Andreas Stichmann : Eine Liebe in Pjöngjang
Inhaltsangabe
Kritik
Ankunft in Nordkorea
Zwei Dutzend Berliner Kulturmenschen reisen zu Beginn des 21. Jahrhunderts nach Pjöngjang, um bei der Eröffnung einer deutschen Bibliothek dabei zu sein.
Sie würden nicht das wirkliche Land sehen, nur das Theaterstück Pjöngjang.
Über den Symbolwert solcher Projekte war Claudia sich im Klaren; diesmal erschien er ihr noch bedeutsamer als sonst. Während die anderen Deutschen bald nach der Eröffnung wieder abreisen würden, bliebe sie weitere drei Wochen vor Ort, um die Einrichtung des Hauses zu begleiten. Als Besucher waren allenfalls ein paar Parteikader zu erwarten […].
Für Dr. Claudia Sigrid Aebischer, die als Tochter eines Dozenten-Ehepaars in Jena aufgewachsene, inzwischen 51 Jahre alte unverheiratete Präsidentin des Verbandes europäischer Bibliotheken, ist es nicht die erste Reise nach Nordkorea, aber es soll ihre letzte sein, denn sie hat sich vorgenommen, ihr Amt nach acht Jahren aufzugeben, um endlich ein lang aufgeschobenes Buchprojekt realisieren zu können.
Sie hatte drei erzählende Sachbücher geschrieben. Kyŏksul. Weimar. Armutsforschung. Nicht geschrieben hatte sie das literarische Werk, das ihr in ihrer Jugend vor Augen gestanden hatte. Das Poesie-Ding, wie sie es für sich nannte.
Als sie am Zugfenster steht, erblickt sie eine Nordkoreanerin, die so tut, als wolle sie nur die Landschaft anschauen. Nachts huscht sie auf dem Hotelkorridor an Claudia vorbei. Am nächsten Morgen stellt es sich heraus, dass es sich bei der 20 Jahre Jüngeren um die angekündigte Dolmetscherin handelt, eine promovierte Germanistin namens Sunmi.
Später wird Claudia erfahren, dass Sunmis Mutter, die Fischerin In-suk, bei der Geburt ihrer Halbschwester in der Kolchose Pota am Paektusan starb. Sunmi war damals elf Jahre alt. Ihr Vater war zu diesem Zeitpunkt bereits seit fünf Jahren tot.
Als Hochbegabte brauchte Sunmi nur vier von sieben Jahren Militärdienst zu leisten. Nach ihrem Studium in Pjöngjang fing sie an, für das Tourismusbüro zu arbeiten – und ihr Germanistikprofessor und Doktorvater, der Kriegsveteran General Wi Tae-ho, beschloss, sie zu heiraten.
Wi entschied, sie würden heiraten. Widerspruch stand ihr nicht zu. Sich der Vergewaltigung zu entziehen, hätte bedeutet, den Status der Volksfreundin, den sie durch die Ehe erreichte, zurückzuweisen. So viel meinte Claudia zu verstehen.
Bibliothekseröffnung
In der mentholsüßen Hitze der Nadelwälder nördlich von Pjöngjang, im lampiongeschmückten Garten der abgelegenen Villa, würde am Abend stattfinden: die Eröffnung der Deutschen Bibliothek.
Bei der Eröffnungsfeier stellt sich Sunmis beinamputierter älterer Ehemann Dr. Wi als Erster Bibliothekar vor und hält eine Rede. Auf kluge deutsche Fachliteratur über Technik und Ingenieurwesen habe man vergeblich gewartet, beschwert er sich.
Deutschland sende ausschließlich Werke der Schönen Literatur. Und wolle in der Bibliothek Zeitschriften auslegen, in denen der Genosse Führer – Kim Jong-un verunglimpft werde. Alles in allem habe er sich einen besseren Start für dieses Unternehmen erhofft.
Sunmi findet Claudia sympathisch. Ihr Auftrag lautet, Nähe zur Präsidentin des Verbandes europäischer Bibliotheken aufzubauen und ihr Vertrauen zu gewinnen.
Sunmi wollte ihre Arbeit gut machen. Sie wollte der Deutschen keinen Schaden zufügen. Würde das zusammengehen?
Auf dem Vulkan
Nachdem die anderen Teilnehmer aus Deutschland abgereist sind, brechen Sunmi und Claudia zum Vulkan Paektusan im Changbai-Gebirge auf. Wi Tae-ho fährt den Wagen, und neben ihm sitzt die Schauspielerin Kim Yo-jong, die wohl Aufsicht führen soll. Die Präsidentin des Verbandes europäischer Bibliotheken soll in einer Pressekonferenz auf dem Vulkan Nordkorea als Reiseland empfehlen. Claudia ist bewusst, dass diese Art von Auftritten vom Auswärtigen Amt nicht gern gesehen wird, aber Sunmi vertraute ihr an, dass sie aus ihrer Kindheit einen Fußweg vom Paektusan nach China kenne.
Inzwischen hatte sie zu viel von dem Leben im Ausland gehört. Sie musste herausfinden, wie es wirklich war. Sie musste raus.
Claudia macht es sich zur Aufgabe, Sunmi auf der Flucht zu begleiten.
Sunmi wurde am Leben gehindert, am Lieben. Sie zerstörten sie.
Statt Sunmi drückt Kim der Deutschen am frühen Morgen den Text der vorformulierten Rede in die Hand. Als die Dolmetscherin aufwacht, streiten Kim und Claudia.
Claudia, im Bademantel, wirkte fahrig, sie rutschte gefährlich aus ihrer fügsamen Rolle. Das war ein Fehler. Sie schien nicht zu wissen, dass man einer Frau wie Kim nicht widersprach.
Kurz darauf findet sich Claudia in einem fensterlosen Raum wieder. Man beschuldigt sie der Volksverhöhnung, weil sie ein christlichen Kreuz trug. Nun erwartet man von ihr Selbstkritik. Sie versucht, ihre Lage einzuschätzen.
Bei solchen Verhören geht es nicht um Fakten, es geht um eine Absicht. Finde heraus, welche das ist.
Tatsächlich geschieht nichts Schlimmeres. Wi Tae-ho scheint zu schlafen. Aus der Brusttasche ragt Claudias Pass.
Sie verstand es als Aufforderung, ihn sich zu nehmen. Niemand sah her. Als sie den alten Mann berührte, öffneten sich seine Augen. Ihr Herz schlug so hart, dass sie fast vom Stuhl rutschte. Der Pass. In ihrer Hand. Sie schwor sich, ihn nie mehr abzugeben. „… Glück“, sagte er. „Viel Glück.“ Dann fielen ihm die Augen zu.“
In der Seilbahngondel zum Himmelssee stirbt Wi Tae-ho.
Getrennte Wege
Claudia hält die vereinbarte Rede auf dem Paektusan.
Was hatte sie gesagt? Was sie gefühlt hatte, wusste sie. Es war ein trauriger Flow dagewesen, aber sie hatte nicht die geringste Ahnung, welche Worte aus ihr herausgekommen waren. Das Publikum klatschte, während sie die Bühne verließ.
Sie wolle, aber könne nicht weg, hörte sie Sunmi noch sagen. Und: Sie müsse es nicht mehr. Dass sie nun Witwe sei, verändere ihr Leben zum Wohlständigen hin.
Während Claudia die chinesische Grenze allein überquert und nach Dandong geht, begleitet Sunmi den Toten in einem Güterzug auf der Fahrt zurück nach Pjöngjang. Unterwegs fällt der Triebwagen aus, und die Reisenden warten im Bahnhof von Sariwŏn auf Ersatz. Sunmi beobachtet die mit ihr ausharrenden Chinesen.
Sunmi hätte nie in die Welt dieser Überheblichen wechseln können. Selbst wenn es das gewesen war, was ihr Gatte ihr hatte ermöglichen wollen – unwahrscheinlich genug. Oder auch: denkbar. Es machte keinen Unterschied mehr. Der Blick durch das Fernglas vom Paektu aus hatte den Ausschlag gegeben. Das Lichtermeer von Dandong hatte ihr eine fast physische Abscheu eingejagt. […] Einsamkeit. Sie wäre mit Claudia einsam geblieben.
Gleich nach der Ankunft erhält die Veteranenwitwe eine Wohnung in Jöngjang zugeteilt.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Die 50-jährige unverheiratete Bibliothekarin Claudia Aebischer, die in Jena aufwuchs und mit sich nicht im Reinen ist, trifft bei einer Dienstreise in Nordkorea auf eine 20 Jahre jüngere Dolmetscherin, die gegen ihren Willen mit ihrem Doktorvater – einem viel älteren beinamputierten Kriegsveteran – verheiratet ist. Sunmi, so heißt sie, erhält die Aufgabe, sich das Vertrauen der Deutschen zu erschleichen. Ziel ist es, die Präsidentin des Verbandes europäischer Bibliotheken für eine Propagandarede zu gewinnen. Claudia glaubt zwar aufgrund ihrer Erfahrung, dass sie nicht auf die Theaterkulissen der Nordkoreaner hereinfällt, verliebt sich jedoch ahnungslos in Sunmi – und die fühlt sich zwischen ihrer Pflicht und ihren Gefühlen für Claudia hin und her gerissen. Die beiden grundverschiedenen Frauen kommen sich in Gesprächen und bei Spaziergängen nah. Schließlich sieht es so aus, als wolle Sunmi in Begleitung der Deutschen nach China fliehen.
Ob Sunmi ihre Fluchtgedanken ernst meint oder sie als Taktik einsetzt, um ihren Auftrag zu erfüllen, hält Andreas Stichmann bis zuletzt in der Schwebe. Was ist echt, was vorgetäuscht?
Die ungewöhnliche „Liebe in Pjöngjang“ entwickelt Andreas Stichmann vor einer uns fremden Kulisse – die er jedoch 2017 selbst bereist hat.
Obwohl die schnörkellose Komposition streng verknappt ist, liest sich „Eine Liebe in Pjöngjang“ leicht und flüssig. Mitreißend oder aufwühlend ist der Roman nicht unbedingt. Andreas Stichmann kommt ohne Effekthascherei aus, fühlt sich in die beiden Frauenfiguren ein und wechselt zwischen den beiden Perspektiven. Einige Passagen in „Eine Liebe in Pjöngjang“ sind stark erotisch aufgeladen – und das ohne explizite Szenen. Überhaupt steht vieles in dem zugleich romantischen und unsentimentalen Roman zwischen den Zeilen. Andreas Stichmann versteht sich auf Andeutungen und Auslassungen.
„Eine Liebe in Pjöngjang“ gehörte 2022 zur Longlist für den Deutschen Buchpreis. Es ist Andreas Stichmanns dritter Roman.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2022
Textauszüge: © Rowohlt Verlag