Tony Burgess : Idaho Winter

Idaho Winter
Idaho Winter ECW Press, Toronto 2011 Idaho Winter Übersetzung: Hans-Christian Oeser Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2024 ISBN 978-3-8031-3370-0, 135 Seiten ISBN 978-3-8031-4402-7 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der Schüler Idaho Winter wird von allen gemobbt. Am ersten Schultag nach den Sommerferien verprügeln ihn Mitschüler, damit er nicht ins Klassenzimmer kommt. Nur Madison Beach mag ihn, schwänzt die Schule und folgt Idaho zum Flussufer. Kurz darauf finden sie sich – samt dem hilflosen Autor ‒ in einer prähistorischen Welt voller Gefahren wieder ...
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Kritik

Der Roman "Idaho Winter" von Tony Burgess ist eine Hommage ans Erfinden von Geschichten, ans Erzählen. Große Literatur ist es nicht, denn es fehlt "Idaho Winter" an Charakterzeichnung und Differenzierung. Tony Burgess setzt stattdessen auf seine überbordende Fantasie. Originell ist v. a. die Rolle des Autors, der vorgibt, die Kontrolle über die Handlung verloren zu haben.
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Der erste Schultag

Der Schüler Idaho Winter wächst im Dreck auf und erhält von seinem Vater – Early Winter genannt – halb Verfaultes zu essen. Wegen seines Aussehens, seiner Verwahrlosung und seines Gestanks wird „Kartoffel“ – so sein Spitzname ‒ nicht nur von Mitschülern gemobbt, sondern auch von Lehrkräften und anderen Erwachsenen gehasst. Die Schülerlotsin schickt ihn absichtlich über die Straße, wenn gerade ein Lastwagen heranbraust. Und ein Nachbar namens Finchy züchtet drei Pitbulls nur zu dem Zweck, Kartoffel zu zerfleischen.

Nicht einmal der Autor des Buches kann seine Figur Idaho Winter ausstehen. Es gibt nur einen Menschen, der das alles für ungerecht hält und Idaho Winter mag: seine Mitschülerin Madison Beach.

An diesem ersten Schultag nach den Sommerferien jagen und verprügeln andere Schüler Idaho Winter, um ihn davon abzuhalten, ins Klassenzimmer zu kommen. Die Lehrerin, Mrs Hall, stellt fest, dass außer Idaho Winter auch Madison Beach fehlt. Hat das Monster das Mädchen entführt? Kurzerhand alarmiert Mrs Hail die Polizei und meldet eine Entführung. Kinder und Erwachsene machen sich auf die Suche, und sie haben nichts Gutes im Sinn.

Und so stürmen sie hinaus auf die Straßen, alle, die Jungen und die Alten, die Mütter und die Väter, die Großmütter und die Großväter, alle schwingen und schwenken wütende Fäuste und Knüppel und ziehen zum Flussufer, um über den kleinen Idaho Winter herzufallen und seine Gefangene, die unschuldige Madison Beach, zu befreien.

Entsetzliche Wendung

Tatsächlich ist Madison dem vertriebenen Mitschüler zum Flussufer gefolgt, um ihn zu trösten. Ihre Füße berühren sich. Doch während sie neben ihm sitzt, greifen Finchys rasende Pitbulls an – und beißen Madison beide Füße ab.

Sie haben tatsächlich Idaho attackiert, denn sie haben jene schwache Spur von ihm attackiert, die er auf Madisons Fußsohlen hinterlassen hat. Die dort zurückgebliebene Freundlichkeit, wahrhaftig, der Überrest des einzigen schönen Augenblicks in seiner gesamten elenden Existenz, ist für die Teufelshunde zum Köder geworden. In den Bäumen hängen die Gesichter der Stadtbewohner wie Hunderte von Uhren. Der Moment ist zu schrecklich. Keiner kann sich bewegen oder reden. Selbst Madison hat sich nicht bewegt. Wie sollte sie auch? Sie hat ja keine Füße.

Idaho rennt weg.

Der Autor ist entsetzt. Das gehört nicht zu der Geschichte, die er erzählen möchte.

Dies war die große, bedeutungsvolle Szene, die ich beschreiben wollte. Sie können sich vorstellen, wie befriedigend sie ausgefallen wäre. Stattdessen ist Idaho ohne meine Einwilligung aufgestanden und dem Schauplatz entflohen, den ich so sorgfältig vorbereitet hatte. Da läuft er, über die Böschung und durchs Gestrüpp. Ich finde es lächerlich, aber ich folge ihm. Hinter mir höre ich die Schreie des Mädchens. Sie schreit! Das war ganz und gar nicht Teil meiner Geschichte, ich schwöre es. Irgendwas ist furchtbar schiefgelaufen.

Ich bin völlig außer Atem. Ich bin in eine Geschichte hineingerannt, die ich eigentlich nur erzählen sollte.

Figuren, die ich mir einst ausgedacht habe, werden mir vorgestellt.

Ich erkenne das Mädchen, Alex, und auch den Jungen – Eric, glaube ich. Das ist neu. Es sind Figuren, die im Buch erst viel später in Erscheinung treten sollten.

Die Geschwister Alex/Alix und Eric erzählen dem Autor, dass sie früher mit ihren Eltern auf einem Bauernhof in Ravenna lebten. Als sie kürzlich mit dem Schulbus nach Cashtown fuhren, sahen sie, dass die ganze Stadt auf der Jagd nach einem Schüler war. Dann hörten sie ein Krachen. Der gesuchte Junge durchstieß das Dach seines Elternhauses mit dem Rücken und richtete sich auf.

Er muss an die zwanzig Meter groß gewesen sein. Um seine Füße herum gab es Explosionen. Er muss gegen Gas- und Stromleitungen getreten haben, denn an seinen Beinen schoss ein Feuer empor, bis hinauf in die Haare. Er rannte davon.

Dinosaurier, Mombats und andere Ungeheuer

In einer weißen Höhle steht ein aus Stroh und Stoff gefertigtes Behelfsbett. Darauf liegt die arme Madison. Und das alles befindet sich in einer prähistorischen Welt, in der beispielsweise ein Pterodaktylus Mombats jagt und frisst. Der Autor ist von Kindern und Erwachsenen umgeben.

„Leute, hört mir zu. Mein Name ist Tab Tannington, und ich komme von außerhalb eurer Welt.“

Uns Leserinnen und Lesern erklärt er, dass es sein literarischer Plan gewesen sei, Madison und Idaho zusammenzuführen, aber die Handlung habe nichts mehr mit seinem Plot zu tun, das sei nicht mehr sein Buch.

Als der Autor und eine kleine Gruppe, die sich um ihn geschart hat, ein Floß gebaut haben und Madison wegbringen, taucht über Madison ein schwebender schwarzer Prediger auf, der „wie ein mit Helium gefüllter Leichenbestatter“ wirkt. Erst nach einiger Zeit merkt die Gruppe, dass der Fluss nirgendwo hinführt, weil er ringförmig ist. Reptilienartige schwimmende Ungeheuer greifen an, und als die Gruppe aus dem Wasser in die Mangroven flieht, hängen bald aalgroße Blutegel an ihren Körpern. Madison haben sie zurückgelassen.

Rückkehr der Welt

Idaho taucht wieder auf. In seinem Handteller hat er Madison und das Bett, in dem sie liegt.

Idaho, ich glaube, du bist Miss Madison schon mal begegnet. Er hebt die Hand zu seinem Gesicht und blinzelt einmal, dann wirft er sich das Mädchen mitsamt dem Bett in den Rachen.

Ich hätte gewollt, dass er etwas anderes tut. Dass er sie rettet. Dass er sie befreit. Dass er uns alle befreit.

Idaho Winter reißt die gelben Augen auf – und erbricht sich.

Die Rückkehr der Welt steht bevor.

Der erste Schultag

In Idaho Falls bricht der erste Schultag nach den Sommerferien an.

Erik wird von seiner Mutter geweckt. Als er sich an den Frühstückstisch setzt, hat seine Schwester Alix ihren Armen Ritter schon fast aufgegessen. Auf dem Weg zur Schule fragen die Geschwister die Schülerlotsin Ms Joost, ob Idaho Winter die Straße bereits überquert habe. Er sei kurz vor ihnen, lautet die Antwort. Erik und Alix warten auf Madison Beach, nehmen sie in die Mitte, und gemeinsam holen sie Idaho Winter ein. Sie nennen ihn nicht „Kartoffel“, sondern bei seinem richtigen Namen, stellen sich vor, und versichern ihm, dass sie ihn mögen.

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Der Schüler Idaho Winter wird von allen gemobbt. Nur die Mitschülerin Madison Beach mag ihn. Am ersten Schultag nach den Sommerferien verprügeln Mitschüler den Außenseiter, damit er nicht ins Klassenzimmer kommt. Madison Beach beschließt, die Schule zu schwänzen und stattdessen Idaho zu folgen. Sie setzt sich zu ihm ans Flussufer.

Durch dieses Erlebnis entdeckt Idaho, dass er sich gegen die Ungerechtigkeit zu wehren vermag. In seiner Vorstellung verändert er alles und nimmt dem Autor die Handlung aus der Hand. Der wird nun selbst in das aberwitzige Geschehen mit hineingerissen.

Der Roman „Idaho Winter“ von Tony Burgess ist eine Hommage ans Erfinden von Geschichten, ans Erzählen. Große Literatur ist es nicht, denn es fehlt „Idaho Winter“ an Charakterzeichnung und Differenzierung. Tony Burgess setzt stattdessen auf seine überbordende Fantasie. Das Originelle an dem Roman „Idaho Winter“ ist die Rolle des Autors, der vorgibt, nicht nur die Kontrolle über die Handlung verloren zu haben, sondern auch selbst Teil davon zu sein.

Schwer zu sagen, ob das noch mein Buch ist.

Ich bin nicht länger derjenige, der diese Geschichte schreibt.

Ich habe noch nie Dialoge geschrieben, bei denen ich selbst spreche.

Ich könnte in einem Abwasserkanal sterben, in einem Buch, das ich nie geschrieben habe.

Ich bin beeindruckt, dass Figuren, die ich mir ausgedacht habe, weit über meinen Verstand hinausgehen.

Immer wieder spricht der Autor die Lesenden an.

Ich möchte keinesfalls, dass Sie auch nur eine Sekunde lang glauben, ich hätte mir diesen Teil ausgedacht. Ich könnte es nicht. Ja, ich würde es auch nicht.

Sie können nichts tun. Sie sind der Leser.

Ich habe Ihre Zeit vergeudet. Sie müssen mich jetzt verlassen. Ich kann Ihnen nichts bieten. Es gibt hier kein Buch.

Klappen Sie dieses Buch zu und verbrennen Sie es.

Der Umriss einer Hand. Jemand. Sind Sie das? Blättern Sie gerade die Seite um? Klappen Sie endlich ein für allemal dieses furchtbare Buch zu? Ich schließe die Augen und warte darauf, dass die Seiten gegen mich gepresst werden, dass das Gewicht der beiden Hälften dieses elenden Buches mich zerdrückt, zerquetscht und mein Gehirn auspresst. Passiert das gerade?

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2024
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach

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"So unselig schön" ist ein von Inge Löhnig aus zahlreichen Einfällen souverän aufgebauter spannender Whodunit-Psychothriller mit farbigen Charakteren.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.