Else Jerusalem : Der heilige Skarabäus
Inhaltsangabe
Kritik
Das Rothaus
Als Katerine Režek, die Tochter eines Webers, vom Erben des Bauernhofs, auf dem sie arbeitet, geschwängert wird, erwartet sie, dass Andreas sie heiratet. Aber der reiche Bauernsohn, dessen Spitzname Prinz lautet, lacht sie nur aus und schlägt ihr vor, die Ehefrau des Großknechts zu werden. Daraufhin überredet sie Andreas‘ Nichte Janka, die in der Klosterschule ihre Freundin geworden war, mit ihr zusammen im Schutz der Nacht den Hof zu verlassen und nach Wien zu ziehen. Dort werden die beiden jungen Frauen von einer Fremden angesprochen, die sie ins „Rothaus“ bringt. Das Anwesen gehört einem pensionierten Major, der jedoch die Verwaltung der Portierin Lorinser überlässt. Im Rothaus wohnen um die zehn Prostituierte zur Miete. Als der Bauernsohn Andreas nach einer Woche anreist, um Janka und Katerine zurückzuholen, ist es bereits zu spät: die beiden sind Kontrollmädchen geworden, das heißt, sie haben nach einer entsprechenden ärztlichen Untersuchung eine Prostitutionsbescheinigung erhalten.
Katerines Tochter Milada wächst von Anfang an im Rothaus auf. Als sechsjähriges Kind hält Milada es für völlig normal, dass ihre Mutter ebenso wie die anderen „Fräulein“ im Rothaus mit wechselnden Männern von der Straße zurückkommen. Zu Janka sagt sie einmal: „Wenn du nicht lachst, nachher geht dir keiner mit.“ Sie ist stolz auf ihre Mutter, die als begehrteste Hure in der Rothausgasse gilt. Hin und wieder bietet ein Freier Katerine an, sie aus dem Milieu zu holen und sogar zu ehelichen, aber das lehnt sie entschieden ab, denn das würde ihre Rache an Andreas beenden. Dafür nimmt sie ihre Selbstzerstörung in Kauf. Weil Katerine ihre Tochter nicht lieben kann, ist Janka mehr und mehr für Milada zu einer Ersatzmutter geworden. Janka kümmert sich nicht nur um das Kind, sondern sie kocht, wäscht und putzt auch für Katerine. Janka erreicht, dass die Sechsjährige in einer leer stehenden Dachkammer schlafen darf. Außerdem setzt sie sich dafür ein, Milada einen Schulbesuch zu ermöglichen, und als Katerine widerstrebend nachgibt, geht Janka sogleich zu einer Klosterschule. Aber dort werden keine Kinder von Prostituierten aufgenommen. Immerhin rät man Janka, das Mädchen in einer dreiklassigen Volksschule für verwahrloste Kinder anzumelden, aus der die jeweils beste Schülerin eines Jahrgangs in die Klosterschule übernommen wird.
Kurz bevor Milada im Alter von elf Jahren die Schule verlässt, wird die Rothausgasse gepflastert und mit Bürgersteigen ausgestattet. Die Stadt stellt Gaslaternen auf. Parallel dazu verändert sich die Verwaltung: Es gibt neue Vorschriften. Ohne Gewerbescheine, Polizeibücher und ärztliche Bescheinigungen, nach denen bis dahin nur sporadisch gefragt wurde, geht nichts mehr. Auch die Portierin Lorinser muss ihren ohne Genehmigung betriebenen Trödelladen schließen. Währenddessen verkauft der Major das Rothaus.
Elise Goldscheider
Die neue Besitzerin heißt Elise Goldscheider. Als junge Frau hatte sie David Goldscheider geheiratet. Und weil sie im Trödelladen seiner Mutter Judes sowohl die Angestellte als auch den Praktikanten ersetzen musste, erhielt sie zweimal pro Woche Privatunterricht von dem ehemaligen Gymnasial-Supplenten Dr. Arnold Egidy Horner. In dem Jahr, in dem ihre Schwiegermutter starb, gebar Elise Goldscheider eine Tochter, die nach dem Willen der Großmutter Miriam heißen sollte, von Elise jedoch den Namen Alma Lucie erhielt. Während David Goldscheider immer lethargischer wurde und schließlich an Lungenblutung starb, führte seine Frau den vergrößerten Laden. Sechs Monate nach dem Tod ihres Mannes ließ die Witwe die sechsjährige Tochter evangelisch taufen und schickte Alma Lucie in ein renommiertes Internat in Dresden. Zuletzt besaß Elise Goldscheider eine Weinstube mit Damenbedienung. Die italienische Schenkmamsell überredete ihren Geliebten, den Polizeiagenten Theobald Sucher, die Weinstube für sie zu pachten. Theobald Sucher verhandelte darüber mit Elise Goldscheider und bot ihr im Gegenzug für einen zehnjährigen Pachtvertrag mit Vorkaufsrecht beim Kauf des Rothauses eine entsprechende Konzession an. Außerdem sorgte er dafür, dass neue Vorschriften erlassen wurden. Während Elise Goldscheider bis nach Hamburg reiste, um sich in gut geführten Bordellen umzusehen und zu lernen, worauf es bei der Führung solcher Etablissements ankommt, schickte der Polizeiagent Kommissäre los, die in der Rothausgasse ohne Genehmigung anschaffende Straßenmädchen aufgriffen. Durch Maßnahmen wie diese zogen die Preise der ordentlich gemeldeten Prostituierten im Rothaus an.
Elise Goldscheider führt das Rothaus nicht als Vermieterin, sondern als Bordellwirtin. Gleich zu Beginn schickt sie zwei Drittel der Prostituierten fort, darunter auch Janka, und ersetzt sie durch neue Frauen, die sie unter Angeboten aus ganz Europa aussucht. Die Portierin Lorinser wird ebenfalls entlassen. Ihre Nachfolgerin heißt Polifka. Während es in Bordellen durchaus üblich ist, dass den Prostituierten die Oberbekleidung weggesperrt wird, damit sie nicht fliehen können, duldet Elise Goldscheider in ihrem Salon keine nachlässig gekleideten Mädchen. Mit höheren Preisen schreckt sie das Publikum ab, das sie nicht haben möchte. Es dauert nicht lang, bis das Rothaus in den besseren Gesellschaftskreisen als gepflegtes und anspruchsvolles Etablissement empfohlen wird. Für Abwechslung sorgt Elise Goldscheider, indem sie in kurzen Abständen eines oder mehrere der Mädchen gegen Neuzugänge austauscht.
Katerine ist inzwischen Anfang 30. Sie nennt sich Carmen, hat ihr Haar rot gefärbt und zu trinken angefangen. Elise Goldscheider schiebt sie nach Braunau ab, wo Markus Schleicher, der Besitzer der American Bar, die Prostituierte dreimal pro Woche an einen abscheulichen Privatzirkel vermietet. Als die Kunden murren, schickt Markus Schleicher die Prostituierte nach Wien zurück und behält einen Großteil ihrer Garderobe als Entschädigung. Katerine Režek stirbt schließlich in einem Armenspital.
Milada, die als Hausmädchen im Rothaus bleiben durfte, ist zu diesem Zeitpunkt 14 Jahre alt. Zwei Jahre später leiht Elise Goldscheider sie für ein halbes Jahr an die von Theobald Sucher für seine Geliebte gepachtete Weinstube aus, damit sie Erfahrungen im Umgang mit Männern sammelt.
Als Milada ins Rothaus zurückkommt, bringt Elise Goldscheider sie mit ihrem früheren Privatlehrer Arnold Horner zusammen. Der zynische Misanthrop, Stammgast im Rothaus und in anderen Bordellen wie dem Salon „Agular“, in dem Damen der oberen Gesellschaft mit Kutschern zusammengebracht werden, erweitert nicht nur Miladas fundamentale Schulbildung, sondern regt sie auch dazu an, selbstständig und kritisch zu denken. Seine nihilistische „Philosophie“ besteht aus einem anarchistischen Wirrwarr. Seinen Abscheu vor der bürgerlichen Ordnung erläutert er Milada am Beispiel des Skarabäus:
„So ein Mistkäfer zum Beispiel ist gar nichts Übles … Der hat das Savoir vivre! Freut sich nur seines goldenen Glanzes und achtet nicht darauf, dass er den andern in die Nase stinkt.
Hast du schon einen richtigen Mistkäfer, – gelehrt genannt: Skarabaeus koprophagus – gesehen? […] Wunderschön liebelich, – jedem Auge ein Vergnügen. Nimmst du ihn aber in die Hand, da gießt er ein dunkelbraunes Säftchen aus dem grüngoldenen Afterloch, und in deine neugierige Nase steigt ein niederträchtiger Gestank … Merkste was? Das ist die Idee des Düngerhaufens, die sich hier materialisiert.
[…] Misthaufen braucht ihr … Und was wären die doch hässlich ohne mich …“Alles, was Leben besaß, musste verkommen und verderben.
Horner träumt von der Zerstörung der bürgerlichen Gesellschaft durch die Prostituierten:
„[…] euch Weibern mit den ausgeschlafenen Gehirnen, euch gehört die Zukunft.“
Zu Elise Goldscheider sagt er:
„Du könntest aus dem Hetärenproletariat eine soziale Macht großziehen, wenn es dir noch der Mühe wert schiene.“
Milada erweist sich als gute Schülerin. Während sie sich bisher lediglich über die im Rothaus geleisteten Dienste definierte, entwickelt sie nun ein Selbstbewusstsein. Und gerade dadurch gelingt es ihr, sich von ihrem Lehrer zu emanzipieren und zur Wirtschafterin des Rothauses aufzusteigen. Dr. Arnold Egidy Horner endet schließlich in einer Irrenanstalt, und als Milada ihn dort noch einmal besucht, erkennt er sie nicht mehr.
Obwohl das Rothaus aufgrund des geschickten Geschäftsgebarens sehr lukrativ ist, fragt sich Elise Goldscheider nach zehn Jahren, welchen Sinn das alles habe. Was nützt ihr das viele Geld? Schließlich verkauft sie das Rothaus.
Josefine Aglaia von Miller
Josefine Aglaia von Miller, die neue Besitzerin, war 25 Jahre lang Wirtschafterin eines katholischen Landpfarrers in der Steiermark. Ihr Vater, ein Rittmeister, hatte sich verspekuliert und ruiniert. Das vermutlich vom Geistlichen gezeugte Kind wurde als Nichte ausgegeben, um über die Mutterschaft des „Fräulein Fini“ hinwegzutäuschen. Nach dem Tod des Pfarrers erbte Josefine von Miller zwei Sparbücher und ein abgelegenes Häuschen auf einem Bergplateau. Aber sie ertrug die Einsamkeit nicht lange und wandte sich deshalb an Joachim Keßler, einen Wucherer, der bereits ihren Vater beraten und ihr damals die Stelle in der Landpfarrei vermittelt hatte. Joachim Keßler schlug ihr vor, das Rothaus in Wien zu kaufen. Ein Bordell zu betreiben, passt zwar nicht zu ihrem Selbstverständnis, aber in ihrer Habgier ahnt Josefine von Miller den möglichen Profit, und den will sie verwenden, um sich ins Emauskloster der Kongregation der ehrwürdigen Kreuz-Jesu-Schwestern in der Steiermark einzukaufen.
Während Elise Goldscheider Kontakte in ganz Europa pflegte, um die schönsten Mädchen zu bekommen, argwöhnt Josefine von Miller, dass die Geschäftspartner danach trachten, sie zu übervorteilen. Sie hält es auch für unnötig, die Prostituierten im Rothaus von Zeit zu Zeit auszuwechseln und sie gut zu kleiden. Außerdem spart sie sich die Schmiergelder für Polizei und Behörden.
Milada ist inzwischen 21 Jahre alt. Josefine von Miller begreift, dass sie auf die im Rothaus aufgewachsene kluge Wirtschafterin angewiesen ist, weil sie selbst nicht über die entsprechende Erfahrung verfügt. Also überlässt sie Milada die Organisation ebenso wie die Verhandlungen mit Agenten und Lieferanten. Aber sie nimmt sich vor, die Wirtschafterin fortzuschicken, bevor sie ihr über den Kopf wächst. Zunächst bleibt ihr allerdings nichts anderes übrig, als Miladas Forderung nachzugeben und ihr neben 20 Prozent vom Gewinn ein Vorkaufsrecht für das Rothaus zuzugestehen.
Zu den Stammgästen des Rothauses zählt auch der angehende Arzt Dr. Gustav („Gust“) Brenner, der einmal einer ohnmächtig gewordenen Prostituierten hilft. Die Idee, von der Gesellschaft Ausgestoßenen beizustehen, gefällt dem Sohn eines steinreichen Wiener Eisenhändlers. Obwohl er Huren verachtet und überzeugt ist, dass sie nicht aus Not, sondern aus Veranlagung dazu geworden sind, verliebt er sich in Milada und verfällt auf den Gedanken, sie aus dem Milieu zu befreien. Allerdings stören ihn ihr Selbstbewusstsein und ihre Eigenwilligkeit. Milada würde sich dem Geliebten gern hingeben, aber sie verweigert sich ihm, weil sie an widerwärtige Kopulationen mit Freiern denken muss und dies nicht mit der Liebesbeziehung in Verbindung bringen mag.
Gustav Brenner sagt einmal:
„Was sind unsere Ideen, unsere Emotionen, unsere Willensdemonstrationen, unsere großen Taten denn anderes, als farbige Blasen, die über der Kloake unseres Daseins emporsteigen und beim ersten Druck zerplatzen wie Flöhe.“
Als Josefine Aglaia von Miller 52 Jahre alt ist, beauftragt sie Milada, in ihrem Namen um Aufnahme im Emauskloster zu bitten. Die Verwalterin lässt keinen Zweifel daran, dass die Aspirantin erst einmal ihr gesamtes Vermögen der Kongregation der ehrwürdigen Kreuz-Jesu-Schwestern überschreiben muss, bevor über einen Aufnahmeantrag entschieden werden kann.
Nelly Spizzari
Während Josefine von Miller noch auf einen positiven Bescheid wartet, verlässt sie das Rothaus und verkauft es der Jüdin Nelly Spizzari, einer ehemaligen Tänzerin. Die Ehefrau des im Irrenhaus lebenden Weinagenten Jochele Spitzer bringt einschlägige Erfahrungen mit, denn sie betreibt einen schwungvollen Mädchenhandel. Im Rothaus stellt sie den zehn Prostituierten fünf Betten in zwei Zimmern zur Verfügung. Sie fördert Zank und Zuträgerei, nimmt den Fräulein alles ab und führt Leibesvisitationen durch, wenn sie eine der Huren verdächtigt, Trinkgelder versteckt zu haben.
Zu den Prostituierten im Rothaus gehört Leopoldine Schwarza alias Lolo. Sie stammt aus einer guten Familie in Prag, wurde von einer Hofrätin als Dienstmädchen beschäftigt und freundete sich mit deren Tochter an. Als Karl, der Sohn der Hofrätin, Leopoldine schwängerte, wurde sie entlassen. Karl brachte sie zu der Engelmacherin Kratochwil. Nach der Abtreibung führte Leopoldine der auf einen Rollstuhl angewiesenen Frau Kratochwil den Haushalt und kellnerte einige Zeit in einem Bordell in Budweis. Nachdem es dort zu Auseinandersetzungen gekommen war, nahm ihr der Bordellbesitzer David Fischer das angesparte Geld ab und schickte sie nach Wien ins Rothaus. Aus Mitleid mit Lolo überredet Milada Gust, sich für das arme Mädchen einzusetzen. Aber bei der Polizei wird Gustav Brenner wegen seines Umgangs mit Prostituierten verhöhnt und mit Drohungen eingeschüchtert. Kurz darauf wird Lolo auf Veranlassung eines korrupten Beamten im Rothaus festgenommen und nach Prag abgeschoben.
Weil Gustav Brenner befürchtet, dass sein einflussreicher Vater die Beziehung mit einer im Bordell aufgewachsenen Frau unterbinden werde, mietet er eine Wohnung in Berlin und schlägt sowohl Milada als auch dem befreundeten Kommilitonen Joszi Wallner vor, mit ihm dort einzuziehen. Milada schwärmt er vor, dass sie in Berlin Medizin studieren könne. Und er behauptet, er habe dem Oberst seines Regiments das Ehrenwort geben müssen, die skandalöse Liebschaft aufzugeben oder Wien zu verlassen. Milada wundert sich, weil Gust bis dahin noch nie etwas vom Militär erzählte.
Joszi Wallner, der mit dem besorgten Vater seines Freundes konspiriert, will den Umzug nach Berlin verhindern. Er bringt Gust dazu, aus Wien abzureisen, ohne sich von Milada zu verabschieden. Bevor Gust wegfährt, fordert er Milada in einem Brief auf, zu ihm nach Berlin zu kommen, aber statt des Briefes schickt Joszi Wallner Milada die Einladung zu einem Gespräch. Als sie ihm von dem angeblichen Offiziersehrenwort ihres Geliebten erzählt, lacht Joszi und versichert, dass Gust nie beim Militär gewesen sei. Dann bietet er Milada im Namen von Gusts Vater 20 000 Kronen in bar für einen Abschiedsbrief an.
Neuanfang
Mit dem Geld und ihren Ersparnissen erwirbt Milada von Josefine Aglaia von Miller, die noch in Wien auf eine Zusage des Klosters wartet, deren Häuschen „auf der lichtigen Höh“ in der Steiermark. Sie fährt mit dem Zug hin und beauftragt den Advokaten Dr. Stüber, den Umbau des Anwesens in ein Kinderheim zu regeln.
Nach einer Weile besinnt sie sich der unglücklichen Prostituierten im Rothaus und kehrt noch einmal zurück, um nach dem Rechten zu sehen.
Unerwartet taucht Gustav Brenner in dem Bordell auf. Ohne Milada zu beachten, täuscht er Julie („Jultsch“) Hintersberger vor, sie gefalle ihm.
Jultschs Vater, ein verwitweter Bauer in Groß-Öding im Waldviertel, bekommt von Nelly Spizzari regelmäßig Geld für die Dienste seiner Tochter geschickt. Das Geschäft wurde von ihrer Vermittlerin Bacher eingefädelt. Nelly Spizzari beabsichtigt, aus Jultschs Jungfräulichkeit einen zusätzlichen Gewinn zu ziehen.
Nun ist es Gustav Brenner, der Tag für Tag zu Jultsch ins Rothaus kommt und ihr Geschenke mitbringt, bis sie überzeugt ist, dass er sie liebt und heiraten möchte. Eines Tages fährt er mit ihr in die Praterauen. Von dort kommt sie schluchzend zurück: Gustav Brenner hat sie defloriert und ihr dann klargemacht, dass sie ihn nicht weiter interessiert. Bezahlt hat er mit einem Goldstück, das eine Gravur aufweist: „Frühling 1890 – Dem Gust von Milada“. Das Ganze war nichts als Rache.
Milada erreicht, dass Jultsch sich nicht mehr zu prostituieren braucht, sondern im Rothaus als Hausmädchen beschäftigt wird. Als Jultsch merkt, dass sie schwanger ist, will sie sich das Leben nehmen, um der Schande zu entgehen, aber Milada verspricht ihr, sie auszulösen und als Wirtschafterin mit in die Steiermark zu nehmen. Sie wird Jultsch helfen, das Kind in dem neuen Heim aufzuziehen.
Else Jerusalem beschäftigt sich in ihrem Roman „Der heilige Skarabäus“ mit Prostitution und Mutterschaft. Sie verfolgt den Aufstieg und Niedergang des Wiener Bordells Rothaus und zugleich die Entwicklung der Hauptfigur Milada Režek, die dort als Kind einer Prostituierten aufwächst und die Tätigkeit ihrer Mutter Katerine deshalb zunächst für etwas völlig Normales hält.
Katerine ist von einem Bauern schwanger, als sie sich mit ihrer Freundin Janka in einem als „Rothaus“ bekannten Bordell einmietet. Sie rächt sich damit am Vater des Kindes, der sie auslachte, als sie von Heirat sprach. Während Katerine vom Land in die Metropole zieht, sich dort prostituiert und selbst zerstört, geht ihre Tochter Milada den umgekehrten Weg: Durch Bildung erstarkt sie innerlich, sie befreit sich vom Zwang zur Prostitution, verlässt schließlich das Großstadtbordell und zieht in die Berge, um dort ein Kinderheim zu gründen.
Anstelle von Katerine, die ihre Tochter nicht lieben kann, wird ihre Freundin Janka zu einer Ersatzmutter für das Kind Milada. Das Ende des Romans „Der heilige Skarabäus“ spiegelt dieses Verhältnis: Milada wird zur Ersatzmutter für das Kind der Prostituierten Jultsch aus dem Rothaus und vieler anderer Kinder. Bei diesem Ende handelt es sich allerdings um eine Utopie: Die Frauen gründen in einer abgelegenen Gegend außerhalb der bürgerlich-patriarchalischen Gesellschaft eine Gemeinschaft ohne Männer.
Bei der Besichtigung des Hauses auf einem Bergplateau in der Steiermark, das Milada zum Kinderheim machen will, trifft sie übrigens auf den Enkel Ditterli der promiskuitiven Fattinger Rosl.
[…] die zwölf uneheliche Kinder hatte „und a jeds von an andern Vatta“, eine Lebensform, die dem weiland Fräulein Fini [Josefine Aglaia von Miller] genug Seufzer des Ingrimms und zorniger Verwünschungen gekostet hatte. Die älteste der Mädeln, die Jula, war aus der Art geschlagen, denn sie hatte geheiratet. – Und der Ditterli da war ihr rechtmäßiger Jung‘. – Ein aufgeweckter Jung‘, der auf nichts stolzer war, als auf „an eigena Vota“.
„Der heilige Skarabäus“ beginnt als naturalistischer Dirnenroman, wird rasch zum Bildungsroman und am Ende zu einer von Grundüberzeugungen der Autorin und der bürgerlichen Frauenbewegung getragenen gesellschaftskritischen Utopie. Else Jerusalem hat mit „Der heilige Skarabäus“ formal und inhaltlich überwältigende Literatur geschaffen. In die eigentliche, chronologisch entwickelte Handlung sind nicht nur Rückblenden, sondern auch beispielhafte Biografien von verschiedenen Prostituierten eingeflochten. Else Jerusalem inszeniert nicht durchgängig, löst jedoch viel in Dialogen auf, und erzählt auf eine ungemein lebendige und eindringliche Art. Dabei charakterisiert sie die Figuren nicht nur durch ihr Verhalten, sondern vor allem auch durch die Sprache.
Dass der schön anzuschauende Skarabäus und sein widerlicher Nährboden für Prostitution und Gesellschaft stehen, liegt auf der Hand. Der Philosoph Arnold Egidy Horner widmet dem Mistkäfer sogar ein Gedicht: „Gegrüßet seiest du, heiliger Skarabäus!“
Als Else Jerusalem den Roman „Der heilige Skarabäus“ schrieb, wurde ein Drittel der Kinder in Wien unehelich geboren, obwohl das damals sowohl die Mütter („gefallenes Mädchen“) als auch ihre Sprösslinge („Bastard“) stigmatisierte. Während voreheliche sexuelle Erfahrungen zum Selbstverständnis der Männer gehörten und von der Gesellschaft toleriert wurden, verloren unverheiratete Frauen mit dem Hymen ihre Ehre. Sie wurden von der Familie verstoßen und von der Gesellschaft verachtet. Falls der Dienstherr oder dessen Sohn der Vater des Kindes war, verlor die Schwangere oftmals ihre Anstellung und geriet dadurch obendrein in finanzielle Not. Else Jerusalem kritisiert in „Der heilige Skarabäus“ diese patriarchalische Ordnung, in der Frauen von Männern als Sexualobjekte wahrgenommen werden, Lust empfindende Frauen aber zugleich als Huren gelten und weibliche Sexualität nur innerhalb der Ehe zur Fortpflanzung dienen soll. Else Jerusalem kritisiert die Doppelmoral der Gesellschaft und spart dabei die katholische Scheinheiligkeit nicht aus.
Woher nahm Else Jerusalem das detaillierte Wissen über die Verhältnisse in Bordellen? Wahrscheinlich gewann sie es aus den Zeugenaussagen im Fall Regine Riehl. Als Abgeordnete der Frauenliga gegen den Menschenhandel beobachtete sie den am 2. November 1906 in Wien gegen Regine Riehl eröffneten Gerichtsprozess. Die protestantisch getaufte Jüdin hatte jahrelang ungehindert ein Bordell mit etwa 20 Prostituierten in der Grünentorgasse betrieben. Sie sperrte den kasernierten Freudenmädchen die Oberbekleidung weg, um sie an der Flucht zu hindern und bestrafte Aufmüpfigkeit mit Peitschenhieben. Aber sie achtete auf ein gutes Einvernehmen mit Polizei und Behörden. Legendär war ihr Spruch: „Madeln, verführt’s mir den dicken Kommissär, aber nehmt’s kein Geld von ihm.“ Erst als die Zeitung „Illustrirtes Wiener Extrablatt“ die Polizei „aus dem Beischlaf weckte“ (Karl Kraus), musste Regine Riehl vor Gericht und wurde zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt, während der Wiener Polizeipräsident die korrupten Beamten als Ausnahmen bezeichnete.
Karl Kraus ereiferte sich vor allem darüber, dass sich einzig und allein die Bordellwirtin, nicht aber Vertreter von Polizei und Behörden vor Gericht verantworten mussten:
Die Besitzerin eines konzessionierten Bordells ist der wirtschaftlichen und gesundheitlichen Ausbeutung ihrer Mädchen beschuldigt. […] Eine Affäre amtlicher Korruption […], öffentlichen Aufsehens würdig. Würdig der Empörung, doch auch einer zweckbewussten Erledigung, die die zweckvergessene Aufsicht schwerer zu treffen hätte, als das Raubsystem einer konzessionierten, privilegierten und mehrfach ausgezeichneten Kupplerin. Aber das „Aufsehen“, das in dieser trostlosen Stadt Kunst und Leben nach ihren stofflichen Werten würdigt, hat vor dem Polizeiskandal ohnegleichen und vor der besonderen Schuld einer Angeklagten den Pikanterien der Bordellsphäre den Vorzug gegeben. […]
Es ist recht uninteressant, ob’s in einer Großstadt eine Ausbeuterin mehr oder weniger gibt. Aber wenn die Polizei schon nicht als Angeklagte im Gerichtssaal saß, so hätte wenigstens eine Amtshandlung als Milderungsgrund für die Schuld einer Räuberin der Kulturgeschichte überliefert werden sollen. […]
Die Polizei handelt als Exekutive der bürgerlichen Moral, wenn sie den Gassenstrich durch die Zucht eines geschlossenen Hauses verdrängen will, dessen Besitzerin sie das „Halten von Prostituierten“ unter Kautelen gestattet, unter denen selbst das „Halten von wilden Tieren“ erlaubt wäre. […]
Unter dem Bannfluch der christlichen Moral wird der außereheliche Geschlechtsverkehr zur Sünde, unter dem Damoklesschwert der bürgerlichen Verachtung wird die Prostitution zum „notwendigen Übel“ und unter dem Richtbeil des Gesetzes wird die Kuppelei zum Verbrechen. […] Das Weib, das seinen Körper verkauft, und die Kupplerin, die sich mit dem berechtigten Lohn für die Bettmiete begnügt, stehen außerhalb der Gesellschaft. Aber im Innersten dieses Asyls haust die räuberische Bordellwirtin, die die Meinung der bürgerlichen Wohlanständigkeit über die Prostitution mit eherner Härte zum Ausdruck bringt! […]
Regine Riehl wird für das Urteil, das sie betroffen hat, so wenig Verständnis aufbringen, wie die rächende Moral für die Welt der Regine Riehl […]. Diese Angeklagte sieht sich plötzlich in einen Konflikt mit der Gesellschaftsordnung verwickelt, mit der sie bisher auf dem besten Fuß gelebt hat. […] Der Ausruf, den sie im Gerichtssaal tat: „Herr Präsident, ich habe aus diesen Mädchen erst Menschen gemacht!“ war der Protest einer stolzen Seele, die Undank erfahrt. Sie zahlte pünktlich ihre Steuer an den Staat, und wenn sie den Herren von der Steuerbehörde den Vorzugspreis von einem Gulden gewährte, so war dies nicht der Versuch einer Bestechung, sondern die Opferwilligkeit einer Patriotin, die auf ihre Weise zur Linderung des Beamtenelends beiträgt. Und kein Polizist ging unbeschenkt von ihrer Schwelle …
(Karl Kraus: Der Fall Riehl, „Die Fackel“, Nr. 211, 13. November 1906)
Der 1909 veröffentlichte Roman „Der heilige Skarabäus“ dreht sich um Prostitution, ja, aber Else Jerusalem bleibt dabei diskret und ihre Darstellung ist frei von jeglicher Anrüchigkeit. Hätte Emile Zola das Buch geschrieben, wäre es gewiss wohlwollend aufgenommen worden. Aber – und das war bezeichnend für die von Else Jerusalem kritisierte patriarchalische Gesellschaft – eine weibliche Autorin, die sich mit solchen Themen beschäftigte, löste damals einen Skandal aus. Vielleicht machte gerade das – und weniger das hohe literarische Niveau – „Der heilige Skarabäus“ zum Bestseller: Bis 1926 wurden 40 Auflagen gedruckt, davon 20 bereits im Erscheinungsjahr.
Die Nationalsozialisten setzten das Gesamtwerk der inzwischen in Argentinien lebenden Wiener Schriftstellerin Else Jerusalem 1938 auf die Liste des „schädlichen und unerwünschten Schrifttums“. Der Amsel-Verlag in Zürich druckte zwar 1954 noch eine Ausgabe von „Der heilige Skarabäus“, aber der großartige Roman geriet in Vergessenheit. Dass sich das ändert, ist zu hoffen, denn im Oktober 2016 druckte der zwei Jahre zuvor in Wien von dem 1990 in München geborenen Verleger Albert C. Eibl gegründete DVB Verlag (Das vergessene Buch) eine von der Grazer Literaturprofessorin und Psychotherapeutin Brigitte Spreitzer herausgegebene Neuausgabe. Das geschmackvoll gebundene Buch enthält auch ein Vorwort von Else Jerusalems Enkelin Ines Weyland. und eine von Brigitte Spreitzer verfasste 65 Seiten lange, in mehrjähriger Forschungsarbeit erstmals aus den Quellen recherchierte Biografie der Schriftstellerin Else Jerusalem („Else Jerusalem – eine Spurensuche“).
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2016
Textauszüge: © DVB Verlag
Else Jerusalem (kurze Biografie)