Iris Wolff : Lichtungen
Inhaltsangabe
Kritik
Lev
Leonhard („Lev“) ist elf Jahre alt, als er seinen Großvater Ferry zur Kur in Buziaş begleiten darf.
Er sei, sagte Ferry, in seinem Leben einiges gewesen. Er sei als Österreicher in dieses Jahrhundert gestartet und, obwohl er sich geografisch nicht vom Fleck bewegt hatte, Rumäne geworden, dann Ungar und habe schließlich, auch wenn sein Pass ihn jetzt wieder als Rumänen auswies, entschieden, er bleibe Österreicher. […]
Bis neunzehnhundertneunzehn gehörte Siebenbürgen, ebenso wie die Maramuresch, zu Österreich-Ungarn, erklärte Ferry, dann zum Königreich Rumänien, zwanzig Jahre später wieder Ungarn, vier Jahre später wieder Rumänien.
Früher wohnte Ferry in Schäßburg (Sighișoara). Seine Frau verließ ihn und die gemeinsame Tochter Lis, als diese drei Jahre alt war. Lis wuchs beim Vater auf, bis sich die Siebenbürgerin mit 19 bei einem Ernteeinsatz in einen rumänischen Witwer mit drei Kindern verliebte und mit ihnen in ein Dorf 200 Kilometer weiter nördlich zog. Dort zog sie die drei Stiefkinder und den gemeinsamen Sohn Lev auf. Als Lev fünf Jahre alt war, verunglückte der Vater bei einem Bergrutsch tödlich.
Zur Tischgesellschaft Ferrys und Levs im Kurhaus gehören vier weitere Personen, darunter ein junger Mann mit Namen Silas und zwei Schwestern aus Kronstadt. In eine von ihnen – Helene („Lonja“) – verliebt sich Lev. Als er einen Streit von ihr mit Silas beobachtet, will er schlichten, aber die beiden wenden sich von ihm ab, und ein Zaun trennt ihn von ihnen. Er überklettert ihn.
Mehrere Gebäude, Lagerhallen mit Tanks, Gabelstapler, Paletten mit Kanistern, Pappe. Ein Arbeiter im Blaumann kam auf ihn zu, fragte, was er hier zu suchen habe.
Ein Schrei ist zu hören. Lev und der Mann laufen los. Da sind Betonbecken.
Silas kauerte vor einem Becken, in einer merkwürdigen Haltung, das Gesicvht am Boden. Das – habe er nicht gewollt.
Der Mann sah ins Becken hinab, beide Hände gingen ihm zum Mund. Lev wollte ebenfalls an den Beckenrand treten, doch da war etwas, das ihn festhielt, am Fortkommen hinderte.
Seine Beine. Er konnte seine Beine nicht bewegen.
Lev und Kato
Nach Lonjas Tod liegt Lev monatelang im Bett. Er kann seine Beine nicht bewegen und deshalb nicht aufstehen. Eine Lehrerin beauftragt eine Schülerin namens Kato, den Schulstoff mit Lev durchzugehen und ihm die Hausaufgaben zu bringen. Das ist der Beginn einer besonderen Freundschaft.
Katos Mutter starb wenige Monate nach der Geburt. Der Vater, ein alkoholkranker Imker, kümmert sich kaum um die Tochter. Obwohl Kato zu den besten Schülerinnen gehört, darf sie nur bis zur achten Klasse in die Schule gehen, denn der Vater erwartet von der inzwischen 14-Jährigen, dass sie den Haushalt führt.
Kato liegt neben Lev auf einer fahrbaren, auf der Wiese zwischen Gemüsebeet und Hühnerstall aufgestellten Pritsche, als Levs betrunkener Halbbruder Valea die Schülerin packt und erklärt, er müsse nachsehen ob sie ein Mädchen sei.
Sie wusste, wie sie sich zu wehren hatte, gerade das erschreckte Lev. Seine Hilflosigkeit schlug um in Wut […]. Seine Beine rutschten von der Pritsche, waren kaum mehr als zwei dünne Äste, die ein übergroßes Gewicht zu halten hatten. Lev zitterte, hielt sich mit beiden Händen fest, um nicht zu fallen. […]
Er musste nichts weiter tun. Nichts sagen.
Die beiden ließen voneinander ab und starrten ihn an.
Von da an kann Lev seine Beine wieder bewegen.
Lev, der ebenso wie Kato von den anderen ausgegrenzt und sogar gemobbt wird, bricht die Schule ab und wird nach dem Beispiel seiner Brüder Waldarbeiter. Dass er dafür ungeeignet ist, erkennt der Verantwortliche rasch, und Imre – so heißt der Mann – kümmert sich um Lev. Sein eigener – im selben Jahr wie Lev geborener – Sohn starb im Alter von acht Jahren bei einem von Imre verursachten Autounfall.
Lev ist 18 Jahre alt, als er beim Militärdienst seinen ersten Urlaub erhält. Mit dem Auto seines Großvaters Ferry fahren er und Kato in die Berge. Als sie dort wegen des schlechten Wetters nicht weiterkommen, suchen sie Zuflucht in einer Gaststätte und freunden sich mit den Betreibern an, den Geschwistern Camil und Milena, die ihnen für die Übernachtung ein Doppelbett anbieten.
Aber Kato hält Lev davon ab, die Gelegenheit zu nutzen.
„Weißt du, was auch immer an die Stelle treten könnte, zu dem, was wir haben, es wäre längst nicht s gut. […] Ich kann es nicht riskieren. […] Du bist der einzige Freund, den ich habe.“
Auflehnung gegen den Staat
Während seines zweiten Urlaubs beim Militär lässt Ferry sich von ihm zu einem Parkplatz fahren, wo nach einiger Zeit der Lastwagen eines Schleppers auftaucht. Ferry hat sich seit sechs Jahren vergeblich um eine legale Ausreise bemüht; jetzt will er sich mit anderen Flüchtlingen in den Westen absetzen. (Er wird es nach Wien schaffen.)
Nach dem Militärdienst fängt Lev in Imres Sägewerk zu arbeiten an.
Die Großmutter erfährt durch ausländische Rundfunksender, dass es in einem Atomkraftwerk bei Kiew zu einer Katastrophe kam (Tschernobyl, 26. April 1986). Erst mit einigen Tagen Verspätung wird es auch in den rumänischen Nachrichten gemeldet.
Die Großmutter ist es auch, die Camil durch Lev vor staatlicher Verfolgung warnen lässt. Camil, der 14 Jahre älter ist als Lev, kann deshalb rechtzeitig untertauchen.
Während Kato seit dem Tod ihres Vaters allein ist, wohnt Lev mit seiner Mutter Lis, seiner Halbschwester Bredica, deren Ehemann Ion und den drei Kindern, seinen Halbbrüdern Valea und Dorin sowie Dorins Ehefrau Silvia und ihrem Neugeborenen zusammen.
Trennung
Lev und Kato sind inzwischen über 30 Jahre alt. Ein Hamburger namens Tom kommt ins Dorf, der seit einem Jahr mit dem Rad durch Europa fährt. Nach einer Woche beschließt Kato, ihn zu begleiten.
Durch die Trennung von Kato verstört, besorgt auch Lev sich ein Rad und fährt ebenfalls los, allerdings in die entgegengesetzte Richtung.
Unterwegs verliebt er sich in Marinela, eine Frau um die 40, die einen Bauernhof bewirtschaftet, während ihr Ehemann in Italien arbeitet und die erwachsenen Kinder in Iaşi leben.
Wiedersehen
Aus jedem Land, durch das Kato mit Tom fährt, schickt sie Lev eine Postkarte. Auf der letzten, in Zürich abgestempelten steht nur: „Wann kommst du?“
Auf dem Weg nach Zürich besucht Lev seinen inzwischen fast 80 Jahre alten Großvater Ferry und dessen zweite Ehefrau Krista in Wien.
Nach fünf Jahren sehen sich Lev und Kato in Zürich wieder. Tom ist in Freiburg geblieben, wo er sich verliebt hat und ein Fahrradgeschäft eröffnen will. Kato fuhr allein weiter und lebt seit drei Monaten in einem zum Wohnwagen umgebauten alten Land Rover in Zürich. Das wenige, das sie zum Leben benötigt, verdient sie mit Straßenkunst.
Sechs Wochen lang reisen Lev und Kato gemeinsam durch Frankreich, dann erklärt er, dass er zurück müsse – und Kato sagt: „Ich komme mit.“
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)In ihrem Roman „Lichtungen“ erzählt Iris Wolff feinfühlig eine Liebesgeschichte vor dem Hintergrund der staatlichen Entwicklung in Rumänien vor und nach dem Ende des Diktators Nicolae Ceaușescu, der von 1965 bis 1989 herrschte. Lev und Kato sind seit der Schulzeit miteinander eng befreundet, und als sie sich wiedersehen, nachdem Kato fünf Jahre lang mit einem anderen Mann durch Europa geradelt ist, könnte daraus eine Liebesbeziehung werden. Aber das hält Iris Wolff bewusst in der Schwebe.
„Lichtungen“ ist eine Reise in die Vergangenheit. Iris Wolff beginnt ihren Roman in der Gegenwart mit Kapitel „Neun“ und beendet ihn in der Vergangenheit mit Kapitel „Eins“. Die Chronologie ist also umgekehrt. Von der gegenwärtigen Freiheit im Europa offener Grenzen geht es zurück nach Siebenbürgen und zur staatlichen Repression unter Ceaușescu.
Dabei entwickelt Iris Wolff die berührende Geschichte aus Levs Perspektive. Ihre zurückhaltende Sprache kommt ohne Effekthascherei aus – und ist umso überzeugender.
Den Roman „Lichtungen“ von Iris Wolff gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Marek Harloff.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2024
Textauszüge: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger
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