Jaume Cabré : Die Stimmen des Flusses

Die Stimmen des Flusses
Originalausgabe: Les veus del Pamono Proa, Barcelona 2004 Die Stimmen des Flusses Übersetzung: Kirsten Brandt Insel Verlag, Frankfurt/M 2007 Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt/M 2008 ISBN: 978-3-518-46049-8, 669 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die unglücklich verheiratete Gymnasiallehrerin Tina Bros findet 2002 hinter der Schiefertafel einer abbruchreifen Schule eine Zigarrenkiste mit Aufzeichnungen des am 18. Oktober 1944 in der Kirche getöteten Dorfschullehrers Oriol Fontelles. Dessen Schicksal lässt sie nicht mehr los. Wer waren die Mörder? Warum musste er sterben? Tina befragt Zeitzeugen, um mehr über Oriol zu erfahren ...
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Kritik

Jaume Cabré entwickelt die komplexe Handlung in "Die Stimmen des Flusses" nicht chronologisch, sondern wechselt immer wieder von einem Erzählstrang zum anderen, nicht selten zwischen zwei Sätzen.
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Als die siebenundvierzigjährige Lehrerin Cristina („Tina“) Bros Esplugues ihren Ehemann Jordi mit einer anderen Frau aus der Pension „Ainet“ kommen sieht, findet sie ihren Verdacht bestätigt, dass sie von ihm betrogen wird. Bei der Geliebten handelt es sich um Joana Rosa Candàs Bel, die Sekretärin der Schule, an der sowohl Tina als auch Jordi unterrichten. Einige Zeit später überrascht sie die beiden in einem Restaurant und verlangt von ihrem Mann, dass er seine Sachen packt und fort ist, wenn sie nach Hause kommt: Nach siebenundzwanzig Jahren Ehe trennt Tina sich von ihm.

Kurz zuvor verlor sie auch ihren Sohn, denn Arnau ließ sich unerwartet ins Benediktinerkloster von Montserrat aufnehmen. Weder die Eltern noch seine Freundin Mireia konnten ihn davon abhalten.

Etwa zur gleichen Zeit – im Dezember 2001 – erhält Tina von der Schulleiterin Maite den Auftrag, in das Pyrenäendorf Torena zu fahren: Bevor dort das alte Schulhaus abgebrochen wird, soll Tina nach Material für die geplante Ausstellung über den Wandel der Lehrmittel im Lauf der Zeit suchen. Ein Bauarbeiter übergibt Tina eine Zigarrenkiste, die er in einer Wandnische hinter der Schultafel fand. Sie enthält vier vollgeschriebene Schulhefte.

Sie enthalten einen langen Brief des früheren Dorflehrers von Torena, José Oriol Fontelles Grau (1915 – 1944), an seine Tochter. Der Text beginnt mit dem Satz „Geliebte Tochter, ich kenne nicht einmal deinen Namen, aber ich weiß, dass es dich gibt.“ Tina liest weiter. Oriol befürchtete offenbar, dass ihn seine Ehefrau, die ihn verlassen hatte, als feigen Falangisten darstellte, und er wollte dieses Bild korrigieren. Den Brief muss er unmittelbar vor seinem Tod am 18. Oktober 1944 geschrieben haben. Nachdem Tina ihn gelesen hat, tippt sie den Text ab und speichert ihn in ihrem PC. Das Geschick des Lehrers von Torena lässt sie nicht mehr los: Sie befragt Menschen, die ihn kannten, um mehr über ihn herauszufinden. Dem Steinmetz Jaume Serrallac, der noch ein Kind war, als Oriol getötet wurde, gibt sie einen Ausdruck ihrer Abschrift zu lesen. Zuerst hält er den Text für gefälscht oder gelogen, aber dann hilft er Tina bei ihren Erkundungen.

Oriol Fontelles war 1943 im Alter von achtundzwanzig Jahren mit seiner schwangeren Ehefrau Rosa Dachs nach Torena gekommen und hatte sich dort als neuer Lehrer im Schulhaus eingerichtet. Für den Kriegsdienst galt er wegen eines Magenleidens als ungeeignet.

Ein Vierteljahr nach seiner Ankunft beauftragte ihn die gleichaltrige Dorfschönheit Elisenda Vilabrú Ramis, die sich zur heimlichen Herrscherin in Torena entwickelte, ein Porträt von ihr zu malen. Der Maler und sein Modell verliebten sich auf den ersten Blick, gestanden es sich jedoch zunächst nicht ein.

Elisenda wurde 1915 in Torena geboren. Als sie sieben Jahre alt war, verließ ihre Mutter Pilar Ramis die Familie. Ihr Vater Anselm Vilabrú Bragulat hatte 1924 seinen Offiziersdienst quittiert. Sein Bruder August Vilabrú Bragulat (1878 – 1970), ein in La Seu d’Urgell lebender Mathematiker und katholischer Geistlicher, sorgte dafür, dass Elisenda vom Internat der Theresianerinnen von Barcelona aufgenommen wurde und eine exzellente Bildung bekam.

Am 20. Juli 1936 überfielen die anarchistischen Dorfbewohner Josef Mauri, Joan Bringué und Rafael Gassia Elisendas Elternhaus, die Casa Gravat, und ermordeten ihren Vater und ihren vier oder fünf Jahre älteren Bruder Josep. Keiner aus dem Dorf hatte versucht, es zu verhindern. Bibiana, die von den Mördern zur Seite gestoßene Haushälterin in der Casa Gravat, verriet Elisenda deren Namen.

Die junge Frau beauftragte daraufhin den Schmuggler und Spitzel Valentin Targa Sau aus Altron (1902 – 1953), ihren Vater und ihren Bruder zu rächen. Dafür durfte er mit ihr schlafen – allerdings nur ein einziges Mal – und bekam sehr viel Geld. Außerdem sorgte Elisenda dafür, dass er zum Bürgermeister von Torena gewählt wurde.

Am 28. Februar 1938 heiratete Elisenda Vilabrú Ramis in San Sebastián Santiago Vilabrú Cabestany. Während sie weiterhin in der Casa Gravat in Torena wohnte, zog Santiago es vor, in Barcelona zu leben und zu arbeiten.

Ein halbes Jahr war Oriol Lehrer in Torena, da überredete ihn der Bürgermeister Valentin Targa Sau, der zugleich die Falangisten in Torena anführte, sich der Bewegung anzuschließen. Rosa fand das entsetzlich und warf ihrem Mann vor, ein feiger Mitläufer zu sein.

Um herauszufinden, wo sich der Widerstandskämpfer Joan Esplandiu Carmaniu („Ventura“) aufhielt, schreckte Targa nicht davor zurück, dessen vierzehnjährigen Sohn Joanet („Ventureta“) festzunehmen, und Oriol musste seine Kameraden von der Falange begleiten. Weil der verängstigte Junge nicht wusste, wo sein Vater war, brachte ihn der Bürgermeister mit Unterstützung seiner Handlanger Andreu Balansó und Arcadio Gómez Pié zum Hang von Sebastià und erschoss ihn dort. (Joan hatte die Nachricht von der Gefangennahme seines Sohnes in Toulouse erhalten und eilte sofort nach Torena, kam aber zu spät.)

Nach der Ermordung des Vierzehnjährigen durch die Falangisten wollte Rosa Dachs nichts mehr mit ihrem Mann zu tun haben. Sie verließ Torena noch im selben Jahr (1943). Einige Monate später teilte sie ihm in einem Brief mit, sie habe eine Tochter geboren. Aber sie verriet ihm nicht, wo sie sich aufhielt.

Oriol wollte nicht, dass seine Tochter ihn für einen feigen Mitläufer oder gar einen überzeugten Falangisten hielt. Um Mut und politische Haltung zu beweisen, nahm er sich vor, Targa zu töten.

Als der Bürgermeister am 18. Januar 1944 nach Barcelona fuhr, um sich dort mit seiner Geliebten zu treffen, folgte ihm Oriol. Im Restaurant „Vilanova“ trat er von hinten an ihn heran, zielte mit einer Pistole auf seinen Nacken und drückte mehrmals ab. In der Überzeugung, dass der Falangisten-Chef tot sei, lief er davon und kehrte nach Torena zurück. Doch er hatte Targa vor Aufregung verfehlt. Allerdings ahnte der Bürgermeister nicht, wer der Attentäter war, und die Ermittlungen blieben ergebnislos, obwohl seine Geliebte Oriol direkt ins Gesicht geblickt hatte.

Leutnant Marcó, ein Anführer der Maquisards, hatte den Anschlag beobachtet und war Oriol nach Torena nachgefahren. Unvermittelt tauchte er im Schulhaus auf und befragte ihn nach seinen Motiven. Er klärte den Lehrer darüber auf, dass er durch den gescheiterten Mordversuch ein sorgfältig geplantes Attentat der Maquisards auf den Falangisten-Chef verhindert habe. Und er überredete ihn, fortan heimlich für die Aufständischen zu arbeiten, sie mit Informationen über die Falangisten in Torena zu versorgen und auf dem Dachboden des Schulhauses durchreisende Flüchtlinge zu verstecken.

Am 23. März 1944 wurde Oriol in den Gasthof von Ainet bestellt. Dort erwartete ihn Elisenda zu einem ersten Schäferstündchen. Währenddessen fand ein weiterer Anschlag gegen Targa statt: Maquisards hielten seinen Wagen auf und erschossen seine Begleiter, darunter Eloi Cartellà, den Chef der Falange in Tàrrega. Targa stellte sich tot und überlebte auch dieses Attentat.

Bald darauf erwischten die Falangisten einen Bauern, der für den Maquis Blinkzeichen gab. Oriol war dabei, als Claudio Asín dem Mann so in den Magen trat, dass er Blut kotzte. Dann traten die Falangisten weiter auf ihn ein, bis er tot war. Zuletzt hatte der Sterbende noch geflüstert, dass die Blinkzeichen für den Lehrer von Torena bestimmt gewesen seien, aber zum Glück hatte ihn außer Oriol niemand verstanden.

Der korrupte Bürgermeister von Torena enteignete „Regimegegner“ und verteilte die konfiszierten Ländereien nach Gutdünken. Er forderte Oriol auf, sich ein Stück Land auszusuchen und den Besitzer anzuzeigen; den Rest werde er erledigen, versprach er. Dass Oriol sich nicht bereichern wollte, fand Targa verdächtig, aber er ahnte noch immer nichts von der Doppelrolle des Lehrers. Elisenda, die weniger Skrupel hatte als Oriol, erwarb mit Hilfe des Bürgermeisters Stück für Stück des Berges Tuca Negra.

Es ist nicht einfach, herauszufinden, unter welchen Umständen José Oriol Fontelles Grau am 18. Oktober 1944 ums Leben kam. In einem alten Zeitungsartikel liest Tina, dass der Maquis an diesem Tag die Dörfer Torena, Sorre und Altron überfiel. Angeblich stellte Oriol sich den Rebellen mit einer Kleinkaliberpistole in den Weg, um sie aufzuhalten, damit die Falangisten Verstärkung herbeischaffen konnten. In den Armen vonn Valentin Targa soll er gestorben sein. Anderen Meldungen zufolge soll der Lehrer sich in der Kirche Sant Pere an den Tabernakel geklammert haben, um die Maquisards von einer Schändung der Hostien abzuhalten. Mit der Begründung, Oriol sei dabei zum Märtyrer geworden, setzt sich Elisenda Vilabrú Ramis seit den Fünfzigerjahren für seine Seligsprechung ein.

Oriol selbst schrieb seiner Tochter am 17. Oktober 1944, ein Kaffee mit Schuss werde ihn nun wahrscheinlich das Leben kosten. Den trank er nämlich gerade in Marés Bar, als Targa mit der Geliebten aus Barcelona hereinkam. An den geweiteten Augen und Nasenlöchern der Frau merkte Oriol, dass sie ihn erkannte. Obwohl er danach jede Minute mit Targas Rache rechnete, floh er nicht, denn er hatte die Aufgabe übernommen, bei dem Angriff des Maquis, der für den nächsten Morgen geplant war, die Funkverbindung zwischen den beiden nach Torena marschierenden Brigaden zu gewährleisten.

Bevor er starb, wollte er noch einmal mit Elisenda ins Bett, doch ihr Onkel, Hochwürden August Vilabrú Bragulat, war bei ihr in der Casa Gravat zu Besuch. Nachdem der Geistliche sich schlafen gelegt hatte, lief Elisenda ins Schulhaus – und ertappte Oriol dort mit dem Funkgerät. Da begriff sie, dass er zum Maquis gehörte. Entsetzt wandte sie sich an den Bürgermeister und riet ihm, das Schulhaus zu durchsuchen. Fast zur gleichen Zeit erfuhr Targa von seiner Geliebten, wer in Barcelona auf ihn geschossen hatte.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Am Morgen kam Jaumet, der Sohn des Totengräbers und Steinmetzen Pere Serrallac, ins Schulhaus. Oriol sollte in die Kirche kommen. Dort wartete jedoch nicht, wie erwartet, Leutnant Marcó auf ihn, sondern Valentin Targa und die anderen Falangisten. Und aus dem Beichtstuhl trat Elisendas neunundzwanzigjähriger Chauffeur Jacinto Mas. Kurz darauf schleppten Andreu Balansó und Arcadio Gómez das Funkgerät aus dem Schulhaus in die Kirche. Elisenda bereute inzwischen, dass sie Oriol verraten hatte und wollte das Schlimmste verhindern. Doch in dem Augenblick, in dem sie die Kirchentür aufriss, erschoss Targa den Lehrer. Minuten später stürmten Maquisards das Rathaus. Nachdem die Falangisten sie zurückgeschlagen hatten, kehrten sie in die Kirche zurück, wo Elisenda noch immer den blutigen Kopf ihres toten Liebhabers an die Brust drückte. Hochwürden August Vilabrú Bragulat wurde in die Kirche gerufen. Der Bürgermeister erklärte ihm, Oriol habe bis zum letzten Atemzug den Tabernakel gegen die Maquisards verteidigt und sei von Joan Ventura erschossen worden. Cinteta, das Telefonfräulein von Torena, kam auf der Suche nach dem Lehrer in die Kirche gerannt, denn eine Krankenschwester aus der Tuberkuloseklinik von Feixes wollte ihn sprechen.

Elisenda ging daraufhin zum Telefon und sprach mit der Anruferin. So erfuhr sie, dass Rosa nach der Trennung von ihrem Ehemann Oriol in einer Pension in Barcelona gewohnt hatte. Mit Hilfe einer Hebamme war sie mit einem Sohn niedergekommen, den sie als uneheliches Kind mit dem Namen Joan Dachs eintragen ließ. (Um Oriol in die Irre zu führen, schrieb sie ihm, sie sei von einer Tochter entbunden worden.) Kurz darauf starb Rosa in der Tuberkuloseklinik von Feixes an Schwindsucht. Obwohl Schwester Renata der Sterbenden versprochen hatte, ihr Geheimnis nicht zu verraten, versuchte sie, den Vater des Kindes zu verständigen – aber zu diesem Zeitpunkt war Oriol bereits tot. Elisenda versprach, sich um das Kind zu kümmern.

Am 20. November 1944 verschafften sie und ihr Rechtsanwalt Romà Gasull sich Zugang zum Bordell von Madame Corine (bürgerlich Pilar Mengual) in Barcelona. In einem der Zimmer überraschten sie Santiago Vilabrú Cabestany beim Cunnilingus mit der Prostituierten Tita Recasens („La Milonga“). Mit der Drohung, einen Skandal auszulösen, zwangen sie den nackten Mann, dessen Erektion allmählich nachließ, zwei Dokumente zu unterzeichnen: Zum einen erklärte er sich mit der Adoption eines Neugeborenen einverstanden, und mit dem anderen Papier setzte er Elisenda als Alleinerbin seiner fünf Mietshäuser in Barcelona, seiner Ländereien im Vall d’Assua und seines übrigen Vermögens ein. So wurde aus Joan Dachs Marcel Vilabrú Vilabrú.

Der Erbfall trat ein, als Santiago am 6. November 1953 einem Herzinfarkt erlag.

Neun Tage später schoss eine Patrouille der Guardia Civil in der Umgebung von Torena einen Unbekannten an. Es handelte sich um Joan Esplandiu Carmaniu („Ventura“), der zurückgekommen war, um endlich seinen Sohn zu rächen. Er konnte sich noch zu seiner Frau Glòria Carmaniu schleppen, starb aber kurz darauf an der Schussverletzung.

Trotzdem entging Valentin Targa Sau nicht der Rache: Ein gewisser Joaquim Dauder wollte mit dem Einundfünfzigjährigen in Lleida über Tuca Negra sprechen und drohte mit einem Skandal. Auf dem Weg nach Lleida wurde Targa von einem gut gekleideten Herrn angehalten, der sich als Joaquim Dauder vorstellte, zu ihm ins Auto stieg, ihn mit einer Pistole bedrohte und mit einer Injektion betäubte. Daraufhin löste Leutnant Marcò – der sich als Joaquim Dauder ausgegeben hatte – die Handbremse und stieg aus. Obwohl die Straße abschüssig war, musste er den Wagen anschieben, damit er losrollte und in den Abgrund stürzte. Leutnant Marcò kletterte hinterher, und als er feststellte, dass Targo noch nicht tot war, packte er dessen Kopf mit beiden Händen und brach ihm mit einem Ruck das Genick.

Die Elisenda gehörende Skistation von Tuca Negra wurde am 18. November 1957 feierlich eingeweiht. Einige Zeit später verkaufte sie den Berg mit großem Gewinn der Frölund-Pyrenéerna Korporation.

Ihr Adoptivsohn Marcel, der nichts von seiner Herkunft ahnte, schrieb sich nach seinem Schulabschluss am 21. Juni 1962 im Internat Sant Gabriel an der juristischen Fakultät der Universität ein. Auf Wunsch seiner Mutter heiratete der Sechsundzwanzigjährige am 24. April 1971 im Kloster von Montserrat Mercedes („Mertxe“) Centelles-Anglesola Erill, die Tochter einer in finanzielle Schwierigkeiten geratenen Adelsfamilie.

Marcels Freund, der Skilehrer Quique Esteve, wurde jahrelang von Elisenda dafür bezahlt, dass er sie sexuell befriedigte. Doch sie entließ ihn schließlich ebenso wie Jacinto Mas, der fünfunddreißig Jahre lang ihr Chauffeur gewesen war: Der Fünfundfünfzigjährige erhielt am 23. März 1974 sein Kündigungsschreiben von Rechtsanwalt Romà Gasull.

Als sich Marcel 1983 in Straßburg aufhielt und gerade eine Prostituierte bei sich im Hotelzimmer hatte, rief Mertxe an und merkte, dass er mit einer anderen Frau zusammen war. Daraufhin zog sie mit ihrem Sohn Sergi zu ihrer Mutter. Nach einiger Zeit gelang es Elisenda, das Paar noch einmal zu versöhnen, doch als Marcel versuchte, sie aus dem Geschäft drängen, schickte sie Gasull mit einem Dossier über Marcels zahlreiche Bordellbesuche zu ihrer Schwiegertochter, die ihn daraufhin endgültig verließ.

Elisenda, die inzwischen aufgrund ihrer Zuckerkrankheit erblindet ist, hat Anfang 2002 ihr Ziel – die Seligsprechung Oriols – fast erreicht.

Obwohl Marcel von einem Sicherheitsdienst bewacht wird, gelingt es Tina, zu ihm ins Auto zu steigen. Sie übergibt ihm eine Abschrift des Briefes, den sein Vater ihm vor achtundfünfzig Jahren schrieb. Marcel schreddert die Blätter, aber als er sich einige Stunden später mit seiner Adoptivmutter in Rom trifft, meint er, sie müsse die bevorstehende Seligsprechung Oriols verhindern. Erst als Elisenda ihm das gesamte Firmenimperium überlässt, lässt er sie gewähren. Tina veröffentlicht allerdings in der Zeitschrift „Arnica“ einen Bericht über den Dorflehrer von Torena und stellt klar, dass er für den Maquis arbeitete und nicht von Aufständischen, sondern von Falangisten ermordet wurde.

Kurze Zeit später bricht jemand bei ihr ein, kopiert die Dateien ihres PC auf Disketten, löscht die Festplatte und spielt einen Virus auf. Danach präpariert der Einbrecher Tinas Auto so, dass sie auf dem Weg ins Krankenhaus, wo ihr aufgrund einer Krebsdiagnose die rechte Brust abgenommen werden soll, tödlich verunglückt.

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In seinem Roman „Die Stimmen des Flusses“ erzählt der 1947 in Barcelona geborene Schriftsteller Jaume Cabré eine Geschichte, die den Zeitraum von 1936 bis 2002 umfasst. Es geht um Liebe, Hass und Rache einer herrschsüchtigen, willensstarken Frau. Jaume Cabré zeigt in dieser Mischung aus Familiensaga, historischem Roman und Politthriller, wie die Macht Menschen korrumpiert. Er prangert die Mitläufer an, setzt dem Widerstand gegen den Faschismus ein Denkmal und entlarvt das Zusammenspiel der katholischen Kirche mit scheinheiligen Christen.

Dem Buch liegt ein Lesezeichen mit einer Liste der vierunddreißig wichtigsten Figuren bei. Trotz dieses Hilfsmittels ist es nicht einfach, den Überblick zu behalten, denn Jaume Cabré entwickelt die komplexe Handlung in „Die Stimmen des Flusses“ nicht chronologisch, sondern wechselt immer wieder von einem Erzählstrang zum anderen, nicht selten zwischen zwei Sätzen, wie im folgenden Beispiel, in dem Anfang und Ende im Jahr 2002 spielen, der mittlere Teil dagegen 1944.

Jaume Serrallac schwieg einen Moment, dann fuhr er fort, als wäre es ihm plötzlich wieder eingefallen: „Ich war einer der letzten, die den Lehrer lebend gesehen haben.“
„Was?“
„Ja, Sie haben mich geschickt, ihn in der Schule zu holen, am Abend, vor dem Essen.“
„Wer?“
„Targa.“
„Hej du, Lausebengel, komm mal her. Wie heißt du?“
„Jaumet.“
„Zu wem gehörst du?“
„Zu den Serrallacs.“
„Dem Steinmetz?“
„Ja, Senyor.“
„Lauf zur Schule und sag dem Lehrer, er soll herkommen. Und zwar fix.“
„Und dann?“
„Ich weiß es nicht mehr. Schüsse. Anscheinend hat ein Trupp Maquisards das Dorf überfallen […]“
Tina schien, als denke er an etwas Trauriges. Dann entschied Serrallac, sich nicht mehr zu erinnern. (Seite 588)

Diese raffinierte Verschachtelung ermöglicht es Jaume Cabré, in „Die Stimmen des Flusses“ schon sehr früh die Ermordung des Dorflehrers José Oriol Fontelles Grau zu erwähnen, uns aber wie in einem Kriminalroman erst am Ende über die genauen Umstände aufzuklären. Während er immer wieder in der Zeit vor- und zurückspringt, liefert er die Puzzlestücke, aus denen sich schließlich das Gesamtbild ergibt. Dadurch entsteht zwar durchaus Suspense, aber diese Konstruktion bedeutet auch, dass die Erzählung nicht auf einen Kulminationspunkt hindrängt. Diesen Nachteil gleicht Jaume Cabré durch eine fulminante Fülle von einprägsamen Bildern und eine überbordende Fabulierlust aus. Außerdem nutzt er die Montagetechnik, um einige Szenen aus verschiedenen Perspektiven zu zeigen und Motive wie bei einem Musikstück in Variationen zu wiederholen.

Sieben Jahre lang soll Jaume Cabré an „Die Stimmen des Flusses“ gearbeitet haben.

Es gibt „Die Stimmen des Flusses“ auch in einer gekürzten Version als inszenierte Lesung, gesprochen von Dietmar Mues, Wolfram Koch, Eva Garg und Marlen Diekhoff (Bearbeitung: Ruthard Stäblein, Regie: Burkhard Schmid, Der Hörverlag, München 2007, 6 CDs, ISBN: 978-3-86717-138-0.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2008
Textauszüge: © Insel Verlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.