur Stadt geht.
„Ich glaube nicht“, sagte Dick nachdenklich, „dass ich dich mitnehmen werde.“ Er schaute den alten Mann an. „Ich glaube nicht, dass du mithalten könntest.“
„Ich komme nicht mit“, sagte Jack. (Seite 66)
Jack führt den seltsamen Fremden, der es offenbar gewohnt ist, Befehle zu erteilen, durch den Schnee zum Waldrand. Obwohl Jack weder mitkommen möchte noch sich für einen Job interessiert, erklärt ihm Dick, warum er ihn nicht als Diener einstellen kann.
„Ein richtiger Lakei“, fuhr Dick fort, „ist ein blasser Abglanz seines Herrn und Meisters. Mein Diener müsste ordentlich was los haben.“ Dick ballte die Faust, um die geforderte Tatkraft zu demonstrieren. „Grips im Kopf“, sagte er. „Ordentlich Schmiss! In aller Frühe auf, meine Schuhe putzen, meine Sachen bügeln, mein Bad einlaufen lassen – immerzu lauf, lauf, lauf, Jack! Arbeit, Arbeit, Arbeit. Immer höflich, immer diskret, immer fleißig, immer freundlich. Hopp, hopp, hopp!“ Dick schlug jetzt mit beiden Fäusten Löcher in die Luft. „Telegramme, Zirkulare, Limonensaft, Mitteilungen, Aspirin, Slipper, Tinte und Feder, Kaffee, Maniküre, treppauf, treppab, lächeln, dienern, laufen! Und die ganze Zeit reiße ich dir den Arsch auf. (Seite 66f)
Schließlich marschiert Dick allein weiter. Jack kehrt um, aber dann sieht er, dass Dicks Spur nach Westen abdriftet. Er folgt ihm, ohne ihn einholen zu wollen. Allein fühlt er sich wohler. Doch plötzlich ist Dick hinter ihm und beschwert sich über die Verfolgung.
Sie gelangen an ein aufgelassenes Sägewerk am zugefrorenen Fluss. „Wer bist du überhaupt?“, fragt Dick. Genau diese Frage hatte Jack vermeiden wollen, und er beantwortet sie auch nicht. Dick fordert ihn zum Mitkommen auf, aber Jack schüttelt den Kopf. Er ist am Ende seiner Kräfte.
Da überschreitet Dick den zugefrorenen Fluss allein und verschwindet.
„Am Rand der Welt“ ist eine scheinbar geradlinige Geschichte, die von dem amerikanischen Schriftsteller und Literaturprofessor Raymond Kennedy (1934 – 2008) chronologisch in einfachen Worten erzählt wird. Die Begebenheit ist so ungewöhnlich, dass man die Novelle gebannt in einem Zug zu Ende liest, um herauszufinden, wie sie endet. Wir erfahren aber weder, was den alten Mann veranlasste, sich in die Einsamkeit zurückzuziehen, noch wer der befehlsgewohnte Fremde ist und was ihm widerfuhr. Die karge, knorrig-kraftvolle und poetisch-vielschichtige Novelle handelt vom Verhältnis zwischen Herr und Knecht, vom Willen zur Machtausübung und von freiwilliger Selbstbeschränkung, vom Gegensatz zwischen Natur und Zivilisation, vom Sterben und der Suche nach der eigenen Identität. Dick wird von Jack eingekleidet und trägt zwei verschiedene Schuhe: einen eigenen und einen von Jack. Das deutet auf ein Identitätsproblem hin, zumal Jack vor einiger Zeit ebenso getreten wurde wie Dick, unversehens in Dicks Fußstapfen steht und bei Frage „Wer bist du überhaupt?“ erschrickt. Während des Sterbens, „am Rand der Welt“, wird Jack mit dieser Frage konfrontiert. Indem er sich Dick vorstellt, setzt er sich damit ungewollt auseinander. Am Ende bleibt Jack zu Tode erschöpft zurück, und Dick verschwindet auf der anderen Seite des Flusses.
Raymond Kennedy: Bibliografie (Auswahl)
- The Romance of Eleanor Gray
- The Bitterest Age
- Ride a Cockhorse (Hoch zu Ross)
- Lulu Incognito (Lulu incognito)
- The Flower of the Republic
- Columbine
- Good Night, Jupiter
- My Father’s Orchard
- A Private Station (Am Rand der Welt)
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2006 / 2008
Textauszüge: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger