Dörte Hansen : Zur See

Zur See
Zur See Originalausgabe Penguin Verlag, München 2022 ISBN 978-3-328-60222-4, 255 Seiten ISBN 978-3-641-28497-8 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die Familie Sander lebt seit vielen Generationen auf der Insel. Bis auf den jüngsten sind alle Männer zur See gefahren. Während Hanne sich durch Betriebsamkeit ablenkt, zieht sich ihr Mann Jens nach seiner Berufstätigkeit wie ein Eremit zurück. Ryckmer, ihr 40-jähriger Sohn, versucht Albträume mit Alkohol auszublenden; seine fünf Jahre jüngere Schwester Eske dröhnt sich mit Heavy Metall zu, und Henrik, der Jüngste, der in diesen Tagen seinen 30. Geburtstag feiert, nagelt in seinem Wohnschuppen Kunst aus Treibgut zusammen. Ein Familienleben kennen Jens und Hanne, Ryckmer, Eske und Henrik schon lange nicht mehr.
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Kritik

In ihrem melancholischen Roman "Zur See" veranschaulicht Dörte Hansen den Strukturwandel am Beispiel einer Nordsee-Insel und einer alteingesessenen Familie. Sie reiht intensive Stimmungsbilder aneinander und zeichnet sich dabei nicht nur durch eine genaue Beobachtungsgabe aus, sondern auch durch eine pointierte Wiedergabe ihrer Eindrücke. Lakonisch lässt sie Personen lebendig werden, deren Wortkargheit sie nicht zuletzt durch spärlichen Einsatz von Dialogen vermittelt. Statt einer Handlung im herkömmlichen Sinn bietet sie eindrucksvolle Impressionen.
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Hanne und Jens Sander

Die Familie Sander lebt seit Jahrhunderten auf einer (fiktiven) Nordseeinsel. Derzeit sind es Hanne und Jens mit ihren drei erwachsenen Kindern Ryckmer, Eske und Henrik.

Über Generationen hinweg fuhren die Männer zur See. Das tat auch Jens Sander. Hanne verübelte ihm nicht nur, dass er sie so häufig und lang allein ließ, sondern auch, dass ihm die Kinder fremd blieben.

Nichts hat je gepasst bei ihnen: die Kinder und die Seefahrt nicht zu Jens, das Warten nicht zu ihr. Sie haben es nur viel zu spät gemerkt. Zwei Sprösslinge aus altem Inseladel, füreinander wie gemacht. Wie hätten sie denn ahnen sollen, dass es von Anfang an verkehrt gewesen ist. Sie hätte besser auf ein Schiff gepasst, die fremden Häfen abgelaufen und die Welt gesehen, und er gehört wohl in ein Haus. […]
Sie hätten es wohl besser wissen müssen. Aber etwas anderes, als ihren Ältesten auch auf ein Schiff zu schicken, ist ihnen gar nicht eingefallen.

Während Jens fort war, fing Hanne an, vier Fremdenzimmer zu vermieten. Es war eine Zeit, in der die Sommerfrischler, die auf die Insel kamen, noch als „Badegäste“ bezeichnet wurden. Sie waren zufrieden mit einem kleinen Zimmer ohne Fernsehgerät und mit einem Bad im Flur.

Inzwischen nehmen die meisten Inselbewohner Feriengäste auf, und um ihnen Parkplätze anbieten zu können, haben sie Bäume gefällt. Aus Hannes Elternhaus, einem der schönsten Gebäude auf der Insel, ist ein Museum geworden, in dem sie jeden Morgen Fremde herumführt – in Inseltracht, die sie sonst kaum trägt.

An den alten Häusern gibt es jetzt Alarmanlagen. Sie gehören Fremden, die vom romantischen Inselleben träumten und anfangs regelmäßig mit einer der Freitagsfähren kamen, die Autos vollgepackt mit Feuerholz und Weinkartons, Drachen und Wellenbrettern. Nach ein, zwei Jahren wurden die Wochenend-Aufenthalte auf der Insel seltener, und inzwischen sind die Ferienhäuser meistens unbewohnt.

Henri Brix baute aus Traktoranhängern drei Kutschen, mit denen er Touristen auf der Insel herumfährt. Seine Frau Steffi verkauft ihnen dann noch Souvenirs.

Melf und Harro, die Söhne des Fischers John Drenthe, bauen ihren Kutter um. Statt weiter zum Fischen hinauszufahren, zeigen sie jetzt Reisegruppen oder Schulklassen das Meer und gaukeln ihnen dabei etwas vor.

Die Drenthes haben nicht nur ihren Kutter renoviert. Melf und Harro tragen jetzt nicht mehr die grünen, ölverschmierten Arbeitsoveralls, mit denen sie seit Jahr und Tag hinausgefahren sind. Seit sie nur noch mit ihrem kleinen Schaunetz und den Gästen auf der Nordsee schippern, kleiden sie sich wie die Fischer in den Fernsehserien.

Da stimmt nichts.

Aus ihren Sommerfrischlern wurden mit den Jahren Kurzurlauber, die nur noch ein paar Tage bleiben wollten, eine Woche höchstens. Sie wollten Fernseher in ihren Zimmern, Frühstück bis um elf und Decken für Allergiker, sie mäkelten herum an Hannes schweren Fischaufläufen und den viel zu süßen Kuchen, das Letzte, was sie wollten, war Familienanschluss.

Hanne kann das Geflatsche der Plastiklatschen nicht mehr hören und lässt sich aus dem Gastgeberverzeichnis der Insel streichen. Um den Touristen zu entkommen, sucht sie die „Tagesränder“ und vermeidet es, in der Zeit zwischen der ersten und der letzten Fähre im Freien zu sein.

Als ein 30 Tonnen schwerer Pottwal auf der Insel strandet und an seinem eigenen Gewicht erstickt, lässt Hanne das Skelett in Holland präparieren und sammelt Geld, um es vor dem Museum aufstellen zu können.

Vor 20 Jahren hörte ihr Mann mit der Seefahrt auf, aber statt die Zeit nun mit der Familie zu verbringen, zog Jens sich wie ein Eremit auf die menschenfreie Vogelinsel zurück, in eine Stelzenhütte über Salzwiesen und Dünensand. Vom Festland kommen in jedem Sommer junge Leute zum Zählen und Kartieren. Jonas, einer von ihnen, quartiert sich kurzerhand bei Jens ein. Und der spürt plötzlich ein Verlangen nach Gesellschaft und menschlicher Nähe.

Jonas übernimmt schließlich die Aufgaben des Vogelwarts. Jens geht immer öfter zu seinem Haus, anfangs nur, wenn Hanne nicht da ist, dann zieht er allmählich wieder dort ein.

Ryckmer Sander

Als Kind wurde Ryckmer Sander von Dr. Hartung, einem der Badegäste seiner Mutter, missbraucht.

Man wurde konfirmiert und fing zu trinken an, so war es bei den meisten Inseljungen. Zuerst der Gottesdienst, dann das Familienessen und danach der Schnaps. Noch an der Kuchentafel füllte man sie ab. Die Onkel, großen Brüder, älteren Cousins erhoben ihre Gläser, stießen an mit ihnen, immer wieder, amüsierten sich, wenn dann der Konfirmand betrunken durch die Stube taumelte und sich am Ende irgendwann im Garten übergab. Erster Anzug, erster Vollrausch, erster Schulabschluss und erste Zigarette. Vom Kind zum jungen Mann in einem halben Jahr […].

Die Männer auf der Insel fangen früh an, Alkohol zu trinken. Ryckmer benötigt jedoch mehr als andere, seit er als Kapitän auf „die große weiße Wand“ blickte. Nur im Rausch entkommt er dem Albtraum. Weil er deshalb sein Kapitänspatent verlor, wohnt der 40-Jährige nun wieder bei seiner Mutter Hanne und arbeitet als Decksmann auf einer Inselfähre.

Auf einer Inselfähre, irgendwo in Jütland, Friesland oder Zeeland, gibt es einen, der die Leinen los- und festmacht, und immer ist er zu dünn angezogen für die Salz- und Eisenkälte eines Nordseehafens.

Als Ryckmer Sander an Bord der Fähre einschläft, weil er zu viel getrunken hat, erspart er seinem Chef Jesper Henk die Peinlichkeit, ihn rauszuwerfen und kündigt selbst. Ersetzt wird er durch die Decksfrau Martje Wehner.

Einige Zeit später wird Ryckmer von Arne Dircks Ryckmer als Kapitän der MS Erika eingestellt. Seine Aufgabe sind Seebestattungen. Das ist ein neuer Trend. Eines Tages ist unter den Trauergästen eine Frau, die in Ryckmer den früheren Decksmann der Fähre erkennt und ihn darauf anspricht. In der Kindheit verbrachte sie die Sommerferien regelmäßig mit ihren Eltern auf der Insel, und noch immer schwimmt sie bei jedem Wetter im Meer.

Ryckmer beobachtet besorgt das Wetter und die Gezeiten. Früher endete im Februar die Zeit der Winterstürme. Aber inzwischen gibt es alle paar Jahre eine sogenannte Kükenflut. Sie spült die Nester mit Eiern der Bodenbrüter in die See und reißt die Küken, die noch nicht fliegen können mit. Tagelang kreisen dann die Alten schreiend über dem verwüsteten Brutgebiet.

Eske Sander

Eske Sander ist fünf Jahre jünger als ihr Bruder Ryckmer. Sie erinnert sich ungern an frühere Zeiten, als die Mutter Badegäste in den Kinderzimmern einquartierte und Eske sich wie vorgeführt vorkam, als müsse sie für die Gäste Männchen machen. Nach der zehnten Klasse schickte Hanne sie zu ihrer Schwester, die mit einem der Badegäste durchgebrannt war und seither auf dem Festland lebt. Nach dem Abitur füllte Eske Regale im Inselsupermarkt, putzte im Altersheim und jobbte in der Bäckerei. Ihr Studium brach sie nach vier Semestern ab. Inzwischen ist sie 35 und arbeitet als Pflegerin im Altersheim der Insel.

Jeweils am zweiten Weihnachtsfeiertag zieht sie für vier Wochen zu ihrer lesbischen Freundin Freya aufs Festland. In dieser Zeit, in der sie ihr Handy nicht einschaltet, lässt sie sich von Freya jedes Mal ein weiteres Tattoo stechen. Auf ihrer Haut ist inzwischen kaum noch Platz für neue Motive.

Auf dem Festland besucht Eske auch den dänischen Forscher Dr. Flemming Jespersen. Der kam als Student auf die Insel und wohnte bei den Sanders, um halb verstummte Sprachen zu erforschen. Als er hörte, was Dr. Hartung mit Ryckmer gemacht hatte, verfluchte er das „widerlige krange Swein“. Eske bringt ihm für sein Archiv der Nordseesprachen Tonaufnahmen von Gesprächen mit, die sie nach Dienstschluss im Altersheim führte.

Um Eske besser kennenzulernen, verbringt Freya ein paar Wochen auf der Insel. Ob die Beziehung eine Zukunft hat, bleibt jedoch unklar.

Henrik Sander

Henrik ist der erste Mann in der Familie Sander, den es nicht aufs Meer hinauszieht. Er hat nie einen Beruf erlernt. Stattdessen knipste er Kurkarten, reparierte Strandkörbe oder passte als Rettungsschwimmer am Strand auf, dass Touristen, die sich überschätzten, nicht ertranken.

Als Jugendlicher fing er an, jeden Morgen mit dem Hund am Strand entlang zu laufen und einzusammeln, was die Nordsee anspülte. Aus dem Treibgut nagelte er in einer Wellblechhütte Werke zusammen, und im Alter von 17, 18 Jahren richtete er sich allmählich auch dort ein.

Erst zieht der Mann in eine Vogelhütte, dann zieht der Sohn in einen Schuppen.

Inzwischen verkauft Henrik seine Driftwood Art für viel Geld. Hanne versteht das nicht. Sie sieht nur Vogelscheuchen. Und bei einer Ausstellung wundert sie sich über das handverlesene, Sekt trinkende Publikum: Menschen, die offenbar auf der Insel wohnen, denen sie jedoch noch nie begegnet ist.

In Henriks aus Holzpaletten gezimmerten Bett schliefen wechselnde Frauen vom Festland, die von seinem „Atelier“, „Kunstkontor“ oder „Hafenladen“ schwärmten. Im zweiten Jahr nun schon lebt Jana bei Henrik, eine Webdesignerin, der es nicht gelingt, Hanne zu erklären, worin ihre Arbeit besteht.

Bald nach Henriks 30. Geburtstag ruft der Inselpfarrer Eske auf dem Handy an und teilt ihr mit, dass er beobachtet habe, wie ihr Bruder weit aufs Meer hinausschwamm und nicht zurückkam. Rettungskräfte suchen vergeblich nach ihm. Die Leiche wird weit abgetrieben.

Der Pastor

Matthias Lehmann heißt der Pastor auf der Nordseeinsel. Seine Ehefrau Katrin arbeitet als Lehrerin.

Die Töchter – Charlotte ist 32, Theresa ein Jahr jünger – verließen schon vor ihrem 18. Geburtstag das Elternhaus und die Insel. Charlotte studierte Psychologie, trat aus der Kirche aus, heiratete nur standesamtlich und ist Mutter von Zwillingen. Theresa ist Lehrerin geworden wie die Mutter und erwartet ihr erstes Kind. Getauft werden soll es nicht. Katrin nimmt sich eine kleine Wohnung auf dem Festland und erklärt ihrem Mann, dass sie näher bei den Töchtern sein wolle. Nur noch übers Wochenende kommt sie zu ihm auf die Insel.

Die Inselbewohnerin Klara Loof musste den Pastor dreimal zu einer Beerdigung kommen lassen: nach ihrem Mann Henning starb ihre Tochter an Brustkrebs und dann auch noch ihre Schwester. Weil sie weiterhin so viel Essen kauft, wie zu Lebzeiten ihrer Angehörigen, kann ihr Hund vor Verfettung nicht mehr laufen, und Klara Loof trägt ihn beim Einkaufen in einer Umhängetasche vor dem Bauch.

Als er stirbt, lässt sie ihn ausstopfen und trägt ihn weiter herum. Matthias Lehmann bringt es nicht fertig, Klara Loof aufzusuchen und zu trösten. Diese Feigheit verübelt sie ihm, und als sie nach einem Schlaganfall im Altersheim der Insel stirbt, erfährt er, dass sie eine Seebestattung wünschte und ihn nicht dabei haben wollte.

Beim Joggen reißt Matthias Lehmanns Achillessehne.

Er beginnt an Gott zu zweifeln und fragt sich, ob ein Geistlicher, der den Glauben verloren hat, noch sein Amt ausüben kann.

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In ihrem Roman „Zur See“ veranschaulicht Dörte Hansen den Strukturwandel am Beispiel einer Nordsee-Insel und einer alteingesessenen Familie. Statt anspruchsloser Badegäste und Sommerfrischler besuchen inzwischen Feriengäste die Insel, die statt eines Fremdenzimmers ein komfortables Hotel mit Wellness-Angebot erwarten. Inselbewohner haben sich auf die Situation eingestellt, kutschieren Touristen mit Pferdegespannen herum, verkaufen ihnen Souvenirs oder nehmen sie auf ihren umgebauten Kuttern mit, wo sie ihnen vorgaukeln, mit waschechten Fischern unterwegs zu sein.

Die Familie Sander lebt seit vielen Generationen auf der Insel. Bis auf den jüngsten sind alle Männer zur See gefahren. Während Hanne sich durch Betriebsamkeit ablenkt, zieht sich ihr Mann Jens nach seiner Berufstätigkeit wie ein Eremit zurück. Ryckmer, ihr 40-jähriger Sohn, versucht Albträume mit Alkohol auszublenden; seine fünf Jahre jüngere Schwester Eske dröhnt sich mit Heavy Metall zu, und Henrik, der Jüngste, der in diesen Tagen seinen 30. Geburtstag feiert, nagelt in seinem Wellblechschuppen Kunst aus Treibgut zusammen. Ein Familienleben kennen Jens und Hanne, Ryckmer, Eske und Henrik schon lange nicht mehr.

Dörte Hansen reiht in ihrem melancholischen Roman „Zur See“ intensive Stimmungsbilder aneinander und zeichnet sich dabei nicht nur durch eine genaue Beobachtungsgabe aus, sondern auch durch eine pointierte Wiedergabe ihrer Eindrücke. Lakonisch lässt sie Personen lebendig werden, deren Wortkargheit sie nicht zuletzt durch spärlichen Einsatz von Dialogen vermittelt. „Zur See“ besteht aus eigenständigen und zugleich verknüpften Kapiteln, in denen Dörte Hansen zwar auktorial, aber aus wechselnden Blickwinkeln erzählt. Der Nachteil ihrer Darstellungsweise besteht im Verzicht auf eine Handlung im herkömmlichen Sinn und damit auch auf Dramaturgie, aber Dörte Hansen sind in „Zur See“ eindrucksvolle Impressionen gelungen.

Den Roman „Zur See“ von Dörte Hansen gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Nina Hoss.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2022
Textauszüge: © Penguin Verlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.